Lagerfeuer
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Lf. Nr. 11. Matsuyama, Sonntag, den 18. März 1917.
Setsubun.
(Jahreszeitenwechsel)
Seit dem 4. Februar prangt über den meisten Haustüren Matsuyamas ein ganz merkwürdiger Schmuck. Auf kleinen Stäbchen spießen da Fischköpfe oder andere Teile von gesalzenen Heringen. Dürften wir in die Häuser hineingehen, so würden wir über dem Brunnen, über den Fenstern und an anderen Stellen des Hauses neben gewissen Früchten und Blättern ähnliche Fischstücke aufgespießt finden. Uns erscheint diese Dekoration nicht gerade appetitlich, aber „Geschmäcker“ sind bekanntlich verschienden, und der Glücksgott Ebisu soll über solche Fischköpfe ganz anders denken. Ebisu und sein Glück wollen nämlich die japanischen Hausväter unter ihr Dach locken, wenn sie sich in die Unkosten dieser merkwürdigen Dekoration stürzen. Es geschieht dies bei Gelegenheit des Setubunfestes, das meist auf einen der ersten Februartage fällt. Es ist eine Art von Neujahrsfeier, denn an diesem Tage beginnt mit der Periode „Frühlingsanfang“ ein neues Sonnenjahr. Die Bürger von Matsuyama, die sich prinzipiell keine Gelegenheit ein Fest zu feiern nehmen lassen, begehen auch diesen Tag unter Einhaltung aller Zeremonien.
Am Abend werden mit dem Rufe:
„Das Glück ins Haus!“
geröstete Bohnen in jedem Raum des Hauses gestreut und dann mit dem Rufe:
„Die Teufel hinaus!“
einige Bohnen vor die Haustür geworfen. Darauf ißt jedes Familienmitglied soviel Bohnen, wie es Lebensjahre hat und noch eine mehr, wobei man daran erinnert wird, daß man
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nun wieder mal einJahr älter geworden ist. Die Japaner zählen nämlich ihren Lebensjahren nicht am Geburtstage ein weiteres Jahr hinzu, sondern sie führen diese unangenehme Prozedur mit oder ohne Rechenmaschine am Tage des Setsubun aus.
Die Osaka AsahiZeitung brachte am 4. Februar einen Aufsatz über das Setsubunfest, dessen folgende Übersetzung vielleicht interessieren wird:
„Heute in der Nacht des Jahreszeitenwechsels (Setsubun) wird in jedem Hause das übliche „oni wa soto, fuku wa uchi“ (der Teufel hinaus, das Glück ins Haus) gerufen und Bohnen gestreut. So ist es heute und so war es schon in den ältesten Zeiten, denn der Ursprung dieser Sitte liegt ungefähr 1200 Jahre zurück. Damals in der Periode Keiun (704–8) wurden viele Provinzen von einer Seuche heimgesucht. Der Kaiser Mombu fühlten Mitleid mit seinen Untertanen und geruhte damals die Zeremonie der Dämonenaustreibung (oniyarai) zu begründen. Seit dieser Zeit wird die Feier Jahr für Jahr im Kaiserlichen Palaste in der Altjahrsnacht abgehalten. Auch heute begeht man die Feier im ausgedehnten Maße und zwar in der Kwanto-Gegend vor allem in Narita und Kawasaki. Auch in der Kwansai-Gegend wird die Zeremonie unter Beobachtung mannigfacher Formen ausgeführt. Vor allem wird der Tempel Takaradera von Yamasaki, auf der Grenze von Yamashiro und Settsu gelegen, als Haupt- und Stammplatz der Zeremonie des Bohnenstreuens (mamemaki) und der Teufelaustreibung bezeichnet.
