Lagerfeuer

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2. Jg. Lf. Nr. 9. Matsuyama, Sonntag, den 4. März 1919

Erdhöhle und Pfahlsau

Im letzten Monatsind wir durch die Kälte der Fußböden in unsern Tempeln nachdrücklich darauf hingewiesen worden, daß die japanische Bauart sich selbst für das milde Klima Matsuyamas nicht immer eignet, also offenbar aus südlicheren Gegenden hierher verpflanzt und dem Klima nicht völlig angepaßt worden ist. Dieselbe Tatsache hat uns daran erinnert, daß diese Tempel, unter denen der Wind so frei hindurchstreichen kann, im Grunde genommen Pfahlbauten sind, und so werden wir ihr Vorbild letzten Endes wohl bei den malayischen Völkern der süd-lichen Inseln suchen müssen, bei denen das Pfahlbausystem noch ausgeprägter ist
Mit stiller Sehnsucht habe ich in diesen Tagen zuweilen an die so viel einfache-ren und doch für den Winter so ungleich mehr Schutz gewährenden Lößhöhlen der chinesischen Provinz Shansi gedacht, und ich habe mich schließlich mit der Über-legung getröstet, daß die geographischen Bedingungen, die jene Lößwohnungen ermöglichen, hier nun einmal nicht vorliegen
Die einfachste Art, eine warme Winterbehausung zu schaffen, ist unbedingt die unterirdische Höhle. Sie hat zugleich den Vorteil, im Sommer kühl zu sein, und da ihr Hauptfehler, die Dunkelheit, dem Urmenschen wahrscheinlich wenig Sorge gemacht hat, so erscheint sie als die gegebene Wohnungsform für die Anfänge der menschlichen Entwicklung, und in der Gegend von Hsi-an-fu ist diese einfachste Form auch heute noch erhalten. Solche Erdhöhlen verlangen aber eine sehr wesent¬liches Vorbedingung, einen trockenen und gut durchlüfteten Erdboden, der zugleich fest genug ist,

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damit größere Hohlräume ohneallzu mühsame Stützbauten sich halten. Diese Bedingungen erfüllt in der vorzüglichsten Weise der Lößboden der Provinz Shensi und Shansi. Als sich nach der Eiszeit die Chinesen von Shensi aus über die große Ebene bis an den Yangtse und an das Meer ausbreiteten, werden sie diese alte Wohnart wohl zunächst beibehalten haben; aber sie kamen nun in ein Land, in dem ihnen der heimische Lößboden fehlte. Selbst wo sie diesen fanden, machte die zunehmende Feuchtigkeit des Klimas das unterirdische Wohnen meist zu unge-sund. Wenn auch im Lößboden der Regen auffallend schnell abfließt, so werden die Regen, die während der Eiszeit viel spärlicher gefallen waren, nunmehr aber häufig die Lößebenen überfluteten, auch die Wohnhöhlen unter Wasser gesetzt haben. Nur an besonders günstigen Stellen konnte man sie beibehalten. Die Erdhöhle ist eben für den Menschen wie für das Tier nur in der Trockenheit des Steppenklimas brauchbar, dann aber ein billiger und wirksamer Schutz gegen die Witterung und auch gegen manche Feinde. Daher finden wir auf den Boden der asiatischen Steppe von Wühlmäusen und anderen Erdtieren durchtunnelt, und die unterirdischen Höhlen, aus denen die Präriehunde Nordamerikas gegen Abend auftauchen, sind ja aus manchen Indianergeschichten bekannt
Gleichzeitig begannenaber die Flüsse und Bäche sich steile Schluchten in den Lößboden einzuschneiden, und an ihrem Rande konnte man sich seitwärts in den Löß hinein eine Höhle graben, die die Vorteile der alten Behausung mit möglichster Trockenheit vereinigte. Der Mensch ging gleichsam von der Wohnart der Wühlmäuse

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zu der der Erdschwalbe über. In gewissen gebirgigen Gegenden der Provinz Shansi und anderwärts lebt noch heute fast alles in solchen Lößwohnungen. Sie sind vorne durch eine Lehnwand mit Tür und Papierfenster gegen Wind und Wetter geschützt, auch wohl im Innern mit einem Gewölbe von Rollsteinen aus dem Flusse trocken ausgemauert, um vor allen Dingen zu verhindern, daß die durchsickernden Regenwässer der Löß der Zimmerdecke und der Wände in Form brauner Schlammbäche fortschwemmen. So beschränkt sich die Wirkung des Regens darauf, den Löß von der Mauer abzuwaschen, und, indem die Vorderteile der Wohnung allmählich ganz von der Lößdecke entblößt werden, entwickelt sich eine eigenartige Stilform für die

