Lagerfeuer

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II. Jg. Lf. Nr. 8. Matsuyama, Sonntag, den 25. Februar 1917

Ein Kapitel aus der chinesischen Geschicht


Kein europäisches Volk kann aufeine so ununterbrochene Entwicklung aus Eigenstem heraus zurückblicken wie das chinesische. Ist doch unsere europäische Kultur kein einheitliches Werk, sondern vielmehr ein buntes Mosaik, an dem viele Völker neben- und nacheinander gearbeitet haben. Da erstand die ägyptische, die babylonische, die semitische Kultur, erreichte eine unerhörte Blüte und versank. Da kamen die Perser, die Griechen, die Römer, nahmen das auf, was die älteren Kulturen geschaffen, bauten es weiter aus, lebten ein jedes Volk für ein paar Jahrhunderte sein Leben der Größe und brachen dann zusammen. An ihre Stelle traten wieder junge Völker, die sich erst in mühsamer, jahrhundertelanger Arbeit das aneignen mußten, was jene zuvor besessen, bevor sie selbst daran denken konnten, an dem großen Gebäude der Menschheitskultur weiterzuschaffen
Die Chinesen sind dagegen das einzige lebende Kulturvolk, dessen Geschichte bis in die älteste Zeit, aus der wir Kunde haben, zurückreicht und das sich noch heute im Wesentlichen auf die Kultur gründet, die seine Vorväter in der Kindheit der Menschheit zu erarbeiten begonnen haben. Gewiß sind auch in China immer fremde Einflüsse am Werk gewesen, denn es ist sicher, daß die im Chinesentum aufgegangenen Völker und die Nomadenstämme, die in Chinas Geschichte nach-einander eine Rolle spielen, mancherlei von ihrer Eigenart zurückgelassen und dem alten Kulturlande verjüngende Kräfte zugeführt haben; auch die indischen Ein¬flüsse, - besonders auf Religion und Kunst, - sind hier zu nennen. Aber das alles ändert

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an der Tatsache nichts, daß die Chinesen als Volk den Wechsel der Zeiten über-dauert haben, daß sie sich das Fremde angliederten und zu einem Bestandteil ihrer eigenen Kultur machten. Es gibt wenig so Interessantes wie den Bahnen der Ent¬wicklung Chinas nachzugehen und zu sehen, wie sich dies Volk durch die Jahr-tausende hindurch erhalten hat. Ich möchte aus der Fülle des Geschehens das Lebenswerk eines Mannes herausgreifen, dessen Taten wie die keines andern bestimmend für die Geschichte seines Volkes gewesen sind. Dieser Mann ist der Gründer der Tsin-Dynastie (221 – 206 v. Chr.), Tsin Schi Huang Di, eine der größten Gestalten der Weltgeschichte, ein Kaiser, den man wohl neben Napoleon stellen kann. Persönlich bietet diese Gestalt zwar wenig Anziehendes. Seine Geschichte ist mit Blut geschrieben. Kein Kaiser chinesischer Abstammung hat dem ureigenst chinesischem Wesen innerlich fremder gegenübergestanden als er, dessen hervorstechende Eigenschaften neben einem klaren Verstande Herrsch¬sucht, Grausamkeit und Pietätlosigkeit waren. Er nannte sich als Kaiser Schi Huang Di – der erste Kaiser, womit er ausdrücken wollte, daß das, was vorher gewesen, für ihn nicht existierte, daß er tradisionslos eine neue Zeit heraufführen wollte. Obschon sich dies nicht restlos durchführen ließ, ist er doch einer der größten Realpolitiker Chinas. Er erkannte die Lebensnotwendigkeiten seines Volkes und schuf aus einem wild zerrissenen Staatengewirr voll von Streit und Zwist den straff in sich geschlossenen Einheitsstaat. – In der seiner Zeit vorangehenden Epoche der Dschou-Zeit, 1122 – 221 v. Chr., war China ein Lehnsstaat. Die Dschou-Kaiser, die in der ersten Zeit ihrer Herrschaft Herren des ganzen Landes gewesen waren, hatten die Verwaltung Verwandten und verdienten Staatsmännern anvertraut, die sich mit der Zeit