In der Nacht des Jahreswechsels versammeln sich vor
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diesem Tempel eine Reihe von jungen Leuten, die für die diesjährige Feier zur Ausführung der Zeremonie bestimmt sind (toshiotoko). Der Zug zieht dann in den Haupttempel. Voran die Fackelträger in altertümlicher Leinentracht (asakamishimo) und die Bohnenträger, dann drei als Teufel verkleidete junge Leute mit einer Teufelsmaske vor dem Gesicht, darauf einige Vertreter der Tempelgemeinde, bekleidet wie der Glücksgott Daikoku mit seinem Symbol, dem Hammer, in der Hand, dann 9 Knaben, die die 9 Gestirne (Sonne, Mond und 7 Sterne) darstellen und einen kleinen Tempelschrein (mikoshi) auf den Schultern tragen. Zum Schluß der amtierende Priester (doshi), gefolgt von einer großen Zahl von Priestern und Gemeindemitgliedern. Im Haupttempel werden zunächst die Gebete gesprochen. Dann gibt der amtierende Priester ein Zeichen und die Toshiotoko streuten mit dem Ruf: „Die Teufel hinaus, das Glück ins Haus!“ ihre Bohnen aus. Die drei Teufel fliehen zuerst dreimal im Tempel, dann dreimal auf dem Tempelgrundstück herum und schließlich durch das Tempeltor hinaus. Die 9 Jungens, die die Teufel verfolgt haben, machen das Tor schnell fest zu, und dann beginnt ein lustiger Kampf aller Gemeindemitglieder um Amulette, vergoldete Figuren des Glücksgottes und Schatzbeutel, welche von den als Daikoku verkleideten Leuten zusammen mit Bohnen ausgestreut werden. Auch in China gibt es ähnliche Sitten. Jedes Jahr werden im Neujahrsmonate in den Tempeln von Peking, vor allem aber
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im Yung Ho Gung-Tempel, Tänze aufgeführt, bei denen der Teufel ausgetrieben wird.“
Kurt Meissner
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Das Puppenfest.
(hina-matsuri)
„Hana no kuni ni sumase-tamaeru hina, kana!“
„Im Reiche der Blüten“, so sagt dieses anmutige Gedicht, „geruhen die Puppen zu wohnen.“ –– Freilich der dritte März, auf den das moderne Japan das Fest der Puppen verlegt hat, ist ein noch recht kalter und blütenloser Tag. In Tokio muß man deshalb zu Treibhausblüten greifen, denn ohne blühende Pfirsichzweige kann dieses Fest, das auch das Pfirsichfest (momo no sekku) genannt wird, nicht gefeiert werden. Hier in Matsuyama aber macht man solche neumodische Verlegung überhaupt nicht mit. Man wartet geduldig bis zum dritten Tage des dritten Mondes des alten Kalenders, also bis zu einem Tage, der in die warmen letzten Tage des April fällt.
Ist aber endlich der von der gesamten weiblichen Jugend freudig begrüßte Tag gekommen, so beginnt in allen Häusern, in denen kleine Mädchen sind, und namentlich in solchen Häusern, wo im vergangenen Jahre ein Mädchen geboren ist oder wo die Lieblinge gerade im niedlichsten Alter sind, eine lebhafte Tätigkeit. Bereits 8 oder 10 Tage vorher werden die Kisten, in denen die Puppen sonst das Jahr hindurch ruhen, hervorgeholt. Die Aufstellung beginnt. In der besten Stube des Hauses wird ein Stufengestell errichtet und mit Blumen und Tüchern, die das
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Familienwappen zeigen, geschmückt. In Tokio nimmt man Pfirsichblüten und Weiden, in Kyoto Pfirsich, Weiden und Kamelien, in anderen Orten wieder andere Zweige, jedenfalls aber scheinen die rosa Pfirsichblüten bei keinem Puppenfeste fehlen zu dürfen.
Die Anordnung der Puppen auf den Stufen erfolgt genau nach alter Sitte. Auf die höchste Stufe vor einem geschnitzten Palast oder goldnen Wandschirm der Kaiser und die Kaiserin, darunter die 4 Hofdamen (kwanjo), die 3 Hofherren (shicho), Wachen (zuijin), Pagen (chigo) und Hofbeamtinnen (jokwan). Wieder eine Stufe tiefer die 5 köpfige Musikkapelle (go-nin-bazashi). Darunter was man sonst noch an Puppen hat: Ritter, Götter, Gestalten aus der Geschichte, Mythologie und Märchenwelt. Die letzten Stufen werden mit Puppengeräten besetzt, wie Reisekisten, Sänften, Kommoden, Toilettegeräten, Schreibzeug, Brettspielen und dergleichen.
Diese Geräte sind oft von hervorragender Lackarbeit. Für fingergroße Stücke werden 5–10 Yen oder gar noch mehr bezahlt. Die unterste Stufe trägt die Gerichte und Getränke, unter denen süßer Würzwein (Mirin), weißer Sake (Shirozake), und Reiskuchen (Hishimochi) in dreierlei Farbens (rot, blau, weiß) nicht fehlen dürfen.
Im letzten Jahre sahen wir bei einem Spaziergang unter den hohen Bäumen am Ishitegawa-Flusse viele Familien sitzen, welche vergnügt die Speisereste des Puppenfestes verzehrten. Dies ist die übliche Nachfeier, bei der die Puppen sorgfältig weggepackt werden, um erst im nächsten Jahre wieder hervorgeholt zu werden.
