Lagerfeuer

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II.Jg. Lf. No. 5. Matsuyama, Sonntag, den 4. Februar 1917

Mit dem Auto in Tsingtau.

Viel war es nicht, was ich am Tage vor dem Ablauf des Ultimatums von der Automobil-Abteilung vorgefunden hatte; aber „sie“ war ja auch erst in der Bildung begriffen und einen völlig neuen Truppenteil aus der Erde zu stampfen war auch in Tsingtau mit mehr denn nur einer Schwierigkeit verknüpft. Knapp zehn Fahrzeuge hatten sich unter dem Mattenzelt an der langsam nach dem Bismarckberg anstei-genden Straße „verankert“, als ich am frühen Nachmittag des 22. August, durch einen Telephonspruch aus meinem zuerst von Gouvernement, dann von der Kom¬pagnie erteilten Urlaub heraus gerissen, beim „Großen Hauptquartier“, bei den Kasernen des Bataillons, mit meinem Wagen mich eingefunden hatte.
Weitere Autos aber stellten sich Tag für Tag ein,teils aus Privatbesitz, teils aus den Schuppen der Fuhrunternehmer hervorgegangen, aber alle waren sie vertraute Gesellen, die schon so manche herrliche Fahrt in die Berge zusammen gemacht hatten. Und so hatten sich dann etwa zwanzig Personenwagen, drei Motorräder, vier Lastautos – eine Thornycrooft- Maschine mit Bestimmungsort Tientsin war einem der im Hafen liegenden Schiffe entnommen worden – und ungefäher ein viertelhundert Köpfe unter Oberleutnant S. zur Abteilung vereinigt. Bunt zusam¬men¬gewürfelt, wie überhaupt die ganze Festungsbesatzung war auch in ihr die Gesellschaft. Nur vier aktive Soldaten waren von ihren Kompagnien kommandiert, der Rest hatte sich aus Reserve, Ersatz-Reserve, Kriegsfreiwilligen, Landwehr und Landsturm zusammengesetzt

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und Dienstgrade waren vertreten vom Seesoldaten und Matrosen-Artilleristen über den Unteroffizier zum Vizefeldwebel hinauf. Berufsautomobilisten nur zweie, alle andern mehr oder weniger geübte Gelegenheitsfahrer: Kaufleute aus Tsingtau, Shanghai und Japan, ein Schiffsoffizier a.D. der H.t.L., Konsulats- und Bank-beamte, Warenhausbesitzer und Bauunternehmer, ein Kriegsfreiwilliger, der erst vor Kurzem in der Heimat sein Abitur gemacht und seine in der Kolonie lebenden Eltern besucht hatte, ein ehemaliger Staatswissenschaftler der von seinem irgend-wo im Teutoburger Wald ansässigen alten Herrn auf eine Weltreise geschickt und in Yokohama vom Kriegsausbruch überrascht worden war, und endlich waren uns in den nächsten Wochen noch zwei Tsingtauer Jungstürmer, die sich als Fahrer hatten ausbilden lassen, überwiesen worden, der eine 14 jährig, um wenige Jahre älter der andere.
Reich an Abwechslungen gestaltete sich der Dienst. Einige Wagen waren dem „Roten Kreuz“ zugeteilt und hatten bereits ihre Gefechtsstationen zugewiesen erhalten – die ständig bei den Lazaretten und Hilfslazaretten kommandierten Autos zählten nicht zur Abteilung – andere waren verschiedenen Kommando- und Dienststellen wie O.M.D., Det. Major Kleemann und Det. Major Anders, sowie Artillerie-Depot usw. überwiesen, wieder andere hatten Munition und Proviant zu befördern; ein Wagen stand zur ausschließlichen Verfügung des Landfronten-Kommandeurs und seines Stabes, der Rest machte „wilde Fahrt“.
So konnte denn bald das lustige Fahren beginnen! Von morgens bis abends waren wir, „draußen“ und durchs ganze Schutzgebiet gings von einem Flügel zum andern,