Höhlewohnung
Fassaden, (siehe Abbildung), die mit ihren durch Mauerung verbundenen Bogen aus der Ferne mehr einer steinernen Brücke als einem Hause gleichen. In der Ebene läßt sich diese Bauart nun nicht anwenden. In der feuchten Niederung brachte das Wohnen im Boden zu viele gesundheitliche Schäden mit sich. Hier gingen die Nordchinesen daher zu dem oberirdischen Hausbau über, dessen Vorbild sie wahrscheinlich von den Bewohnern des Yangtsetales kennen lernten. Diese hatten ja von jeher mit den Bedingungen eines feuchten Klimas rechnen müssen, es hinderte sie, im Erdboden zu leben, aber es bot ihnen dafür einen anderen Zufluchtsort, den Wald. Indem man den Zwischenraum zwischen einige

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Baumstämmen mit verflochtenen Zweigen ausfüllte, gewann man einen genügen¬den Schutz gegen Wind und Wetter. So entstand die Laubhütte und auf Umwegen endlich das Pfostenhaus mit Fachwerkwänden und Ziegeldach, das heute in China weitaus überwiegt. Daß es schon recht alt ist, zeigt ein Gesang des chinesischen Buches der Lieder, des Shi-King, indem erzählt wird, wie Tan-fu, einer der Ahnen der Dschou-Dynastie, im 2. Jahrtausend vor Christo seine Hauptstadt im Tale des Wei oberhalb von Hsi-an-fu gründete. Dort heißt es, daß er seine Untertanen, die bis dahin in Erdhöhlen gewohnt hatten, Häuser bauen lehrte. Es wird geschildert, wie die Pfosten aufgerichtet wurden, wie man eine Art Leergerüst von Holz dazwi¬schen aufbaute und in Körben den Lehm heranbrachte, um ihn in die Holzrahmen zu stampfen, ähnlich wie man heute Betonbauten ausführt. Wenn man aus diesem Liede auch nicht zu weit gehende geschichtliche Schlüsse ziehen darf, so zeigt es doch jedenfalls, daß die Chinesen des Wei-Tales ursprünglich in Lößhöhlen wohn¬ten, daß sie den Bau der Häuser als etwas später Eingeführtes empfanden, daß sie aber anderseits schon in sehr früher Zeit zu ihm übergingen. Auch ist offenbar noch eine Erinnerung daran vorhanden, daß die Änderung der Bauweise mit dem Übergange aus den Steppen des Westens in die feuchteren Flußgegenden des Ostens erfolgte.
Das Pfostenhaus hat sich je nach den Baumaterialien, die die Natur bot, an verschiedenen Stellen verschieden entwickelt. In Berggegenden wird man dazu übergegangen sein, die Wände aus Feldsteinen zu bauen.

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Den wesentlichsten Fortschritt hat entschieden die Erfindung der Tonziegel und Backstein gebracht, die die chinesische Überlieferung dem sagenhaften „Gelben Kaiser“, dem Huang-di (nicht zu verwechseln mit dem späteren Tsinshihuang di) zuschreibt. Eine besonders ursprüngliche Form zeigt noch das koreanische Haus
Hatte die Feuchtigkeit den Menschen aus der Erdhöhle vertrieben so zweng sie ihn in den sumpfigen Küstenniederungen, noch einen Schritt weiterzugehen und seinen Wohnraum nicht auf, sondern ganz über die Erde zu legen. Nur so ließ sich in gewissen Gegenden verhindern, daß die Feuchtigkeit in den Hauswänden aufstieg und im Innern des Hauses alles zum Faulen brachte. So finden wir den Pfahlbau, bei dem dieser Ausweg gewählt ist, denn auf allen Inseln, die die ostasiatische Küste umrahmen, auf den Sunda-Inseln, auf Formosa und zum Teil auch noch in Japan. Am schärfsten tritt die Eigenart des Pfahlbaues bei den Malayen der Sunda-Inseln hervor, wo der Boden des Wohnraumes hoch über der Erde liegt und nur mittelst einer langen Leiter erreicht werden kann. In Japan ist der Pfahlbaucharakter weniger deutlich, aber gerade bei den Tempeln, die wir bewohnen, unverkennbar. Nur sind die Pfähle, auf denen der Fußboden ruht, hier ziemlich kurz. Aber in dem Anbau am Tempel Shokenji, der über den kleinen See hinausgebaut ist, zeigt sich noch die nahe Verwandschaft zu den bekannten, über der Wasserfläche eines Sees erbauten Häusern eines malayischen Pfahldorfes
Dieselbe Formenreihe von Wohneinrichtungen, von der Erdgrube bis zum Pfahlbau, finden wir auch im