Zum Spielen benutzen die Mädchen ihre Puppen selbst
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am Festtage nicht. Sie laden nur ihre Freundinnen ein, bewirten sie und zeigen ihnen die aufgebauten Schätze. Die Puppen, die oft kunstvoll geschnitzt und prächtig gekleidet sind, sind viel zu kostbar, um in die Hände der Kleinen gegeben zu werden. Von Geschlecht zu Geschlecht werden sie vererbt. Das kleine Mädchen wäschst auf und heiratet, ihre Puppen aber bringt sie mit in ihres Gatten Haus. So findet man in reichen Familien oft Sammlungen mit einer Unzahl von wertvollen Puppen aus vergangenen Jahrhunderten. Im Kaiserlichen Palaste soll eine Sammlung wertvollster Nara- und Kyobina-Puppen sein, doch bleibt es eine Frage, ob die kleinen Prinzessinnen, die ihre Mitschülerinnen aus der Adelsschule einladen und von der Palastkapelle altertümliche Puppenfestmusik spielen lassen, sich mehr amüsieren, als die kleinen Mädchen eines armen Hauses, die nur zwei oder drei Stufen mit einfachen kleinen Puppen ihr Eigen nennen.
Auch in den einzelnen Mädchenschulen wird das Puppenfest gefeiert. Namentlich in den Alumnaten der Höheren Töchterschulen setzen die Insassinnen der einzelnen Schlafsäle ihre ganze Kraft an eine schöne Ausschmückung, laden sich gegenseitig ein, spielen mal Gast und mal Wirtin und amüsieren sich „himmlisch“.
Es gibt mancherei Arten von Puppen (hina). Die größten sind ungefähr 50 cm hoch, die kleinsten kaum 1 oder 2 cm. Die in Kyoto hergestellten Puppen sind wegen ihrer prächtigen Kleider berühmt, die Tokio-Puppen aber werden wegen ihrer lebenswahr geschnitzten Gesichtszüge noch höher geschätzt. Die Mehrzahl der Puppen ist aus Holz geschnitzt und in mehr oder weniger prächtige Stoffe
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gekleidet. Es gibt aber auch ganz aus Holz geschnitzte Puppen, deren Kleider nur gemalt sind. In der Provinz Satsuma werden Puppen aus Porzellan hergestellt, andere Gegenden wieder ziehen noch andere Stoffen und Formen vor. Für die Geschichte des Puppenfestes aber am wichtigsten sind die Papierpuppen (kamihina), denn aus diesen einfachen Puppen haben sich die heutigen Prachtgebilde im Laufe der Jahrhunderte entwickelt. In Erinnerung an diese Entstehnungsgeschichte gehört es sich, zwei Paar altertümliche Papierpuppen an den Wandschirm auf der höchsten Stufe zu lehnen.
Puppen hat es in Japanschon seit uralter Zeit gegeben. Damals wurden Tonpuppen (haniwa) an der Seite von Kaisern und anderen vornehmen Herren beerdigt. Die Sitte des Puppenfestes aber dürfte wohl aus Gebräuchen entstanden sein, die erst in späterer Zeit aus China eingeführt wurden. Dort soll nach einer uralten Überlieferung einst am 3. Tage des 3. Mondes eine Prinzessin gestorben sein. Man trauerte sehr um die früh Verblichene und putzte, ihr zur Erinnerung, alljährlich an ihrem Todestage die Puppen auf, was dann zur allgemeinen Sitte geworden sein soll.
Ebenfalls aus China ist die alte Sitte gekommen, aus Papier über Bambuskreuzen Kindergestalten (amakatsu) zu falten und mit diesen für das Glück der eigenen Kinder zu beten. Auch war es schon seit der Zeit des Tsuchi-Mikado (1199–1210) oder mindestens doch seit der Ashikaga-Periode (1336–1570) Sitte, am ersten Tage der Schlange (jo-mi) menschliche Figuren aus Papier herzustellen, mit diesen den Körper zu reiben und dann unter Gebeten die Puppen im Flusse schwimmen zu lassen.