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durch die Täler des Lauschans, von der Bucht bis hinüber nach Schatzykou am offenen Meer. Über Tsangkou, Koutapou nach Litsun und weiter nach Kouyai und Talaukuan. Die Walderseehöhen wurden erklettert und auf jämmerlich steinigen Wegen Schantungtou erreicht. Bis der große Witterungsumschlag kam, Regen, unheimlicher Regen bannte uns einige Tage ans Mattenzelt, von dessen Wänden die grasgrüne Wasserfarbe herabrieselte, mit welcher man den provisorischen Schup¬pen zum Schutze gegen Flieger, angepinselt hatte, und grün getupft waren die Karosserien der roten, blauen, grauen und schwarzen Protos-, Apollo-, Benz-, Stoewer-, Opel-, Loreley-, Hup- und Orerlandwagen. Dann aber als die wolken-bruch¬artigen Güsse wieder versiegt waren, gings von Neuem ans Werk. Dicke Bohlen als Notbehelf zur Überquerung aufgerissener Straßen und Wege wurden auf den Radiatoren festgeschnallt und dort, wo einst Furten durch die Bette der Litsun- und Tschangtsun-Flüsse geführt hatten, versanken jetzt die Wagen bis über die Achsen im Wasser und kämpften sich durch die Fluten zum jenseitigen Ufer hinüber. –
Patrouillenzusammenstöße und Gefechte an der Grenze kamen: Wali, Hotung¬pass und Mecklenburghaus und mit der Kriegsbeute vom Kletterpass – japanische Mäntel, Tornister, einer Trompete und vielem anderen – kehrten wir am Abend des 23. September von Hsiaho zurück.
Taschan und Kuchan folgten. In Litsun angehäufteMunition der Feldartillerie mußte in der Nacht nach der Festung zurückgebracht werden. Und am hellen sonnenklaren Morgen fuhren die Sanitätsautos mit wehender, grelleuchtender Genfer Flagge zum erstenmal unter feindlichem

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Geschützfeuer mit Verwundeten zur Stadt. Befehle und Meldungen galt es für die detachierten Wagen zu vermitteln. Automobile und Motorräder flitzten über die Straßen, aus der Gefechtslinie zu ihren Kommandostellen und mit neuem Auftrag unter Granat- und Schrapnellregen durch, zurück in die vorderste Stellung.
Weit enger aber war der Kreis der Betätigung gezogen, als am 28. September der eiserne Ring um Tsingtau sich vollig geschlossen hatte. Doch die nächsten Tage der Ruhe taten auch einem großen Teil unserer Fahrzeuge recht not. Trotz der man-cher¬lei Strapazen, denen sie während der bewegten Wochen ausgesetzt gewesen waren, hatten sich zwar die Wagen immer noch wacker gehalten, aber dennnochgabs in der inzwischen ins Leben gerufenen Reparaturwerkstätte Arbeit in Hülle und Fülle. Die Bereifung mußte erneuert, Zündkerzen ausgewechselt, Vergaser gereinigt und in einigen Fällen die ganze Maschine überholt werden. Nur um einen Wagen hatte sich bis dahin unser „Geschwader“ verringert. Ein Kühler war in Fetzen gefahren und die Diagnose bei der Untersuchung lautete: Unter den momentanen Verhältnissen nicht wieder herstellungsfähig, daher – – – – D.U.“! Und mit dem Auto hatte dann natürlich auch sein Fahrer ausgedient.
Konnte man auch in der ersten Zeit nach der Einschließung noch tagsüber unterwegs sein, so mußte nun, nachdem sämtliche Straßen außerhalb des Stadtgebietes vom gegnerischen Beobachtungsstand auf den Prinz-Heinrich-Bergen eingesehen werden konnten, der größte Teil unserer Tätigkeit auf die Abend- und Nachtstunden verlegt werden. Vormittags waren wohl noch die hinter den Bergen versteckt