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VorgeschichtlichenEuropa, sogar auf deutschem Boden. Auch bei uns ist die ursprünglich vorherrschende Wohngrube allmählich ganz verlassen worden, weil das trockene Klima der Eiszeit, aus dem diese Wohnsitte hervorgegangen war all¬mählich immer mehr in das mäßig feuchte Klima der Jetztzeit überging. Auch bei uns ging man zum Pfosten- oder Stäuderhaus über und in besonders feuchten Gegenden, im Sumpfe und am Rande von Seen, finden wir den Pfahlbau, am schön-¬sten an den Schweizer Seen, wo die Abfallreste im Seegrunde unter den alten Wohnstätten unschätzbare Fundgruben für die vorgeschichtliche Kultur geworden sind
Man hat die Entstehung der Pfahlbauweise verschieden zu erklären gesucht: Man ging dabei immer von der typischen, auf hohen Pfählen im See oder Sumpf stehenden Hausform aus. Man wies darauf hin, daß die Sicherheit gegen Angriffe den Menschen über den Erdboden und auf das Wasser hinausgetrieben habe. Der Gedanke ist so einleuchtend, daß man ihm nicht wohl widersprechen kann, und doch liegt darin vielleicht nur ein Grund für gewisse Pfahlbauten, aber nicht der Grund für die ganze Bauweise; denn diese finden wir eben auch in einer Ausfüh¬rung gelegentlich, bei der die Höhe über dem Boden unmöglich Schutz gegen Feinde gewähren kann. Das ist ja gerade in Japan der Fall. Noch beschränkter ist die Stichhaltigkeit eines von Wilhelm Boelsche geäußerten Gedankens, daß nämlich die leichte Entfernung der Abfallstoffe den Menschen getrieben hätte, auf einem Pfahlrost über dem Wasser seine Wohnung aufzuschlagen, wo die Abfälle nur in den See zu fallen brauchten, um für die Gesundheit ungefährlich zu werden. Schon auf die im Sumpfe gebauten Pfahlwohnungen läßt sich dieser Gedanke nicht

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mehr anwenden
Für die Erklärung muß man unter allen Umständen die Tatsache der geogra-phischen Verbreitung der Hausarten berücksichtigen. Wie die Erdgrube auf das trockene Klima der Steppe oder das ebenfalls regenarme des hohen Nordens beschränkt ist, so ist der Pfahlbau eine Erscheinung des feuchten Küstenklimas, und der allgemeinste Grund hiefür ist wohl Sicher die Unmöglichkeit, auf dem nassen Boden unmittelbar zu leben. Hatte die Rücksicht auf die Gesundheit aber den Menschen erst einmal gelehrt, seine Wohnung mehr oder weniger hoch über den Boden zu verlegen, dann konnte er sie eben so gut in einem unzugänglichen Sumpfe oder über dem Wasser eines Sees aufbauen, und er wird diese technische Möglichkeit gern ausgenutzt haben, um sich gegen Angriffe zu sichern. So verlegte er den einmal erfundenen Pfahlbau hie und da in Sumpf und See
Aber die Bauweise heute auch ihre schweren Nachteile. Sie bot außerordentlich wenig Schutz gegen die Kälte. Das mochte in der warmen Zone gleichgültig sein. Die Malayen haben daher keinen Grund gehabt, eine andere Bauweise zu wählen. Auffallend aber ist, daß die Japaner sie auch in ihren nördlichen Gebieten so vielfach beibehalten haben. In Europa ist sie eben wegen der günstigen Bedingun-gen für den Winteraufenthalt gänzlich verlassen worden. Selbst wo wir heute gezwungen sind, auf sumpfigem Boden zu bauen, und des unsicheren Baugrundes wegen das Haus auf einen Pfahlrost setzen müssen, werden wir es nie so bauen, daß, wie hier, der Wind unter dem Fußboden durchstreichen kann. Wir haben durch wasserdichte Zwishenlagen Mittel gefunden, uns