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Diese Zeremonie, genannt „Jomi no harai“, sollte von den Betenden Krankheit und sonstiges Unglück fernhalten. Am ersten Tage der Schlange (jo-mi) wurde auch ein altes Fest begründet, das später stets am Gründungstage, dem 3. Tage des 3. Mondes, gefeiert wurde, auch wenn dieser Tag nicht auf einen Tag der Schlange fiel. Nur der Name „Jomi“ wurde in Erinnerung an den Gründungstag beibehalten. Noch heute wird das Puppenfest (hinamatsuri) auch Fest des ersten Schlangentages (Jomi no sekku) genannt. „Sekku“, weil es das zweite der 5 Sekkufeste ist, zu denen auch das Knabenfest und das Fest der Webergöttin gehören.
Das alte am ersten Tage der Schlange begründete Fest ist identisch mit dem „Fest des sich windenden Wassers“. (kyoku-sui no en), ein Fest, das auf dem Grundstück des kaiserlichen Palastes gefeiert wird. Die Hofgesellschaft lagert an einem fließenden Bache. Sake-Schälchen und Pfirsichblüten, die an einem Platze flußaufwärts ausgesetzt werden, kommen mit dem Strom geschwommen. Die Hofgesellschaft fängt Schälchen und Blüten auf, gießt Sake dazu und trinkt sie. Vieleicht soll dieses Fest ebenso wie die flatternden Fische des Knabenfestes (go-gatsu no sekku) an die alte Geschichte von dem Karpfen erinnern, der bei seinen jahrelangen Bemühngen, den Ryumon-Fall hinaufzuschwimmen, von Pfirsichblüten lebte, die mit dem Strom herabgeschwommen kamen. Schon dem alten Könige, der das „Fest des sich windenden Wassers“ gründete, wurden am Gründungstage Kuchen aus Reispaste mit gekochten Blättern der Artemisia vulgaris serviert, was dann zu der Sitte führte, diese kusamochi (oder yomogi-mochi) am 3. Tage des 3. Mondes herzustellen.
Es gibt noch einige andere Überlieferungen über die
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Entstehung des Puppenfestes, sodaß es schwer ist, zu entscheiden, welche nun die richtige ist. Soviel ist aber sicher, daß das Fest aus uralten, zum Teil religiösen aus China eingeführten Gebräuchen entstanden ist, mit alten Puppenspielen vermischt wurde und schließlich sich zu dem heute bei Hoch und Niedrig gleich hochgehaltenen, anmutigen Feste entwickelt hat. Puppenspiele (hina-awase oder hina-asobi), d.h. Ausschneiden von Puppen aus Papier und Spielen mit oder vor den Puppen, wurde schon vorher von den jungen Damen des Hofes und des hohen Adels geübt, doch war diese Vergnügen damals noch an keine bestimmte Jahreszeit gebunden.
Schon in der Tenscho-Periode (1573–92) aber hatten sich die alten Sitten und Spiele zu einem allgemeinen Feste für den weiblichen Teil des ganzen Volkes entwickelt. Alle alten Gebräuche und Bedeutungen wurden bald vergessen, sodaß schließlich nichts als das heutige, anmutige Fest übrig blieb.
Die Mädchen derKaicho, Genwa und Kwanei Periode (1596–1544) mußten sich ihre Puppen noch aus Papier machen. Dann aber wurden so luxuriöse Puppen Mode, daß schon in der Manji und Kwambun-Zeit (1658–73) Gesetze, die sich gegen den allzu großen Luxus richteten, von Seiten der Tokugawa-Rigierung erlassen werden mußten. Spätere Shogune der gleichen Familie aber zeigten mehr Rücksicht auf die Lieblinge ihrer Landestöchter. Der elfte Tokugawa- Shogun Ienari (1778–1838) ließ z.B. von geschickten Puppenschnitzern ein paar Puppen herstellen, die in Tracht und Aussehen naturgetreu ein Paar von Edelleuten seines Zeitalters darstellten. In der Genroku-Zeit (1688–1704), in der
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alle schönen Künste ganz besonders in Blüte standen, wurde das Fest sogar an zwei Tagen im Jahre, nämlich außer dem 3. Tage des 3. Mondes auch am 9. Tage des 9. Mondes gefeiert.
Im Anfang der Meiji-Periode ließ die Mode etwas nach, bald aber lebte sie wieder auf, und heute ist es noch so, wie es in der prächtigsten Tokugawa-Zeit schon war. Jedes japanische Mädchen nennt einige Puppen (hina) sein Eigen, und am 3. Tages des 3. Monats alten oder neuen Kalenders bewirtet sie vor den aufgebauten Puppen ihre Freundinnen.