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liegenden Batterien, abends aber die vorderen Werke und Stellungen an der Reihe. Und so fuhr ich selbst dann Tag für Tag um 6 Uhr etwa hinaus. Auf der Paßhöhe beim Artillerie-Depot verlöschten die strahlenden Scheinwerferbündel und weiter gings mit abgeblendetem Wagen in das schummerige Dämmern hinein. Beim Schützengraben am Watt wurde begonnen; hinter den Werken führte die Fahrt auf schmalen Verbindungswegen nach I.W. 1 und bei Tschan-Tschan wurde das Auto wieder heimwärts gelenkt.
All die langen Stunden bis zur Wiederabfahrt saß man dann in den düsteren Kellerstuben, die ehemals als Kohlenräume gedient oder die Werkstatt irgend eines eingeborenen Handwerkers gewesen sein mochten. Anläßlich der ersten Beschie¬ßung von See aus – als das „Große Wandern“ begann, – waren auch wir Auto¬mobilisten umquartiert worden in Räume, die wenigstens gegen Splitterwirkung gesichert sein sollten. Langgestreckt wie ein Küchenhandtuch war unsere „Hölle“. Vor dem einzigen winzigen Fensterchen türmten sich Sandsäcke zum Haufen und hinter dem in einer mit Decken verhängten Ecke stehenden Dampfkessel des früheren Baderaums pipsten unzählige Ratten die Begleitung, wenn aus dem riesigen Trichter des Grammophons die herrlichen Cellosoli a.d. „Madonne Butter¬fly“ durch den Tag und Nacht von einer einzigen Lampe spärlich beleuchteten Raum klangen. Bis der Abend herabsank, schrill der Fernsprecher in der Ecke sich meldete und einer nach dem andern Fahrer an seinen Wagen rief.
Und dann kamen die letzten Kampftage heran.

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Ein großen Teil der Wagen hatte uns verlassen, und war ständig bei den außerhalb liegenden Verbandsstellen stationiert. Der Kreis beim abendlichen Appell wurde immer kleiner, schwächer das vom Bataillonsschreiber in das Dunkel gerufene: „Fahrer!“ – Und schwerer das Ausführen der Befehle. Von Granaten aufgerissen waren die Straßen und mit äußerster Vorsicht ging es durch die rabenschwarze Nacht, die nur erhellt war durch krepierende Granaten und platzende Schrapnells, mit welchen die Japaner die Wege planmäßig unter Feuer hielten. Eisern das Steuer umklammert fuhr man unter dem Hagel durch. Die Explosionen der klei-neren Kaliber waren kaum zu hören, nur wenn das Zischen und Krachen allzu vernehmlich wurde, gab man seiner Maschine Vollgas und fegte mit äußerster Kraft aus der gefährdeten Zone heraus.
Wohl hielt man darauf, daß nach Möglichkeit die Feuerpausen ausgenutzt werden sollten, aber unberechenbar wie sie nun einmal waren, ließ es sich doch nicht vermeiden, daß man hin und wieder in das schönste Streufeuer hineingeriet. Stand der Mond am Himmel, dann zogen sich die menschenleeren Straßen wie selberhelle Streifen durch den Abend hin und das Fahren ohne Licht bot keinerlei Schwierigkeit. Großen schwarzen Schatten gleich hoben sich die Granatlöcher von der Fahrbahn ab und konnten mit kaum verminderten Tempo umsteuert werden. Mit voller Fahrt aber gings dann wieder weiter bis zu einer Deckung, die den Wagen den Nachtgläsern der gegnerischen Beobachter entzog. Für mich war dies gewöhn-lich die Eisenbahnbrücke bei Batterie XII oder Taitungtschen, das straßenweise in Trümmer zusammengeschossen war.

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Unablässig schlugen am Abend die Granaten ins Dorf und krachend flogen die Hütten auseinander. In einem einigermaßen geschützten Winkel hatte der Wagen seinen ständigen Unterschlupf gefunden, und einsam und verlassen stand er in dem brüllenden Getöse, bis sein Fahrer aus den Stellungen wieder zurückkam, und ihn in brausender Fahrt nach der Stadt zurückbrachte. Dunkel lagen die Straßen-züge und ganz vereinzelt nur drang der Schein einer Petroleumlampe aus den verhängten Fenstern der wenigen noch bewohnten Häuser.
Sturmnacht! Die Telephonverbindung mit den Werken war unterbrochen und mit den wenigen Pionieren, die dazu ausersehen waren, die Strippen so rasch zusammenzuflicken, wie sie zerschossen wurden, war ein Ding der Unmöglichkeit. – Hinaus an die Feuerlinie, so weit wie irgend möglich! war mir als Ziel der Fahrt genannt worden. Wieder lag ein fürchterliches Artilleriefeuer über den Straßen und der Versuch, zwischen Moltke- und Bismarkberg durchzukommen, mußte als aussichtlos aufgegeben werden. Also am Lazarett und Verpflegungsamt vorbei! Auf dem Observatoriumsberg jagte die Feldbatterie ihre letzte Munition aus den Rohren und krachend krepierten rechts und links der Straße die gegnerischen Granaten, die ihr galten. Klatschend bohrten sich Blindgänger in die Erde des Hsiaupautau-Tals und bellend zersprangen mit einem viel zu hohen Brennpunkt die Schrapnells über dem nach der Frobelhöhe dahinsausenden Fahrzeug. Lautlos beinahe jagten wir über den Moltkeplatz; an einem gedeckten Plätzchen wurde der Motor abge¬stoppt und wenige