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immer unabhängiger zu machen verstanden. Und die Entwicklung war – ganz analog der deutschen im Mittelalter – dahin gegangen, daß die Lebenskräftigsten dieser Lehen ihre Macht auf Kosten der anderen immer weiter ausdehnten, daß aus ihnen Königreiche wurden, die die kaiserliche Zentralgewalt vollkommen überrag¬ten. Am Ende der Dschou-Zeit – um 300 v. Chr. – rangen 8 große Königreiche untereinander um die Vorherrschaft. Es war eine Zeit voll von wilden Kämpfen und Nöten, eine Zeit aber, die trotz alledem den Chinesen von einer gewissen Glorie umwoben erscheint. In ihr blühten eine Reihe großer und kleiner Fürstenhöfe; die fahrenden Sänger zogen von Staat zu Staat und sangen ihre Minne- und Helden¬lieder. Die großen Philosophen Chinas lebten in ihr und schufen das geistige Gebäude, das bis auf den heutigen Tag die Grundlage der chinesischen Kultur ist. Dieser Epoche mit ihren romantischen Kämpfen und Ritterfreuden, ihrem Schein¬kaisertum, ihrer inneren Zerfahrenheit und Schwäche nach außen setzte Tsin Schi Huang Di ein Ende. Er war seit dem Jahre 246 König über den Staat Tsin, der nordwestlichsten des damaligen China. Die Macht seines Geschlechts war durch die ständigen Grenzkämpfe mit den Nomaden und durch geschickte Politik mächtig erstarkt. Sein Vater schon hatte es gewagt nach der Kaiserkrone zu greifen, aber seine Rivalen, die Könige einiger anderer der „streitenden Reiche“, waren über ihn hergefallen und hatten ihn schwer geschlagen. Erst Tsin Schi Huang Di sollte es glücken, das große Werk zu Ende zu führen. Einen kongenialen Berater fand er in einem gewissen Li Sze, der nach dem Staate Tsin gekommen war, um dort sein Glück zu versuchen, - eine typische Gestalt der ausgehenden Dschou-Zeit. Angeb¬lich hat

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er dem Könige die Pläne ausgearbeitet, die der Kleinstaaterei ein Ende machen sollten. Mit meisterhafter Diplomatie wurde Feindschaft unter die übrigen Königreiche gesät. Blutige Kriege führten diese gegeneinander, um schließlich geschwächt von dem rücksichtslos vorgehenden König von Tsin überwältig zu werden. Dieser scheute bei seinem Tun kein Mittel, brach, ohne sich Skrupel zu machen, beschworene Verträge und räumte, wenn es sein mußte, seine Rivalen durch Mord aus dem Wege. Furchtbar müssen die Kämpfe jener Zeit gewesen sein, hin und her schwankte das Schlachtenglück. Die Geschichte erzählt – die Zahlen dabei gewaltig übertreibend, - daß ein Heer des Staates Tsin von 200.000 Mann von dem König über das Yangtses-Gebiet vernichtend geschlagen wurde, wobei 40.000 Mann auf dem Schlachtfelde blieben. Einem zweiten noch größeren (!) Heere soll es erst gelungen sein, des Gegners Herr zu werden. Tsin Schi Huang Di wurde so 221 v. Chr. Kaiser über das ganze Land, aber er ruhte nicht auf seinen Lorbeeren. Er war nicht geschaffen, müßig zu genießen; Handeln war seine Lust, nach Taten verlangte ihn, die seinen Namen mit ehernem Meißel in die Bücher der Geschichte schreiben sollten. Er wollte ein größeres China, alle Barbaren innerhalb der 4 Meere sollten ihm untertan werden, und so führte er seine Heere nach Westen und Süden. Erobernd drang er weit über Kanton bis ins ferne Tongking. Das gewaltige Gebiet, das er so dem Reiche zuführte, festigte er weitblickend durch planmäßige Kolonisationspolitik, indem er aus allen Teilen seines Reiches Ansiedler in den unterworfenen Süden schickte. Er erkannte, daß diese