Es gibt nichts Niedlicheres als die kleinen Mädchen an diesem Tage. Die besten Kleider mit farbenprächtigsten Mustern haben sie an. Die kleinen Gesichter strahlen vor Freude und Glück. Oft ziehen die kleinen lebenden Puppen vor den Stufen die Augen weit mehr an, als die Puppen auf den Stufen. Aber auch diese sollte sich jeder, der Gelegenheit dazu hat, genau ansehen. Man braucht dazu nicht in Privathäuser einzudringen. Man kann die Puppen in schönster Mannigfaltigkeit in den Wochen vor dem Feste in den Straßen sehen, wo die meisten Puppenläden sind. In Tokio in Jikkendana, in Osaka in der Shinsaibashi-dori und der Gegend von Doryo, hier in Matsuyama in der Minato-machi. Die kleinen Kundinnen stehen, vor den ausgestellten Schätzen und wollen nicht von der Stelle, ehe Mama ihnen nicht ein Stück davon zum mit Jubel begrüßtem Geschenke macht.
Man selbst aberkann nirgends besser japanische Schnitz-kunst, alte Kostüme, Hausgeräte, Lackwaren, Waffen und dergl. studieren. Auch als Sammelgegenstand sind die
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Puppen zu empfehlen, denn keine andere Sammlung regt mehr zum Studium der Geschichte, Sage und Mythologie, das Familienlebens und der Kunst dieses Landes an, als eine Sammlung von japanischen Puppen.
Kurt Meissner.
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Nachrichten aus dem Lager.
Freud und Leid im Lager
In einer kleinen Stube des Gefangenheims K. stecken 4 oder 5 Kameraden die Köpfe zusammen und flüstern einander Worte zu, begleitet von lebhaften Gebärden. Sie treffen sich wieder am nächsten Abend, sie schleppen Bücher heran, durchstöbern überhaupt die ganze Bücherei. Die anderen Stubeninsassen werden aufmerksam. Aha! Die haben wieder was vor! Bei dem Kaufmann werden Stoffproben für Tischtücher bestellt. Bunte und weniger lebhafte Muster soll er mitbringen. Anscheinend will ganz Kokaido seine Tische neu bedecken ... aber nein, jetzt wissen wir, was los ist: Ein Theaterstück soll zustande kommen. Diesmal wird etwas ganz Großes geplant: Das 5 aktige, ewig erheiternde Lustspiel „Minna von Barnhelm“. Die Rollen sind verteilt. Die ersten Proben finden bereits statt, ja sogar die rühmlichst bekannte Kostümwerkstatt hat schon begonnen, die prompt gelieferten Tischtücher zu verarbeiten–––– da naht das Verhängnis, wie wir es so oft kennen lernten: Der japanische Kommandant verbietet jede Theateraufführung. Nach einer kurzen Beratung wird der Plan auf eine günstigere Zeit zurückgestellt. Diese läßt gar nicht allzu lange auf sich warten. Durch das Auftauchen eines neuen aber guten Sternes kann
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die Vorstellung Anfang März festgelegt werden. Fieberhaft und doch möglichst unauffällig wird gearbeitet, damit die Freude der Kameraden nachher umso größer sein soll. Auch die Namen der Darsteller sind nur Wenigen bekannt. Da schwirren nun alle möglichen Vermutungen in der Luft herum. Läßt sich da so ein würdiger Ostasiate in diesen Tagen den Vollbart abnehmen: aha! heißt es da, der wird sicher die „Minna“ darstellen. Ein anderer leiht ein Paar lange Strümpfe. Zack! wieder einen gefaßt: der spielt eine Damenrolle! Und doch kommts anders. So wars auch mit dem guten Jakob! Beginnt der auf einmal große Leisten im Garten zusammenzunageln ... alles denkt: unser Jakob hat halt auch nochmals den Frühling in die steifen Knochen bekommen und baut sich eine Sommervilla am Teich. Da nagelt er Leinwand auf die Rahmen. Kokaido wird stutzig, doch warum soll nicht hier, wo das Unmöglichste möglich wird, nicht auch einmal ein moskitosicheres Gartenhaus entstehen? Reingefallen! Kommt da ein ganz Dicker angekugelt, mit einem Topf Leimfarbe in der Hand und weiße Schürze vor, und einer von geringerer Dicke, dafür aber mit besserem Mundwerk (er sagt nur mit einer einzigen Ausnahme zu jedem DU), mit Lineal und Schablone unterm Arm, und wieder einer mit aus–gesprochen sächsischem Dialekt fährt mit gar vielen Pinseln von allerlei Gestalt auf–nun, wenn Ihrs jetzt noch nicht wißt! Ja, wirkliche, greifbare Kulissen sollen da gemalt werden. Schließlich legt auch noch der eine und der andere unserer Maler Hand mit an: die schönsten Zimmer erstehen vor unsern Augen. Gleich nebenan ist die Möbelschreinerei, wo gerade unter Leitung unseres handfertigen Kameraden K. die feinsten gepolsterten Rokoko-Mögel gebaut