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Minuten später standen wir auf dem Lahnkörper, wo der Schienenstrang nach dem Hinterland führt. Vor uns lag das ganze Gefechtsfeld bis hinüber nach I.W. 2. Leuchtkugeln und Sternsignale zogen ihre Bahnen, die Gegend taghell beleuchtend und Scheinwerfer, soweit sie noch nicht dem Artilleriefeuer zum Opfer gefallen waren, huschten tastend über das Gelände hin. Infanterie- und Maschinengewehr-feuer rasselte und heulend und pfeifend flogen die Granaten und Schrapnells durch die pulvergeschwängerte Luft. Was wir sehen wollten und mußten, um berichten zu können, hatten wir gesehen und: „Heftiges Artilleriefeuer auf die ganze Werklinie und Infanterie- und Maschinengewehrfeuer aus der Richtung des I.W. 4!“ lautete die Meldung nach unserer Rückkehr. Etwa anderhalb Stunden später befand sich I.W. 3 in den Händen der Japaner und am frühen Morgen hatte Tsingtau seinen Todeskampf ausgekämpft! –
Als die Übergabeverhandlungen in Fluß gekommen waren, wurde eine Anzahl Automobilisten den einzelnen Kommissionen als Fahrer überwiesen. Noch neinmal ging die Fahrt in die Werke und Batterien und schließlich standen wir einige Tage nach dem Fall der Festung auf den zerschossenen Wällen von Huitschien-huck und schauten mit hinaus über die See. Unzählige kleine Fahrzeuge suchten nach Minen, um eine Rinne für größere Schiffe freizumachen. Langsam, Meter für Meter, schoben sie sich über das verseuchte Wasser vorwärts. Dumpfes Knallen der zur Explosion gebrachten Miene hallte herüber zum Land und plötzlich

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tauchten über der leicht gekräuselten Einfahrt zur Bucht Trümmer und Menschen¬leiber auf in einer hochaufgewirbelten Wassersäule – – – – ein Minensucher war krachend in die Luft geflogen.
Beutegierig stürzten sich zwei Japaner nach unserer Rückkehr auf meinen Wagen und ob ich wollte oder nicht, ich mußte ihn auf den weiten Kasernenhof steuern und am linken Flügel der langen Kette bereits aufgestellter Fahrzeuge aufmarschieren. An den Steuerrädern waren sie alle mit einander festgebunden und mit Argusaugen wurde der für Tsingtauer Verhältnisse immerhin recht stattliche Park bewacht. Aber nicht nur die demselben angehörenden Wagen wollten die „Sieger“ haben, sondern alle Kraftwagen in der Stadt, auch jene, die nicht zu Kriegszwecken herangezogen worden waren. Und als dann unter Polizei¬hauptmann einem japanischen Offizier auseinanderzusetzen versuchte, daß die nicht zur Stelle sich befindlichen Fahrzeuge als Privateigentum doch gar nicht in Frage kommen könnten, meinte dieser kurz und bündig: „Die Deutschen machen es ja in Belgien ebenso!“ – Na, der mußte es ja wissen.
Zum allerletzten Mal hatten wir dann das Steuerin der Hand, als wir am 14. November mit 10 Wagen das Gepäck des Gouvernementsstabes nach Schatzykou brachten. Ein einziger japanischer Offizier im Spitzenwagen bildete die Bewachung und in weit auseinandergezogener Kolonne ging es über all die so vertraut gewordenen Straßen hin, vorbei an zahlreichen Gräbern Gefallener, durch die