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enormen Gebiete nur dann wirklich innerlich erworben würden, wenn die über-legene chinesische Kultur in ihnen Fuß faßte
Um die mit großen Opfern unterdrückten Lehnsherrschaften nicht wieder auf¬kommen zu lassen, teilte er China in 36 Bezirke, deren Oberbeamte er persönlich ernannte und durch scharfe Kontrolle zu angespannter Tätigkeit anhielt. Er schuf so das Beamtensystem, das noch heute in seinen Grundzügen fortbesteht
Viel war im Lande, das unter den langen Kriegen schwer gelitten, zu tun! Und Tsin Schi Huang Di tat, was in seinen Kräften stand, um Handel und Wandel zu heben. Er erbaute sich eine prächtige Residenz in Hsien Yang Hsien, nordwestlich von Hsi An Fu gelegen, ließ Stromregulierungsarbeiten ausführen und legte vor allem ein Netz guter Verkehrsstraßen an, die den Kaufleuten zugute kamen und gleichzeitig die Macht der Regierung hoben
Ein Zug nimmermüden Schaffens ging damals durch die chinesische Welt. Dieser einzige große Mann vermochte es, seiner Zeit das Gepräge zu geben und Werte zu schaffen, die Ewigkeitsdauer haben
Alte Gemälde zeigen unsden Kaiser auf seinen großen Inspektionsreisen durch das Land. Da war keine Provinz, die er nicht besuchte, kein hoher Beamter, dessen Tätigkeit nicht genau nachgeprüft wurde. Wenn die kaiserliche Sänfte, getragen von einer Schar Bediensteter, umgeben von Fächerträgern und einem stolzen Gefolge von Reisigen auf den neugeschaffenen Straßen durch die Lande zog, oder wenn die prunkvollen Dschunken des Allgewaltigen die großen Ströme hinunterfuhren, dann

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duckten sich die Beamten, Mißstände wurden gebessert und bewundernd starrte das Volk hinter ihm drein
Es ist eine Ironie des Schicksals, daß Mann, der China zu einem Einheitsstaat zusammenschweißen sollte, es im Gegensatz zum Konfuzianismus tat, daß letzterer nicht selbst sein aus dem Altertum überkommenes Ideal des „Heiligen auf dem Thron“ hervorbrachte, um dies für China so unendlich bedeutende Werk auszu¬führen. Ein „Heiliger“ konnte es eben nicht vollbringen, sondern nur ein Mann wie Tsin Schi Huang Di, der sich souverän über alle Moral hinwegsetzte. Alt über¬kommene Formeln und Bräuche waren ihm verhaßt. „Ich bin das Gesetz. Wie mir’s gefällt, so geschieht’s“, war sein stolzes Wort. Und so opferte er der Gottheit auf seine Weise und hatte nur ein stolzes Lächeln für die am Altüberlieferten so ängstlich festhaltenden Gelehrten. Sie paßten nicht in seine Zeit, die von andern Gesetzen regiert wurde
Auf den Bergen Schantungs soll der Herrsher lange gestanden und auf das Ostmeer geschaut haben, in dem in weiter Ferne – unsichtbar den Blicken – die sagenhaften Inseln der Unsterblichkeit liegen sollten. Die kurze Spanne eines Menschenlebens genügte ihm nicht, ihn dürstete nach dem Trank der Unsterb-lichkeit, um sein Leben und Wirken zu verewigen. Auf das Geheiß von taoistischen Magiern und Zauberkünstlern, deren Einfluß er, je älter er wurde, immer mehr verfiel, sandte er 1000 Jünglinge und Jungfrauen aus, um diesen Trank zu holen. Aber die stolze Fahrt erreichte ihr Ziel nicht; ein Sturm vereitelte die Unterneh-mung.

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Kein Großer der Geschichte ist wie er gehaßt worden. Die Gelehrten haben Fluch auf seinen Namen gehäuft, und noch heute ist der Name Tsin Schi Huang Di, der Inbegriff alles Verhaßten, Kulturfeindlichen für die meisten Chinesen. Die Konfuzia¬ner legen ihm die berüchtigte Bücherverbrennung zur Last, die angeblich alle alten Schriften bis auf einige mit List gerettete zerstörte. Nach neueren Geschichtsfor¬schun¬gen hat eine solche nie stattgefunden; Tatsache ist wohl nur, daß der Kaiser eine große Zahl widerspenstiger Literaten, die ihm mit ihren ewigen Vorwürfen und Protesten das Leben schwer machten, in echt orientalisch-grausamer Weise lebendig begraben ließ
Noch haben wir die gewaltigste Tat dieses Mannes nicht genannt: Die Sicherug der Grenzen gegen die Nomadenvölker Zentralasiens
Je fester sich die Macht der Chinesen konsolidierte, je größer ihr Reichtum wurde, um so mehr mußte es die Steppenvölker Zetralasiens gelüsten in dies von der Natur so reich bedachte Land einzufallen
Gewaltig groß ist das Wüsten- und Steppengebiet, das sich im Norden Chinas vom Kinghan-Gebirge bis zur Wasserscheide des Pamir erstreckt. Kein großer Strom vermag sich aus ihm den Weg zum Meere zu bahnen. Das wenige Wasser, das in diesen weiten Gebieten nicht von der sengenden Wüstensonne aufgezehrt wird, sammelt sich an den tiefsten Punkten, wohin es seit Jahrtausenden die Zertörungsprodukte der höher gelegenen Gegenden trägt, so das Land allmählich immer weiter nivellierend. Eintönig sind daher seine Formen; der Nomade reitet tage-, wochenlang durch Gebiete, die dem Auge keine Abwechslung bieten. Eintönig sind auch die Lebensmöglichkeiten