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werden. In der kleinen Stube aber nähen fleißige Hände Kostüme zusammen, die sich getrost auch außerhalb des Lagers sehen lassen könnten. Man staunt über die Vervollkommnung, die sich unsere Freunde P. und B. und ihre eifrigen Helfer hierin angeeignet haben. Des Abends finden im Küchenraum die Proben statt. Auf jede Kleinigkeit achtet der tüchtige Leiter, Sees. P.; jeder Einzelne widmet sich voll und ganz seiner Aufgabe, sodaß alles mit größter Freude vor sich geht. An Humor fehlt es ganz und gar nicht. Mancherlei Sentenzen des Stückes erinnern uns an unsere Zeit und Lage. Es ist Wert, sie hier mit einigen Zwischenbemerkungen zu nennen:
(Der Kriegsgefangene:) „Man ist verdrießlich, wenn man seine gehörige Ruhe nicht haben kann.“
(Der Hundebesitzer:) „Machen Sie mich so schlimm wie Sie wollen, ich will darum doch nicht schlechter von mir denken als von meinem Hunde.“
(Der Zahlmeister:) „Lustige Kinder, lustig; ich bringe frisches Geld!“
(Der Hamster:) „Gott sei Dank, daß doch noch irgendwo in der Welt Krieg ist.“
(Japan-Amerika:) „Ich habe lang genug gehofft, es sollte hier wieder los gehen. Aber da sitzen sie und heilen sich die Haut“. (Bei Friedensschluß:) „Höre nur, Paul, dem Wirte hier müssen wir einen Possen spielen.“
(Die Ironie des Schicksals:) „Und wie lange haben wir schon Friede?
(Tatsachen:) „Die Zeit wird einem gewaltig lang, wenn es so wenig Neuigkeiten gibt.“ – „Niemand schreibt, denn niemand hat was zu schreiben.“ – „Das Dach ist so schlecht
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nicht, aber die Betten hätten können besser sein.“
(Die 6. Kompagnie:) „Der König kann nicht alle verdienten Männer kennen.“
(Der Arbeitsdienst:) „Wir verlangen seine Dienste nicht umsonst.“
(Der Küchenfeldwebel:) „Kommen Sie, wir wollen den Küchenzettel machen.“
(Stubenältestenversammlung:) „Spaß über Spaß und immer was Neues.“
(Balkanfürst:) „Die Unruhen des Krieges verscheuchten ihn nach Italien.“
(Nochmals der Kriegsgefangene:) „Von diesem Augenblicke an will ich dem Unrechte, das mir hier widerfährt, nichts als Verachtung entgegensetzen. Ist dieses Land die Welt? Geht hier allein die Sonne auf?“
(Osaka-Ninoshima:) „Sie sind in ein neu Quartier gezogen, das weder Sie noch ich kenne. Wer weiß, wie“s da ist.“
(Laubenbauer:) „Man kann heitzutage mit seinem Gelde nicht vorsichtig genug sein.“
Zu rechter Zeit ist alles fertig geworden; nur eine Gefahr besteht noch; daß der dicke gelbe Herr mit dem Notizbuch nichts merkt! Doch wir wollen ihm kein Lustspiel, aber eine Posse spielen, und wenn wir die Kulissen im richtigen Abstand von ihm um das Haus herumtragen müßten!
Über die Aufführung selbst an anderer Stelle.
-h-.
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Minna von Barnhelm
im Kokaido.
Hastiges Flüstern ebbt ab–verstummt–Stille!–– Ein abgerissener Atemzug wird schnell von dem nächsten überholt, und dann herrscht Erwartung–Spannung und–ein unbestimmtes Gefühl wie von leiser Andacht, wenn das Gute kommen soll, das wahrhaft Gute, das jeden Superlativ des Lobes im Worte abwehrt, weil es selbst die Höhe unverlierbar in sich trägt und erwiesen hat an anderthalb Jahrhunderten eines Volkstums. Auf echte deutsche Kunst warten wir heute Abend, auf unser–auf das deutsche Lustspiel, Lessings Minna von Barnhelm.