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kleinen zerschossenen Dörfer, über notdürftig wiederhergestellte Brücken bis nach Litsun. Trümmer, überall Trümmer, Mauerreste, teils von der Beschießung durch unsere Kanonen, teils noch von der Überschwemmung herrührend. Tunglitsun wurde passiert mit seinen ungeheuern Stapelplätzen von Kriegsvorräten, seinen Munitionslagern und Geschützwerkstätten und dem umfangreichen Rangier¬bahnhof der durchs ganze Schutzgebiet sich hinziehenden Geleise der Feldbahn. Und dann, etliche Kilometer weiter, erinnerte nichts mehr an den Krieg. Friedlich gingen die Bauern ihrer Feldbeschäftigung nach und nur selten begegneten wir einzelnen Japanern, bis hinter dem Paß von Tschaiko die See auftauchte und die Bucht von Schatzykou. – Zwischen 7 und 8 Uhr langten wir wieder bei den Kaser¬nen an. So recht die passende Zeit um hinaus nach Taitungtschen zu marschieren, und sich dort in einer der nur halb zerschossenen Hütten ein Nachtquartier zu suchen. Aber wir glaubten, unsern Ohren nicht trauen zu dürfen, als unser Be¬gleiter in gebrochenem Deutsch wörtlich meinte: „Sie werden sehr müde sein, meine Herrn! Wann wollen Sie morgen hierher kommen um nach Taitungtschen zu gehen?“ Rasch hatten wir uns natürlich auf eine der mittleren Vormittagsstunden geeinigt und dann hinab in die Stadt. Lange aber noch wird mir dieser erste vernünftige Ausspruch eines Japaners im Gedächtnis bleiben!
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Nachrichten aus dem Lager
Kaisers Geburtstag im Lager Yamagoe.

Infolge der Bestimmung der Lagerbehörde, durch die Aufführungen und beson-dere Veranstaltungen irgendwelcher Art verboten waren, hielt sich unsere Kaiser-feier, wenigstens am Tage selbst in den einfachsten Grenzen. Wie jedes Jahr, so gelang es auch diesmal ohne Störung von außen am Vormittag das ganze Lager zu einem feierlichen Akt vor dem Offizierstempel zu versammeln, bei welchem Herr Major Kleemann mit einer kurzen Ansprache auf die Bedeutung des Tages hinwies. Ein donnerndes dreifaches Hurra auf unsern allerhöchsten Kriegsherrn vereinigte und bekräftigte all die Wünsche, die wir in dieser Stunde in die ferne Heimat sandten.
Das herrliche Kaiserwetter, das den ganzen Vormittag über geherrscht hatte, war der Beweggrund auch die Veranstaltungen des Nachmittags ins Freie zu verlegen. Leider aber verbarg sich am Nachmittage die jetzt so unentbehrliche Sonne hinter grauen Wolken, sodaß sich auf dem zum Festplatz erwählten Tennis- oder besser jetzt Faustballplatz Kälte und Nässe jetzt recht unangenehm bemerkbar machten und die Feststimmung ein wenig beeinträchtigten.
An der Spitze des Programms stand die vom Sängerchor unter Begleitung des Orchester vorgetragen „Neun deutsche Nationalhymne“ von Lubrich. Unter Sergt. Janssen“s Leitung und Mitwirkung folgte Turnen um Pferde, das mit einigen hübsch gestellten Pyramiden abschloß. Eine besondere Leistung bot unser schon so oft bewährtes und sich immer weiter

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vervollkommendes Orchester mit der Wiedergabe von Mozarts „Eine kleine Nacht¬musik“. Das entzückende und technisch sehr hohe Anforderungen stellende Kammermusikstück kam leider im Freien nicht so zur Geltung wie es im geschlos-se¬nen Raum der Fall gewesen wäre und war wohl auch für eine derartige Veran-staltung ein wenig zu lang, sodaß sogar schon manche ängstliche Zuhörer befürch-teten, es würde am Ende gar noch eine richtige Nachtmusik daraus. Auch würde es sich vielleicht bei diesem Stück empfehlen, wenn unser unermüdlich tätiger Dirigent die ohnedies etwas zu sehr hervortretende Clarinette zur Seite legen und nur den Taktstock schwingen würde, um auf diese Weise mehr auf die Spieler einwirken und so die Schönheiten des Werkes besser zur Geltung bringen zu können. Ein recht erfreuliches Bild boten die von Sergt. Janssen gut einstudierten und vorzüglich klappenden Stabübungen; derartige Vorführungen, die das uns Deutschen so sympatische militärisch Exakte mit dem Turnerischen verbinden, können immer auf Beifall rechnen und sind um so eindrucksvoller, je größer die Zahl der Mitwirkenden ist. Die „Wacht am Rhein“, Musikstücke und zwei Faust-ballspiele vervollständigten das anspruchslose Programm, mit dem wir uns aber gerne begnügten – Wußten wir doch, daß uns am nächsten Tage ein ganz beson-derer Genuß noch bevorstand, unsere eigentliche Kaiserfeier, über die wir an anderer Stelle berichten.
M.
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„Wallensteins Lager“ in Yamagoe.