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der Menschen. Ackerbau und damit seßhaftes Leben ist nur an einigen von der Natur begünstigten Stellen des Tarym-Beckens möglich. Überall sonst muß die Nomade rastlos über die mit kärglicher kahlen Flora bedeckte Steppe wandern, um bald hier bald da seine Hurte aufzuschlagen
Ist es da verwunderlich, daß die Menschen, die so kümmerlich ihr Leben fristen müssen, mit Neid auf die Länder blickten, in denen die großen Ströme zu Meere brausen, Fruchtbarkeit und Reichtum verbreitend und Völkern die Möglichkeit bietend sich zusammenzuballen und in festen Sitzen große Staatswesen zu bilden? Und so sehen wir sie immer und immer wieder gegen die Pforten zu den gelobten Ländern anstürmen und wehe, wenn die Völker dort nicht auf der Hut sind; sie werden von den raschen Reiterscharen überrannt und alle mühsam geschaffenen Kulturwerte werden vernichtet
Von den Vorgängen indiesen weiten Gebieten vor der Zeit Tsins ist wenig auf die Nachwelt gekommen. Die Chinesen wissen nur, daß sie um 2000 v. Chr. im Besitz der Yue Moen Passage waren, jener weit nach Westen vorgeschobenen Eingangs¬pforte zu den Tälern des Wei- und des Hoangho, und daß diese ihnen von herein¬stürmenden Nomaden entrissen wurde. Sie klagen ferner über die ständige Gefähr¬dung der Westgrenze und berichten von Strafexpeditionen einiger Dschou-Kaiser gegen Westen. Um 300 v. Chr. griff man zu dem Mittel, das einzig imstande ist, die Kraft wilder Naturvölker zu brechen, - dem Bau fester Plätze. Den Chinesen drängte sich als das Praktischste der Bau von Wällen mit Wachttürmen auf. Und so errich¬te¬¬ten einige der „streitenden Könige“ an besonders

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gefährdeten Punkten solche Erdwälle, die aber die Hiungnu, die damals die Grenz-nachbarn Chinas waren, nicht hindern konnten, ihre Raubzüge auszuführen. Erst Tsin Schi Huang Di konnte es unternehmen dem Unwesen energischer zu steuern. Im Jahre 215 schickte er ein großes Heer gegen die Friedensstörer, die schwer geschlagen wurden. Und um für alle Mal die Wiederkehr der Einfälle zu verhindern, ging er an das titanische Werk die vereinzelten Befestigungen zu der großen Mauer zu verbinden, die eines der Wunderwerke der Menschheit ist. – Zwar ist die Mauer damals noch nicht in der Form erstanden, die wir heute vor uns haben, sie bestand vielmehr aus festgestampften Lehmwällen bezw. riesenhaft aufgehäuften Stein-massen – ein fast übermenschliches Werk. –
Auf des einen Mannes Machtgebot mußten viel hunderttausend Menschen fronen, um in mitten der Wüsten jene Wälle und Wachttürme zu errichten, die den Völkerstürmen Zentralasiens ein Halt zurufen sollten. Eine Strecke von 2200 km überspannt die Mauer, (von Paris bis Konstantinopel ist’s nicht weiter!) Es ist schwer sich ein Bild solch himmelstürmenden Schaffens zu machen. Man versetze sich einmal in jene Zeit, in der der Allgewaltige seine Söldner durch die Lande schickte, um die Leute in der Vollkraft ihrer Jahre zum Bau der Mauer aufzubieten. In welcher Angst muß das Volk gelebt haben, wenn die Häscher nahten. Bedeutete doch dieser Frondienst für Tausende den sicheren Tod! Wieviel Flüche, Stöhnen, Sterben muß in jener Zeit die weiten Wüstengebiete erfüllt haben, Gegenden, in denen die Sandstürme brausen, und die Sonne dörrend und sengend herniederstrahlt und in denen im Winter eisige Kälte herrscht, alles Leben vorzeitig ertötend! Ein