Lustspiel!–Warum gerade jetzt? Warum ist gerade in der Heimat auch dieses Stück so jung geworden, daß eine Neueinstudierung der anderen folgt? Ist der Ernst nicht viel zu tief und unergründlich, um nach Lust zu fragen? Nein, gerade unsere Zeit hat ein Recht an dieser Lust und dieser Freude, denn sie gibt Kraft. Was sie bringt, nicht das tänzelnde, flüchtige Vergnügen einer Abendstunde, das (der?) Posse oder dem Schwank folgt, sondern ein klares, klingendes Frohsein, das bleibt, stärkt, das nicht mit der Stunde schlafen geht und schnell gewesen ist. Der Nachhall wurzelt ein und um so tiefer, je näher wir uns menschlich jenen Zeiten des Großen Friedrich fühlen, die wohl manchem erst jetzt aus einer Wissenschaft oder einer freundlichen Erinnerung zum schaffenden Erlebnis geworden sind.
In Lessings Gemälde fehlt die Gestalt des Großen Soldatenkönigs selbst, und sie kann fehlen, weil sein Atem das Ganze überhaucht und sein Geist, von Meisterhand gestaltet, die Perspektive gibt.
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Die Friederizianische Offiziersehre, Disziplin, den Kategorischen Imperativ der Pflicht, von warmem Menschentum getragen verkörpert die Gestalt des Major Tellheim.
Die Ausgleichung dieser Gegensätze stellt große Anforderungen an den Schauspieler, und die Rolle Tellheim’s ist mit Recht als sehr schwierig bekannt–fast möchte ich sagen– gefürchtet. Mit der gewaltigen Arbeit, die dazu gehört, diese Rolle ganz in sich aufzunehmen, hatte sich Vzfw. Barghoorn eine große Aufgabe gestellt, und löste sie zu allseitigster Zufriedenheit. Vor allem verdient die Herausarbeitung der menschlich sympathetischen Züge hervorgehoben zu werden, welche die unpersönliche Straffheit und Härte des Kriegsmannes jener Zeit wohltuend mildert, und eine Brücke schlägt zu Tellheim, dem Liebhaber des Fräulein von Barnhelm.
Über der Person des Darstellers der Titelrolle schwebte lange ein geheimnisvoller Schleier. Das Debut eines ganz neuen Sternes an unserm Theaerhimmel brachte einen durchschlagenden Erfolg. Vzfw. Steffens war in jeder Geste und in jedem Blick ganz–Dame, das vollendete Fräulein von Adel. Mit außerordentlichem Feingefühl wußte er in einem Augenaufschlag, in einen kleinen Seitenblick alles das zu legen, was der Dichter unausgesprochen lassen muß.
Im wirkungsvollen Kontrast hierzu spielte Sees. Lätzsch die Kammerjungfer Franziska. Wer hätte wohl geglaubt, daß der farbenbeklexte (farbenbefleckte?) Kulissenmaler mit dem Leimtiegel dieses witz- und lebenslustsprühende Kammerkätzchen werden würde. Schnippisch die Oberlippe aufgeworfen, intrigiert und vermittelt Franziska mit so viel liebenswürdiger, nonchalanter Vertraulichkeit, die doch niemals störend die Grenzen des Respekts überschreitet, daß sie und ihr Wachtmeister
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Paul Werner die erklärten Lieblinge des Publikums wurden, was sich durch stürmischen Beifall bei offener Szene Luft machte. Beide Rollen tragen ja allerdings schon eine gewisse Prädestination dazu in sich. Besondere Hervorhebung verdient das famose Mienenspiel, mit dem Franziska auch in stummen Hintergrundszenen das Spiel begleitete.
Franziskas Liebhaber Paul Werner war einfach köstlich. Auch den Darsteller dieser Rolle hatte die Spielleitung vorher verheimlicht; umso größer war die Freude und Überraschung der Zuschauer, als Vzfw. Krück erkannt wurde. Bärbeißigkeit, treuherzige Biederkeit, den ganzen köstlichen Humor, den Lessing in diese Rolle gelegt hat, gab er mit unübertrefflichem Realismus. Sein: “Frauenzimmerchen, Frauenzimmerchen“ ist schon zum geflügelten Wort in Kokaido geworden. – Ein kleines Malheur, der offene Hosenlatz in der ersten Szene, wurde prompt beseitigt; ob von Franziska oder einem Mitglied der Regie, entzieht sich meiner Kenntnis.