28. Januar 1917.

In der langen Zeit unserer Kriegsgefangenschaft sind im Lager Yamagoe die Bretter, die die Welt bedeuten, nicht oft aufgeschlagen worden. Erst zweimal an Kaisers Geburtstag in den beiden vergangenen Jahren hatten sich die Mimen hervorgewagt und fast schien es, als ob wir dieses Jahr auf ihre Künste verzichten müßten, denn der unerforschliche Wille des Lagerkommandanten hatte jegliche Theateraufführungen am 27. Januar verboten – da fügte es ein glücklicher Zufall, daß die Schüler des Literaturunterrichts von Herrn Lt.d.R. Solger just bis zum 28. Januar so große Fortschritte gemacht hatten, daß sie eine Probe ihres Könnens vor der Öffentlichkeit ablegen konnten.
Zieht man einen Vergleich zwischen den drei theatralischen Darbietungen Yamagoes, so ist eine steil ansteigende Kurve unverkennbar. Das erste Jahr ein Liebhaberstückchen, das zweite Jahr zwei kleine Proben guter zeitgenössischer Dichtkunst, das dritte Jahr – Klassiker! Die Kurve macht der Geschmacksbildung in der Kriegsgefangenschaft alle Ehre und ist ein gutes Omen obendrein: denn was sollte noch nach unseren Klassikern kommen – für einen vierten Kaisers Geburts-tag in der Kriegsgefangenschaft ist eben einfach keine Möglichkeit mehr! Aber nicht nur in der Auswahl der Stücke, auch in den Leistungen der Schauspieler zeigt sich die aufsteigende Linie. Allerdings der Erfolg bei der Zuhörerschaft war bei allen Aufführungen groß, Dilettanten-Vorstellungen finden eben immer ein dankbares Publikum und immer viel Applaus. Dieser

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selbst kanndaher keinen sicheren Maßstab bilden für die Güte des Gebotenen, sondern man muß schon untersuchen, auf welche Weise die Herren Bühnen-künstler jedesmal Erfolg erzielt haben. Da finden wir nun erhebliche Unterschide. Das erste Mal erfreute man sich daran, daß man die Kameraden X und Y in mehr oder weniger unwahrscheinlichen Kostümen und in noch unwahrscheinlicheren Bewegungen auf der Bühne sich produzieren sah, das zweite Jahr klatschte man, weil man sich über all die lustigen Einfälle der Schuspieler amüsierte, dies Jahr galt der Beifall der hohen Kunst selbst, man sah nicht mehr die Kameraden X und Y auf der Bühne, sondern Wallenstein“sche Reiter, man vergaß über dem guten Spiel die Spieler – das höchste Lob für Schauspieler und Regisseur!
Dabei war es wirklich keine leichte Aufgabe, die Herr Lt. Solger seinen Getreuen gestellt hatte. Aber „es wächst der Mensch mit seinen größeren Zwecken“, und es war keiner unter den zahlreichen Jüngern der Kunst, der seiner Aufgabe nicht in vollem Maße gerecht wurde.
Ein Vorspielleitete die Vorstellung ein. Auf den leichten Schwingen seiner Dichtkunst holte Herr Lt. Solger die Zuhörer aus der Enge der Kriegsgefangenschaft heraus und trug sie, ohne daß sie es merkten, im Fluge hinauf zu den heiteren, stacheldrahtlosen Sphären der Kunst. Der Vorhang geht auf und wir sehen auf der Bühne – unter Spiegelbild: Kriegsgefangene beim Kartenspiel, beim Bücherlesen, beim Nichtstun, Menschen, die mit ihrem unverdient trüben Los unzufrieden