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chinesisches Gedicht aus jener Zeit versuchtdie Stimmung des Volkes wieder-zugeben. Es lautet in der Übersetzung von A.Forke
„Geburt der Knaben sorglich wird verschwiegen
Die Mädchen zieht mit trocknem Fleisch man auf
Sieht längs der großen Mauer nicht zu Hau
Gerippe man und Totenknochen liegen?
Große Werke können nur mit souveräner Verschwendung von Menschenleben ausgeführt werden. Das Einzelglück und Weh verschwindet. Ein Mann, der die Welt zum Höchsten aufstachelt, schreitet gelassen über das Schicksal von Tausenden hin
Dem Kaiserwar es nicht beschieden die Vollendung seines größten Werkes zu schauen. Die Sage erzählt, ein Stein sei eines Tages von Himmel gefallen, dessen geheimnisvolle Schriftzeichen seinen Tod ankündigten. Die Mahnung, daß über ihm höhere Mächte walteten, denen er trotz aller seiner Größe nicht gewachsen, schreckte ihn. Er wurde immer grüblerischer und tyrannischer und ließ in Cäsa¬ren¬¬wahnsinn viele Unschuldige hinrichten. Nirgends fand er Befriedigung und reiste mit dem Schicksal hadernd und von selbstquälerischer Unruhe getrieben von Ort zu Ort, bis er schließlich fern seiner Residenz erlöst wurde
Sein Mausoleum hatte er sich bei Lebzeiten tief in einen Berg hineinbauen lassen, wohl das prächtigste Grab, das ein Fürst der Erde je besessen. Sein Sohn ließ Hekatomben von Menschen opfern, um diesem Gewaltigen das Todesgeleite zu geben. Seine Frauen und viele Diener folgten ihm ins Grab, damit er, der im Leben so viele Menschen verbraucht hatte, mit großem Gefolge in die

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Totenwelt einziehen könne
Die Natur hattesich in der Hervorbringung dieses Gewaltmenschen erschöpft. Der Sohn, ein schwacher Wollüstling, vermochte nicht das zu erhalten, was der Vater geschaffen. Es zeigte sich, daß der brutale Bruch mit der Tradition auf die Dauer nicht zu geordneten Verhältnissen führen konnte. Aufs neue erhoben die mühsam unterdrückten Lehnsfürsten das Haupt und wilde innere Kämpfe folgten, die erst endigten, als ein neuer Großer, der erste Han, der widerstrebenden Kräfte Herr wurde und eine Periode hoher Blüte heraufführte
Vissering

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Philiste

(Was hier von Kokaido gesagt ist, glauben wir getrost auf das ganze Lager verallgemeinern zu können und bekennen uns selbst mancher Philistereien schuldig. In Privatklagen auf Grund des nachstehenden Artikels übernimmt unser Rechtsbeistand aber keine Vertretung, wenn der Kläger nicht nachweisen kann, daß die Ausführungen des Verfassers auf ihn zutreffen
Die Schriftleitung)

Das Leben hierin Kokaido ähnelt in vieler Beziehung dem Leben (in :M.V.) einer Kleinstadt. Mit dem Namen Kleinschtadt verbindet sich im allgemeinen sofort der Begriff „Philister“. Und es ist vielleicht nicht ganz uninteressant, einmal Studien darüber anzustellen, ob es auch in unserer Kleinstadt „Kokaido“ Philister gibt. Noch sind wir Kokaidobürger ausnahmslos junge Männer, sodaß auf völlig ausgewach¬sene,

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grünbemooste Prachtexemplare schwerlich zu rechnen sein dürfte. Aber was ein Häckchen werden will, krümmt sich bei Zeiten, und ich glaube, bei scharfem Zusehen finden sich hoffnungsvolle Ansätze genug
Es könnte beinahe gefährlich erscheinen, alle die werdenden Philister heraus¬zufordern. Aber es scheint nur so, denn was ein rechter Philister ist, der wird in den nachfolgenden Typen nur mit behaglichem Schmunzeln seinen Nebenmann und Mitphilister erkennen. Daß er selbst gemeint sein könnte, kommt ihn (?ihm) gar nicht in den Sinn. Wem aber doch eine dunkle Ahnung aufgehen sollte, dem sei zum Trost gesagt, daß ein jeder ein Stückchen Pilistertum mit sich herumträgt. Und daß der zwischen den beiden Extremen „gut“ und „böse“ stehende Philister einen sehr großen Teil der Menschheit ausmacht, daß er für das geordnete Bestehen des Staates, die Fortpflanzung der Art etc. etc. ziemlich unentbehrlich sein dürfte
Doch der Vorreden genug. Sehen wir uns einmal um in Kokaido! Gleich stoßen wir auf den Kartenspieler. Er spielt nicht allzu leidenschaftlich – richtige Leiden¬schaft ist dem Philister fremd –, dafür aber umso beharrlicher. Er spielt nicht um größere Geldsummen, die seinen Haushaltsplan irgendwie störend beeinflussen könnten, sondern ist völlig zufrieden, wenn sich Gewinn und Verlust so ungefähr die Wage halten. Denn er spielt im Gegensatz zu dem „Gambler“, der des Gewinnes wegen spielt, nur „zu seinem Vergnügen“. Am liebsten sind ihm ständige Partien zu festgelegten Stunden, auf die er sich den ganzen Tag stillvergnügt freuen kann, oder deren einzelne Partien ihm für einen großen