Eine weitere Überraschung seitens der Spielleitung war der Chevalier de la Marliniere, von Sees. Leonhardt gespielt–– ein König selbst in Unterhosen. Höchste Anerkennung verdient sein flüssiger französicher Wortschwall. Sein: je fais sauter la coupe avec une dexterite“, war schon an und für sich ein Accent aigu. Wie glaubhaft er sein „corriger la fortune“ spielte, beweist das Gerücht, daß man sich von verschiedenen Seiten geweigert hat, weiter mit ihm Karten zu spielen.
In Just (Sees. Engel), dem Wirt (Sees. Wagner), der Witwe Marloff (Sees. H. Schäfer) und dem Grafen von Bruchsall (Sees. Bohner) hatten wir sämtlich altbewährte Kräfte vor uns, die, wie immer, ihr Allerbestes gaben. Mitfühlendes Bedauern über den von der Spielleitung gestrichenen einen Kognac verstärkte
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noch die Sympathie mit dem alten ehrlichen Just. In den Wirtsszenen schien mir ganz besonders gut gelungen der Bericht über die Abschiedsszene zwischen Tellheim und Minna. Das wiederholte „Franziska, bin ich nun glücklich,“ war einfach herzzerreißend.–Nach dem Geständnis verschiedener Zuschauer war die Dame in Trauer die Ursache heißer Mitleidstränen, ein Zeichen, wie viel der Darsteller aus seiner kurzen Rolle zu machen verstand.
Das Dienstmädchen gab Sees. Hagemeyer und den Feldjäger Untfiz. Böving.
Überblicken wir kurz den ganzen Abend, so war es ein voller, uneingeschränkter Erfolg. Alle Einzelheiten des farbenprächtig vorüberrauschenden Bildes festzuhalten, ist unmöglich, und deshalb wollen wir uns mit dem Wenigen begnügen.– Für uns Zuschauer war der Abend ein unvergeßlicher Genuß, den wir der unermüdlichen Arbeit der Spielleitung und den geradezu unglaublichen Dekorationskünsten der Firma Blomberg & Co. verdanken, welche dieses Mal alle, auch die kühnsten Erwartungen übertraf. Was hier an Arbeit geleistet worden ist, werden nur die Mitwirkenden selbst voll würdigen können, und wir Laien müssen es mit dem Dank dafür genug sein lassen.
Keines von allden Bedenken, die vorher besonders gegen die Kulisse laut geworden waren, hielt Stand. Die Illusion war vollkommen, und die Perspektive durchaus naturwahr. Daß aus den im Garten bemalten Zeugrahmen unter den Händen der Regie diese beiden eleganten Rokoko- Zimmer entstehen würden, hätte wohl auch der nicht erwartet, der die Arbeit an den Einzelteilen verfolgt hat. Die weißen, rot gepolsterten Möbel vervollständigten die Einrichtung auf
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das Glücklichste.
Die höchste Leistung aber spricht sich in den Kostümen aus, in denen die Firma B. ganz unmöglich Scheinendes geleistet hat. Ganz besonders prächtig war das Kostüm Minna“s in der zweiten Hälfte des Stücks, Tellheims dunkellila Waffenrock mit dem reich geschmückten Degen, der hellblaue, weiß verbrämte Rock des Chevaliers, der rote Frackanzug des Wirtes, sowie Trauerkleid und Schleierhaube der Witwe Marloff; aber es fällt schwer, in der Fülle überhaupt eine Auswahl zu treffen.–Die weißen Allonge-Perücken bestanden auß(s?) weißer, täuschend nachgeformter Watte.
Das einzige, worin vielleicht etwas zu viel des Guten getan worden ist, war die Maske Tellheims, die wohl etwas zu stark den gealterten, abgedankten Offizier hervortreten ließ, aber auch dies ist wohl Sache verschiedener Auffassung.
Die Aufführung als Ganzes war jedenfalls so vorzüglich gelungen, daß wohl auch ein kritisch-geschulter Beurteiler schwerlich etwas auszusetzen gefunden hätte. Und ich glaube daher im Sinne ganz Kokaido zu sprechen, wenn ich sage, daß sich an diesem Abend, unter den vielen trüben Erinnerungen an die Gefangenschaft, stets ein frohes Gedenken knüppfen wird, und daß wir allen Mitwirkenden für diesen Genuß von ganzen Herzen dankbar sind.
Eine kleine Nachfeier im internen Künstlerkreise folgte am nächsten Morgen und dehnte sich allmählich bis zum Abend aus. Die Künstler hatten sich diese kleine Nachfreude durch aufopfernde Arbeit redlich verdient, und darum:
Prosit, Kameraden, wohl bekomm’s!
Scribifax.
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