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gegen die Bodenfeuchtigkeit zu schützen, und an kalten Tagen wird gewiß mancher Insasse von Yamagoe wünschen, daß die Japaner in diesem Punkte ihren oft gerühm¬ten Nachahmungstrieb angewendet hätten
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Wie meine beiden Freunde Rosenblick(Kennwort – congracia) und Schwarzseher(Kennwort – conpassione) Zensurfreinach Hause schreiben würden

(Congracia)
Mein geliebter Freund !
Wie wohl tut mir Dein treues Gedenken und alle die liebevolle Sorge, die, so vertraut, aus jedem Deiner Briefe zu mir spricht. – Aber warum Sorge? – Könntest Du mich nur sehen: zwischen zwei blühenden Azaleenbüschen, behaglich in dem Liegestuhl zurückgelehnt, die Guitarre im Arm ein Liedchen aus der „Geisha“ vor mich hinträllernd, so würdest Du „den armen Freund“, der doch sicher „furchtbar entbehrt“, wohl nicht mehr bedauern. – Warum, so frage ich mich immer wieder, urteilt Ihr in der Heimat so hart über dieses Land? Wie kommt es nur, daß ich auch Dich, mein Freund, so gar nicht überzeugen kann, wie falsch und grundlos alle die böswilligen Entstellungen sind, die Du täglich vor Augen hast? – Du glaubst, ich beschönige, nur um Euer Mitleid abzuwehren? Nein, nur die Wahrheit will ich reden, und nicht leiden, daß man dieses schöne Land mit Füßen tritt; sei es auch nur in Gedanken. Denn ich habe es gesehen, wie es wirklich ist. Wie eine Offen-barung erscheinen mir jetzt diese wenigen Wochen vor dem Kriege, in denen ich Dai Nihon durchwanderte. Wie eine unverdiente Offenbarung der wahren Schönheit, die mir die eigene Kleinheit

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erst recht ins Bewußtsein rief. Ich kam mir vor wie ein täppischer Riese, der in den Feenpalast der Elfen eindringt oder wie ein häßlicher schwarzer Käfer, der ungebe-ten von einem zierlichen Blütenkelch zum andern summt und, trunken von Schön-heit und Genuß, doch nicht ablassen kann, wieder und immer wieder von dem köstlichen Nektar zu nippen
Wie arm und plump ist doch die Sprache, daß sie immer wieder zu Bildern greifen muß, um nur annähernd der Schönheit gerecht zu werden. Fast neide ich es Lafcadio Hearn, dem klassischen Barden dieses märchenhaften Landes, daß ihm allein die Liebe den ganzen Melodienreichtum Dai Nihons entschleierte. Kannst Du seinen Erzählungen lauschen ohne von Sehnsucht ergriffen zu werden? – Kann ein Gott so ungerecht sein in einem solchen Zauberlande schlechte Menschen wohnen zu lassen? – Nein! Sag“ ich Dir, tausendmal nein! – Gerade jetzt in dunkler Kriegs¬zeit offenbart sich mir die lichte, große Seele dieses seltenen Volkes. Mit dem ganzen „Selbst“ muß man sich in seine Psyche vertiefen, will man zum Verständnis kommen. Überlege doch nur: In kaum zwei Menschaltern hat Japan die kulturelle Entwicklung von Jahrhunderten scheinbar spielend übersprungen und mit gerechtem Stolz kann es sich jetzt Asien’s Vormacht und Kulturträger nennen. Ist die Behandlung seiner Gefangenen nicht der beste Beweis für die hohen ethischen und moralischen Werte, die es gepflegt und zur Blüte gebracht hat? – Nur ein Volk, dem es mit seinem alt-ehrwürdigen Ehrencodex, dem „Bushido“, so heiliger Ernst ist, kann die in seine Gewalt gegebenen Feinde mit so zartfühlender Rücksichts¬nahme behandeln