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sind, Menschen, deren Arbeitskraft und Arbeitslust schon durch den Anblick eines Wächters gelähmt wird. Da blitzt bei einem unter ihnen ein Gedanke auf. Wir wollen Theater spielen, wir wollen alle Gespenster verscheuchen und wollen uns erfrischen an dem lebensfrohen, ewigen jungen Soldatenstück Schillers „Wallen-steins Lager“. Der Funke zündet. Die Lebensgeister werden neu entfacht, die Ängstlichen und Bedenklichen werden von den Tatendurstigeren mitfortgerissen, und schon ist der Entschluß gefaßt: „Wallensteins Lager“ wird aufgeführt.
Nun reißt man sich um die Rollen. Einer will nur den Wallenstein selbst spielen, bis er über seinen Irrtum aufgeklärt wird, und der Literatur- und Geschichts-kundige unter den Kriegsgefangenen seinen jüngeren Kameraden erzählt, worum es sich in „Wallensteins Lager“ handelt. Nun verpflichten sich alle mitzutun und nach besten Kräften beizutragen zum Gelingen. Aufgeführt aber soll „Wallensteins Lager“ an Kaisers Gebrutstag werden, als ein Gelöbnis für alle Zeit ebenso treu zum Obersten Kriegsherrn zu stehen, wie die Friedländischen Reiter zu Wallenstein.
Nicht besser konnte das Publikum auf die Worte Schillers vorbereitet werden, als durch dieses trotz seiner einfacher Formen doch so poetische und gedankenreiche Vorspiel. Es wurde von Untffz. Hagemann, den Gefr. Kremer, Junker, Brundig und anderen aufs beste gespielt.
Nach kurzer Pause hob sich der Vorhang wieder und „Wallensteins Lager“ be-gann. In all den frischen, herrlichen Rollen des Stückes konnten unsere Musen-söhne nun erst recht ihre Kunst entfalten. Es ist nicht möglich

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einem von ihnen allein den Lorbeer zu reichen, sie verdienen ihn alle gemeinsam, denn kaum einer stand dem andern nach, und das Zusammenspiel war vorzüglich. Besonders anzuerkennen ist, mit welcher Sicherheit auch die langen schwierigen Rollen, wie die des Wachtmeister und Trompeters und die der Holkischen Jäger bewältigt wurden. Der erste Holkische Jäger (Gefr. Kremer) und der Trompeter (Sees. Sandrock) lebten in ihren Rollen, und es war eine ebenso große Freude sie sprechen zu hören, wie ihr Mienenspiel zu beobachten, wenn die andern sprachen. Der Wachtmeister (Untffz. Hagemann) war ausgezeichnet, höchstens hätte er den alten Feldsoldaten noch etwas wuchtiger gestalten können. Umgekehrt hätte dem frischen Spiel des zweiten Jägers (Gefr. Brück) gelegentlich ein kleiner Dämpfer nichts geschadet. Die dankbaren Rollen der Gustel von Blasewitz (Gefr. Krieger) und des Kapuziners (Gefr. Brinker) wurden ganz vorzüglich gegeben. Der bei aller Gutmütigkeit wackeren Marketenderin konnte man aufs Wort glauben, daß sie schon manchen Strauß erlebt und viel Länder und Leute kennen gelernt hatte. Der Kapuziner zog bei seiner famos vorgetragenen Strafpredigt ein so infames Pfaffen¬gesicht auf, daß man ihm schließlich die zugedachten Prügel von Herzen gönnte. Wie geschaffen für den ersten Kürassier war der Gefr. Junker mit seiner stattlichen Erscheinung und seinem wohlklingenden Organ, mit dem er vor allem auch den ersten Teilen seiner Rolle warme Töne zu verleichen vermochte. Der zweite Kürassier (Sees. Bieber) stand ihm wenig nach. Der Gefr. Brundig gab treffend den ehrlichen aber philisterhaften