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Teil des nächsten Tages Stoff zu angeregten Unterhaltungen darüber geben, was geschehen wäre, wenn sein Partner, der natürlich immer schlechter spielt als er selbst, nicht den und den Fehler gemacht hätte; denn die durch das Kartenverteilen eintretenden Pausen genügen selbstverständlich nicht, alle Möglichkeiten, die hätten eintreten können, zu erschöpfen. Neben den regelmäßigen Partien ist er bei dem geringsten Anlaß auch ohne viel Bitten für Extrapartien zu haben; denn er ist ja „kein Spielverderber“. Ein Philister ist das nämlich niemals und er bildet sich nicht wenig darauf ein
Das schriftliche Festlegen aller Spielregeln ist ihm geistiger Genuß. Skat- oder Bridgeturniere können für Tage, ja Wochen sein ganzes Interesse in Anspruch nehmen. Ein Beisammensein unter Freunden, ein vielleicht durch starke Arbeit redlich erworbenen Feierabend oder Feiertag ist ihm ohne Kartenspiel undenkbar. Ihm ist im Falle der Not jeder, ihm sonst noch so unsympathische Mensch recht, wenn er nur Karten spielen kann. Und er mißt seine kriegerische Tapferkeit und Unerschrockenheit vor allem daran, daß er in Tsingtau während des Bombardements in aller Ruhe einen Grund ohne Vieren gewann
Nicht jeder Philister spielt Karten, aber jeder Kartenspieler ist auf dem besten Wege, ein echter Philister zu werden, der später, wenn er Junggeselle bleibt, jahraus jahrein seine freie Zeit zum Kartenspielen verwendet, bis man ihn eines Tages unter großer Teilnahme aller seiner ehemaligen Partner zu Grabe trägt, oder der sich als Ehemann zunächst einmal ausbittet, daß er mindestens

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zwei Abende in der Woche in seinem Skat- oder Bridgeklub zubringen darf und der es an den übrigen Abenden geschickt so einrichtet, daß auch bei ihm zu Hause ein kleines Partiechen stattfinden kann, und dessen Söhne vielleicht einmal dankbar und stolz darauf hinweisen, schon ihr „seliger“ Papa habe ihnen als Jungen all diese Tricks in Skat und Bridge beigebracht
Sehen wir weiter. Da sind gleich zwei verschiedene Typen. Der Feinschmecker und der Freund des Bacchus. Beim Feinschmecker und seinem etwas minderwertigerem Bruder, dem Vielesser, treten alle sonstigen Interessen – die durchaus nicht zu fehlen brauchen – hinter denen des Magens zurück. Sie sind zu den größten Anstrengungen fähig, wenn sie dadurch ihrem Gaumen gewünschte Genüsse zuführen können. Denn „Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen“. Ihre schönsten Erinnerungen gipfeln in lukullischen Gelagen, ihre Unterhaltungen sind dann am lebhaftesten und feurigsten, wenn es um die Schilderungen von Spezialgerichten geht, ihre namentlich beim Essen im allgemeinen unerschütterliche Ruhe kann bedenklich aus dem Gleichgewicht geraten, wenn durch Unachtsamkeit oder Mißgeschick ein erwarteter Magengenuß zu entschwinden droht. Ob sie Junggesellen bleiben oder Ehemänner werden, hängt im allgemeinen davon ab, ob die weibliche Gestalt, deren Kochkunst sie gefangen nimmt und entzückt, als Köchin gewonnen werden kann oder zur Ehefrau gemacht werden muß. Lassen sie sich aber unglücklicherweise in einem schwachen Moment bei der Wahl einer Gattin durch andere als Koch- und Magengründe bestimmen, wehe ihnen. Ihr unbefriedigter Magen läßt sie zum bärbeißigen Haustyrannen werden, die Frau und Kinder das Leben schwer machen