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Aber Du sollst selberurteilen, mitgenießen, darum folge mir jetzt hinaus in den lachenden Frühling
Gestern war’s. Strahlend geht die Sonne auf, als auch schon mit erwartungs-frohen Gesichtern die festlich gekleideten Menge aus allen Gemächern unseres Heims vor dem Haus zusammenströmt zu einem der uns so lieb gewordenen Ausflüge in die herrliche Umgebung. – Schnell sind alle notwendigen Formalitäten erledigt und schon umfängt uns das bunte, ewig wechselnde Leben der Großstadt. Zwanglos plaudernd lassen wir die reizvollen bunten Straßenbilder an uns vorüberziehen und niemals ermüdet das Auge in dem Zauber dieser östlichen Wunderwelt. – Munter tummelt sich das kleine Völkchen in jubelndem Kinderspiel und so bunt, so farbenfroh leuchten die Kimonos der Kleinen, daß ich am liebsten mittollen möchte und wieder so jung sein wie damals! – Freundlich grüßt uns alt und jung, ja die Allerkleinsten stellen sich kerzengrad“ an der Wegseite auf, legen die Händchen an den Kopf und grüßen uns mit den hellen, melodischen Kinder-stimmen stramm militärisch. Das macht die kernige patriotische Erziehung, die schon in frühester Kindheit ein Zusammenklingen von harmloser Fröhlichkeit mit Würde und ernstem Pflichtbewußtsein hervorruft, das bei der frischen, jungen Generation wunderbar und rührend zugleich anzuschauen ist. Die Kleine hier mag selbst kaum 5 oder 7 Jahre zählen – und doch trägt sie schon mit dem Ausdruck vollsten Bewußtseins ihrer mütterlichen Pflichten das kleine strampelnde Schwes-terchen auf dem Rücken. – Dort zur Rechten öffnen sich vor

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unseren Blicken die Fenster einer Spinnerei. Licht und Luft haben freien Zutritt zu dem großen luftigen Raum, in dem kleine reizende Mädchen plaudernd und scherzend hinter den Webstühlen sitzen. So flink und geschickt bewegen sie die Finger, daß es fast den Anschein hat, als spielten sie nur mit den Fäden.
Über dem ganzen japanischen Familienleben schwebt ein solcher Hauch von tiefer Innerlichkeit und gesunder Natürlichkeit, daß ich es gar nicht fassen kann, wie man dieses Volk immer noch roh und barbarisch schelten kann. – Sieh nur die Mutter hier vor dem Hause: Voll stolzesten Glücks reicht sie dem Säugling die treue Mutterbrust und dabei umfängt sie den kleinen Strampelwicht mit einem Blick so voller Innigkeit, daß ich unwillkürlich an die schönsten Madonnendarstellungen italienischer Kunst erinnert werde. So weltentrückt und friedvoll ist dieses Stilleben inmitten des buntbewegten Getriebes. – Hoch oben vom Berge grüßt, wie ein Wächterlied aus längstvergangenen Tagen die stolze Trutzfeste der Daimyos von Matsuyama. Der steile Abhang glüht in den herrlichen Farben des bunten Ahorns und oben die Burg erhebt sich wie aus einem Meer von weißen Kirschblüten, die malerisch geschwungenen Kuppeln und Zinnen von den Sonnenstrahlen umflossen und vergoldet. So grüßt die Pflegestätte des Buschido von der Höhe hinab in das lachende Tal, wie ein Symbol der Versöhnung altjapanischen Geistes mit einem Zeitalter emsigsten Gewerbefleißes. – Am Fuße des Berges schlängelt sich unser Weg an dem schmucken Häuschen eines Kalligraphen vorüber. Ernst und ehr¬würdig sitzt der Alte Herr hinter seinem Tischchen. Versunken, grübelnd ruht der

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Blick auf denkrausen Schriftzeichen, mit denen die Rolle vor ihm bedeckt ist. Ihm, dem Schriftgelehrten, diktieren die biederen Handwerker und Bauern, deren Hände in fleißiger Arbeit rauh geworden sind, ihre Briefe. Denke nur: so fein ist selbst bei diesen einfachen Leuten das Gefühl für den Rhythmus schöner Linien, daß sie es nicht wagen würden, das ästhetisch geschulte Auge des Freundes mit den eigenen ungefügen Schriftzeichen zu belästigen. Im Nebenhause begrüßen sich vor unsern Augen gerade zwei ältere Damen. – Tief verneigen sie sich mehrmals voreinander und soviel lächelnde Liebenswürdigkeit und natürliche Grazie kommt dabei zum Ausdruck, daß unser altes steif gewordenes Europa sich ein Beispiel daran nehmen könnte. Vorüber, auch dieses Bild; vor uns die Straße öffnet sich auf freies Feld. Fast haben wir schon die Stadt hinter uns, da flattert noch, wie ein schillernder Schmetterling eine kleine entzückende Geisha vorbei. Anmut und Grazie atmet das ganze, kleine zierliche Persönchen, wie es schelmisch das süße Köpfchen hinter den Fächer verbirgt. – Und wie ein Hauch ist die holde Erscheinung - verschwunden. Wohin? – Wohin? – vielleicht zu dem Schriftgelehrten, um ihm Geheimnisse für den Liebsten anzuvertrauen?
Durch blühende Fluren und Felder windet sich unser Weg. Kleine, groteske Tempel, von Bäumen und Sträuchern eingefaßt, beleben malerisch die Landschaft, die dunklen Kulissen der Berge schließen sie wuchtig ab. Und plötzlich - - wer fing es an? – Halb unbewußt, rein aus der Stimmung geboren, quillt es brausend aus allen

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Kehlen: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt ....“ - - Der Schloßberg taucht ganz allmählich unter in der verdämmernden Ferne, - - - vor uns die Berge wachsen, schieben sich förmlich zu uns heran, - Der Sang verstummt –. Wir sind am Ziele, - ziehen ein in den so mit Recht so gepriesenen Kurpark von Dogo. – Oh – du herrliche Natur! – wie verschwenderisch hast du dieses himmlische Fleckchen Erde mit der Fülle deiner Gaben bedacht! - - Am Fuße eines Berges lagern wir auf grünem Rasen. Die Lehne hinauf zieht sich ein Teppich blühender Blumen, tausende von zartgefärbten Azaleen bilden das Mosaik. Wogen von Kirschblüten umgeben uns rings, - kaum daß die Bäume die Fülle der Blüten tragen können. – In einer Laube violettschimmernderGlycinien lasse ich mich nieder, benommen - - überwältigt von diesem wunderbaren Schauspiel. – Bin ich im Traumland? – Nein, nein, es ist Wirklichkeit, bezaubernde Wirklichkeit, die vor mir ausgebreitet liegt. – Unter den blütenschweren Zweigen lagert das harmlos fröhliche Völkchen in malerischen Gruppen. Hinaus gezogen ist es zum Fest der Kirschblüten an den Busen der Allmutter Natur, die ihr Bild fest und unauslösch-lich jedem ihrer japanischen Kinder ins Herz geschrieben hat. Die grüne Rasen-fläche belebt sich. Kameraden in schmuckem, weißen Sportkostüm tummeln sich in munteren Turnspielen. Frohes Jauchzen überall – und auch mein Herz jubelt empor voller Lust. Schillernde Falter taumeln von Blüte zu Blüte. Ein Knospen und Blühen zieht durch die balsamischen Lüfte, - der Himmel blaut in reinstem

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Azur und eint sich mit dem Blumenflor der Erde zu einer Farbensymphonie – so bezaubernd – so berückend schön -. Oh Welt, wie bist du so schön, so schön – Oh Freund wärst Du bei mir – könntest schauen – schauen – genießen – vereint mit Deinem schönheitstrunkenen
Anton Rosenblick

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(ConPassione)
Alter Junge !
Du bist doch unverbesserlich in einem Optimismus! – Du meinst also, ich sei bei Abfassung meines letzten Briefes über die hiesigen Verhältnisse wohl etwas erregt und in schlechter Stimmung gewesen? – Ja, Kuchen! – Das soll mich aber trotzdem nicht davon abhalten, heute noch einmal zu versuchen, in Deine romantischen Begriffe etwas Klarheit zu bringen
ad I: Wie es mir geht? – „Belämmert!
ad II: Wie die Behandlung ist? – „Unter aller S..!
ad III: Wie die Verpflegung ist? – „Kurz: zum Sterben etwas zu viel,
zum Leben aber viel zu wenig!
Trüge der Baum „species Liebesgaben, varietasjaponica“ keine Früchte mehr, so wäre ich wohl schon längst zur schrumpeligen Mumie zusammengehungert. - - - - Du denkst jetzt, dies sei wieder die Erbitterung, die aus mir spricht. In den Zei-tungen zu Hause stehe doch soviel Anerkennendes über die Art und Weise, wie die Japaner ihre Kriegsgefangenen behandeln. Und gar Lafcadio Hearn, den Du gerade mit der üblichen Begeisterung gelesen hast, könne sich ja gar nicht genugtun an „blumenreichen Worten“ des