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Dem Freund des Bacchus, der in den krassesten Typen allerdings schon an der Peripherie des Philisterkreises liegt und bedenklich zur Boheme neigt, geht hier in Kokaido eine Flasche Bier über alles. Ihm fällt die Gefangenschaft mit ihren Alkoholbeschränkungen am schwersten und er sinnt Tag und Nacht, wie er sich den nötigen Stoff zu seiner „Bettschwere“ beschaffen kann. Er faßt die kleinste Gelegenheit am Schopf, einen zu „haben“. Er nimmt auch alle möglichen Nebenumstände mit in Kauf, sei es nun Frühstück oder Abendessen, Geburtstagsfeier oder Bridgepartie, langweilige Unterhaltung oder unangenehme Gesellschafter, wenn er nur am Ende sicher zu seinem Alkohol kommt. Ja, wenn z.B. eine Geburtstagsfeier längst der Vergangenheit angehört, feiert er auf eigene Faust noch ein oder zwei Tage weiter. „Noch ist ja die blühende, goldene Zeit.“ Ist das Bier einmal ganz verboten, muß man ihm in weitem Bogen aus dem Wege gehen. Dann ist er „grantig“ und sieht alles schwarz in schwarz. Aus ihm wird der sogen. „Bierphilister“, der, ohne ein eigentlicher Trinker zu sein, doch nur für den Alkohl lebt
Weiter. Da ist der Mann, der alles studiert. Er schwärmt an zwei Abenden der Woche für Literatur und liest daneben in seiner freien Zeit mit glühenden Augen und heißem Kopf die Kriegsschmöcker von Skowronnek oder die Kriegsgreuelnovellen aus den Sonntagsblättern der deutsch-amerikanischen Zeitungen. Er wählt nach spannenden Titeln seine Bücher aus der Bibliothek, denn außer „Joete“, „Schiller“ und den paar Namen, die aus den Literaturabenden hängen blieben, kennt er keine Autoren. Erwischt er aus Zufall mal ein gutes Buch, liest

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er es entweder gar nicht aus - es ist „verrückt“ – oder es macht keinen größeren Eindruck auf ihn als andere auch
Er arbeitet in Geschichte und macht die dicksten Auszüge aus den dicksten Büchern. Aber das große Kapitel, das augenblicklich durch die europäischen Heere in die Geschichte eingegraben wird, interessiert ihn nur in mäßigem Grade. Wenn’s nicht gleich 100.000 Gefangene gibt „wieder mal nichts Neues“
Er würde am liebsten alle Sprachen auf einmal betreiben, wenn es ginge, jedenfalls tut er sein Möglichstes und unter vier bis fünf gehts sicher nicht ab. Und er wird unglücklich und unruhig, wenn irgendwo jemand etwas Neues unternimmt. Am liebsten wäre er überall dabei und er tut mit, wo er es irgendwie ermöglichen kann. Daß er bei jedem Neuen etwas Altes aufgeben muß, kümmert ihn wenig. Aus ihm wird die Philisterspecies der „Allerweltswisser“. Ein für seine Nebenmenschen nicht sehr angenehmer Typ. Denn er hat fast überall einen oberflächlichen Einblick gewonnen und redet mit überlegener Miene über Sachen, die oft Fachleuten noch nicht spruchreif erscheinen
Sein Gegenstück der Fachsimpler, ist noch wenig vertreten. Er bildet sich wohl erst in späteren Lebensjahren so recht aus
Ich will nur noch einen herausgreifen aus der Gestaltenfülle werdender Philister. Es möchte mir vielleicht allzu übel ergehen. Ich meine den Typus des „Kanne¬gießers und Bierbankpolitikers.“ Er glaubt alles, was die Nachrichten bringen. Er schreit Hurrah, wenn ein

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örtlicher deutscherErfolg gemeldet wird und sieht das Kriegsende in greifbarer Nähe. Wehe, wer ihm dann widerspricht. Er gilt ihm als Schwarzseher oder gar Landesverräter. Meldet aber Reuter die unwahrscheinlichsten Erfolge der Alliierten oder ist irgend ein deutscher Vormarsch aus uns unbekannten Gründen zum Stillstand gekommen, oh weh, dann schlägt er um. Dann klappern seine Gebeine und mit sorgenvoller Miene geht er umher, spricht von ewigem Krieg, zu großer Macht der Gegner und mit Kennerblick donnert er alle andersdenkenden mit der Bezeichnung „urteilsloser Optimist“ nieder. Karten hat er dabei nie gesehen, die Depeschen nur flüchtig gelesen
Das gilt später den Bülow’schen „Nichtwählertypus“, bei dem es einzig darauf ankommt, wessen Rede er zuletzt hört. Den wählt er dann nämlich, falls er nicht die ganze Geschichte verschläft
Nun wähle jeder selber, zu welchem Typus von werdendem Philister – sein Nebenmann gehört
Gallicus

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Die Literarischen Vorträge im Kokaid

im Winter 1915 – 1
(Sees. Bohner)
haben so viele Anregungen gegeben, daß der Wunsch nach einer kurzen Übersicht des Gedankenganges geäußert worden ist. Der Vortragende hat daher eine solche Übersicht zusammengestellt, und die Schriftleitung hat sie vervielfältigt. Diejenigen, die einen Abzug zu besitzen wünschen, bitten wir, sich an Vzw.d.R. Goldschmidt zu wenden.

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Theater und Musik

Der FastnachtsDienstag brachte uns in Yamagoe wieder eine kleine Theater-aufführung, diesmal den ersten Versuch, die heitere Muse zu Worte kommen zu lassen. Zur Darstellung gelangte Hans Sachsens Fastnachtsscherz: „der fahrende Schüler im Paradies“, eingeübt von Untffz. Hagemann und gespielt von den Gefr. Brinker und Fehr und dem Pion. Röllgen, Sees. Bieber als Narr verkündete, daß er „von seinem Wein uns eine uralte Flasche einschenken“ wolle und begleitete das Spiel weiterhin durch einige Verse, in denen er die fehlenden Dekorationen durch eine anschauliche Schilderung der zu denkenden Schauplätze der Handlung ersetz¬te. So ging der alte und doch immer wieder jugendfrischtreuherzig anmutende Scherz an uns vorüber und mahnte uns, um mit den Worten des Narren zu reden:
Keine eitele Kunst ist’s traun
Mit Lachen ins ernste Leben zu schaun
Zwei Reuter’sche Gedichte, „de Meckelbörger“ und „de Gaushandel“, die Untffz. Hagemann vortrug und ein kölnisches Karnevalslied, das Pion. Röllgen flott und wirksam vortrug, schlossen sich an. Das ganze wurde umrahmt von dem Spiel unserer tüchtigen Musikkapelle. Allen Mitwirkenden herzlichen Dank, nicht zum wenigsten auch unserem Musikmeister Untffz. Schulz unter dessen Leitung unser Orchester einen immer reicheren Spielplan und immer größere Fertigkeit entwickelt. Das bewies uns auch wieder das Konzert, das uns am vorigen Sonntag Nachmittag erfreute. Es waren durchweg neun Musikstücke, die uns hier geboten wurden. Der Brautchor aus dem „Lohengrin“ und das melodienreiche Potpourri aus Flotows Oper „Martha

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ernteten besonderen Beifall, und hoffnungsreich verließ uns das Schlußstück: „In der Heimat, in der Heimat, da gibts ein Wiedersehen.“ So gehen wir getrost in die Fastenzeit, für uns auch insofern eine Fastenzeit, als das Ausbleiben der Telegramme des Deutschen Überseedienstes unsere Speisung mit Nachrichten aus der Heimat künftig noch kärglicher machen wird. Wir werden uns in diese Entbehrung aber gern hineinfinden in dem Bewußtsein, daß auf jede Fastenzeit ein Ostermorgen folgt, und daß die Erfolge der Unsrigen ihren ruhigen Fortgang nehmen, auch wenn wir sie nicht immer gleich ausführlich erfahren

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Heitere Zeitungsschau

Im „Manchester Guardian“ vom 28.10. schreibt der englische Admiral a.D. J. Moresby über die Frage einer künftigen Seeschlacht
Müssen wir uns noch einmal der fürchterlichen Gefahr, aus der wir durch Gottes Vorsehung gerettet worden sind, unterziehen? Verlangt das Ansehen unserer Flotten noch einen weiteren Beweis? Ich denke nein! Ich meine mit Admiral Sir Bowden Smith und vielen anderen hervorragenden Seeoffizieren, daß unter allen Umständen die nächste Seeschlacht, von der das Schicksal Englands und der Welt abhängen wird, an unserer eigenen Küste stattfinden muß. Der Feind soll uns aufsuchen. Unterdessen halten wir unbestritten die Herrschaft zur See
(Osnabrücker Zeitung vom 9.11.16.)
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