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Lobes über „Dai Nihon“. Im Zusammenhang mit Ritterehre läßt Du dabei auch ein Wort wie „Bushido“ fallen. Fühlst Du das dringende Bedürfnis, Dich über diesen Punkt durchaus zu belehren, so empfehle ich Dir: „Tschitrakarna oder das vornehme Kamel“. Meyrinck faßt den Kern des „Bushido“ ganz leidlich, wenn er sagt: „Man grinst, wenn man Bauchweh hat, man grinst, wenn der Tod kommt. Man grinst überhaupt immerwährend.
Das – von einem Mann, der niemals das „Glück“ gehabt hat, in japanischer Gefangenschaft zu sitzen, - Ich will es dabei bewenden lassen und Dich mit meiner eigenen Definition verschonen, da sich unser Kommißpidgin vielleicht nicht für Euere Ohren eignet. Du opponierst? – Tue das ruhig, mein Sohn. Du unterschei¬dest Dich durch in keiner Weise von all den anderen begeisterungssüchtigen Mitteleuropäern, die sich nun einmal aus Prinzip mit Händen und Füßen wehren, wenn einer an ihre geheiligten Illusionen tastet. – Japan? – Ha – „Geisha“, „Taifun“, „Butterfly“! man weiß doch so genau Bescheid. Hock’sai hat da sogar in Holz geschnitten! man trägt selber einen japanischen Kimono – und noch dazu einen echten! Wie kann es also so ein Frechling wagen, aus reiner Wichtigtuerei an den geheiligten Namen „Japan“ zu rühren! – Keine Angst! – ich rege mich nicht auf. Selbst das Ärgern verlernt man hier mit der Zeit. – Noch ist ja aber nicht alle Hoffnung verloren, daß sich wenigstens nach diesem Kriege einiges bessert. An mir soll es jedenfalls nicht liegen! - - Dich hoffe ich jetzt mit dieser Vorbereitung so weit gestärkt zu haben, daß Du mich auf einem

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sogenannten „Spaziergang“ begleiten kannst. – „Spaziergang!“ nicht wahr, das klingt ganz gut? – jedenfalls besser, als einem danach werden kann. Es handelt sich hier um eine Einrichtung, die eigentlich wöchentlich abkommen soll – falls nicht das Lager wegen irgendwelcher imaginärer Verbrechen mit Strafen belegt ist. Wie geht nun diese Prozedur (von den unheilbaren Optimisten immer noch „Spaziergang“ genannt) vor sich?
Wir warten - - - - der japanische Begleitoffizier unterhält sich seelenruhig mit dem Wachtabenden und spielt dabei stillvergnügt mit seinen schmutzigen Papier-röllchen, auf die scheinbar das Wort „Spaziergang“ großen Eindruck gemacht hat. In uns löst dieses „Aus – dem – Ärmel – Bestreben“ der Röllchen nur mischte Gefühle aus. – Wir warten - - - - Ich kann nicht umhin meinen Nebenmann zu bewundern. 5 Minuten lang steht er auf dem rechten Fuß und scharrt mit dem linken - - 5 Minuten lang steht er auf dem linken Fuß und scharrt mit dem rechten - - und – das muß ihm der Neid lassen – der Haufen wächst, wobei jedesmal ein verklärtes Leuchten über sein Gesicht huscht. Wir warten - - - - Meine Nervosität wächst - - ich fluche (innerlich!): wenn er jetzt aber nicht bald Schlaff macht, dann - - nu, dann warten wir eben noch ein Weilchen. - - Ich seh mich verzweifelt um, ob Seppl nicht irgendwo zu erspähen ist -; mit dem ließe sich doch so anregend spielen - - Umsonst! – Du Hund, infamer, warum bist du immer nicht da, wenn man dich braucht? - - - Da – endlich geht ein Aufatmen durch die Reihen. Der Wachthabende beginnt mit dem Abzählen – und

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zwar gründlich. Man fühlt förmlich, wie er sich die einzelnen Additionszahlen in den Schädel hämmert. Er selbst scheint aber von seiner Rechenkunst, ohne den obligaten Soroban, nicht allzuviel zu halten, holt sich deshalb den Gefreiten zu Hilfe und das Zählen fängt von vorne an. - - Ergebnis? – Inklusive der ersten Abzählung – 3 verschiedene Resultate. Ein dritter muß helfen. Ich denke: nun muß es doch mindestens bei zweien stimmen! – Behüt dich Gott, du schöner Wahn! Mit Hilfe der Dolmetscher gelingt es schließlich nach fünfviertelstündigem Warten dem Geheim¬nis auf die Spur zu kommen. Endlich – endlich! Die Bajonette werden aufgepflanzt mit Hilfe einiger antreibender Gutturaltöne der Posten wird die schon lange stumpfsinnig vor sich hinbrütende Herde zum Tor hinausgeschoben. –
Auf dem Wege zwischen den Häusern, - (Straße kann man diesen Krümperweg nur mit Hearn’scher Phantasie nennen) begrüßen uns Staub, Gestank und Hitze. „Schwefelwasserstoff, Käseladen, muffiger Grünkramkeller und das Ganze leicht geflavourt mit fauliger Heringslake. „Unser Weg charakterisiert sich weiterhin durch baufällige Häuser und eine geradezu unheimliche Menge schmutziger Göhren. Schon als Einzelerscheinung unerfreulich, wirken sie, in Masse direkt abstoßend. Eitrige Augen, Hautausschläge, Schlitterbahnen unter der Nase u.s.w.
Ihr Hauptvergnügen ist, liebevoller Anleitung der Eltern beledigende Schimpf-worte nachzubrüllen, was selbst dem neben mir gehenden Posten ein wohl-wollendes Feixen „à la Bushido“ (siehe oben) entlockt
Häßliche Weiber in Menge lungern herum und

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stellen mit direkt widerlicher Nonchalance ihren schlampigen Körper zur Schau. Der Milchkonsum scheint ungeheuer zu sein. Fast jedes Haus weist mehrere verheiratete und unverheiratete Mütter auf, die rotznasigenBabies an der "treuen Mutterbrust“ halten und mit grinsendem Zähnefletschen folgen die Schlitzaugen dem schwatzenden Austausch von Angebot und Nachfrage. Gott sei Dank! – auch das ist überstanden. Aber wir kommen vom Regen in die Traufe. Ein Surren und Sausen, das zuerst noch undeutlich die Pause der Nationalhymne erfüllte, wird eindringlicher. Es kommt aus einer Spinnerei zu ebener Erde, die wir soeben passieren. Straßenstaub und Schmutz haben ungehinderten Zutritt zu dem schon an und für sich stickigen Raum, in welchem kleine Mädchen im Alter von 6 – 10 Jahren hinter klobigen Webstühlen sitzen und bei jedem Ermatten von ihren Peinigern zu neuer Arbeit angetrieben werden. – Hier packt mich zum ersten Mal das Mitleid. Das wäre ein Bild für die Herren Japan – Enthusiasten zu Hause –. Und dicht daneben sitzt wieder solch eine Personifikation der verkrüppelten Mittelalterlichkeit: Ein Schreiber! – die Knie hochgezogen, mit blöden Stilaugen vor sich hinstarrend. – Also nicht mal schreiben kann dieses Volk! – So also sieht diese „Kulturnation“ aus?: Aber was nützt alles Predigen! Blinden, die die Augen absicht-lich zukneifen, ist eben nicht zu helfen. - - Die Herde zieht weiter - - -. Eine Geisha, das Gesicht bis zur Ankenntlichkeit mit Schminke und Puder beschmiert,

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geniert sich noch mit dem übrigen Grinsen an uns vorüber – und dann haben wir die Häuser glücklich hinter uns. – Schon in der Stadt war die Hitze schlimm. Jetzt aber blackt uns die Sonne so erbarmungslos auf den Schädel, daß ich schon nach 5 Minuten naß bis auf die Knochen bin. Auch um die Hoffnung auf frische Luft bin ich betrogen. – Ein Reisfeld - - 2 Reisfelder - - - - 3 Reisfelder - - - - und alle sind gerade, als spezielle Ovation für uns, aus den, beide Wegeseiten flankierenden, Kloaken gedüngt worden. – Die Sonne sticht - - - es stinkt - -, die Zunge wächst mir zum Halse heraus - - - - Stumpf und gefühllos stolpere ich weiter durch die trost¬lose Öde - - -. Abteilung halt! - - - Wozu? - - Ach so, wir sind am Ziel?! Stumpfsinnig lasse ich ein zweites halbstündiges Abzählen über mich ergehen. Dann raffe ich mich zu dem Entschluß auf, Umschau zu halten: Von dem „berühmten“ Dogo Park ist nichts zu sehen als eine abgetretene Rasenfläche, eingefaßt von einigen Kirsch-bäumen im letzten Stadium des Abblühens. Links auf dem Hügel scheint es besser zu sein. Als ich aber dort hin will, hält mir der Posten in nicht mißzuverstehender Weise sein Bajonett vor die Brust – also - - kehre ich wieder um. Ein paar verrückte Sportenthusiasten haben das dringende Bedürfnis, bei der Affenhitze auch noch Fußball zu spielen. Triefend von

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Schweiß hetzen sie sich auf dem Platz herum. Mein einziger Wunsch ist jetzt: wenn ich bloß erst wieder zurück wäre in unserer Zwangsanstalt! Maski
Dein
Peter Schwarzseher

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