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Arkebusier, während Gefr. Fehr seinen Kroaten mit viel Humor ausstattete. Unter den Vertretern der kleineren Rollen verdient Sees. Hebting ganz besonders hervor-gehoben zu werden, der aus dem besorgten Bürgersmann eine feine Charakter-studie machte. Ebenso wurde der betrügerische Bauer von Pion. Rölgen wirkungs-voll gegeben und Sees. Heizmann machte aus der Muhme Kind aus dem Reich einen so munteren Backfisch, daß ein Ahnungsloser wohl Zweifel an der geschlecht¬lichen Qualität des Darstellers hätte haben können. Endlich sei noch des Pion. Hornmann (Rekrut), Pion. Werner (Konstabler), Pion. Wels (Scharfschütz), Sees. Niermeier (Dragoner) und Sees Herms (Bauernknabe) gedacht, die alle wacker mitspielten.
Geradezu Erstaunliches wurde in Kostümen geleistet, die einfach aus dem Nichts geschaffen worden waren. Die besten Masken boten wohl die beiden „Einheimischen“: Mancher Intendant wäre wohl dem Sees. Sandrock dankbar, wenn er ihm das Rezept verriete, wie man ohne große Schwierigkeit und Kosten aus modernen Kakiröcken eine stilechte Trompeteruniform des 17. Jahrhunderts macht. Die prunkhaften Gewänder der noblen Holkischen Jäger sollen, wie uns glaubhaft versichert wird, die gewaltigen Unkosten von 47 Sen verursacht haben. Die von den Japanern gelieferten Socken haben wohl noch nie so gute Dienste geleistet wie hier, wo sie in ihre Bestandteile aufgelöst als weiße Straußenfedern die Schlapphüte der Grünröcke zierten. Daß die „echten Brüssler Spitzen“ der Jäger Neid erweckten, konnte man den Böhmen nachfühlen, die verbeulten Kürassier¬helme aber, aus bronzierter Pappe, hätten jeder Großstadtbühne Ehre gemacht.

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Der Kroat im Pelzrock und Pelzmütze erschien so echt, daß schon der Gedanke seiner Nähe die Zuschauer in Versuchung brachte sich zu kratzen. Ganz vorzüg-liche Masken boten ferner der Kapuziner, die Marketenderin, der Bauer, der Konstabler, der Arkebusier und die andern nicht weniger.
In der Dekoration hatt sich die Regie sehr geschickt unsern primitiven Verhält-nissen angepaßt. Insbesondere war ihr darin nur beizustimmen, daß anspruchslose einfach weiße Kulissen und Soffiten viel besser wirken als großartig in Eile gemalte Himmelsgewölbe, Landschaften und Wälder.
Bis in die letzte Ecke des Tempels Guganji standen die Zuhörer gedrängt. Unser einstiger „Verbrechertempel“ ist nun endgültig zum „Kunsttempel“ geworden, denn er bewährte sich ebensosehr als Spielhaus, wie kürzlich als Gemäldegallerie. Als ein Unzufriedener erklärte, er könne die Füße der Künstler nicht sehen, da wurde ihm von einem unserer bedeutendsten Schillerforscher im Lager mit Recht geantwortet, in „Wallensteins Lager“ käme kein Ballet vor! Kein Yamagoebewohner fehlte unter den Zuschauern, auch die Herren Offiziere waren vollzählig erschienen. Wie ein Sturm brach der Beifall los, als das Reiterlied verklungen war. Der Applaus galt all den tüchtigen Darstellern, er galt in erster Linie aber auch dem Regisseur, Herrn Lt. Solger. Ihm ist nicht nur zu danken, daß er den Gedanken „Wallensteins Lager“ zu spielen gefaßt und trotz aller Hindernisse durchgeführt hat, nicht nur, daß es ihm trefflich gelungen ist, die Darsteller so gut – auch in den schwierigen Massenszenen, -

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aufeinander einzuspielen, sondern vor allem, daß er es verstanden hat, seinen Schülern Liebe zu Schillers unsterblichem Werk einzuflößen, sodaß ein jeder mit Freuden sein bestes hergab, und die Aufführung von einer herzerqickenden Frische war. Und deshalb verkünden wir nicht nur Schillers Ruhm, sondern auch den der Aufführungsleistung, wenn wir sagen, wie es im Vorspiel heißt:
Gerade für dieser Tag
War dies ein Stück vom rechten Schlag! –
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Ergebnis des Faustballwettspiels Yamagoe.

Januar 1917.

Plätze MannschaftNr.Punkte Bälle
1. Untffz.Schulz,Krieger,Fehr,Albrecht 7 18 1071
2. Brück,Niemeier,Beckers,Kremer 1 12 1013
3. Sergt.Janssen,Faas,Ludwig,Neubert 6 12 765
4. Untffz.Blaschke,Untffz.Neuneier,Heizmann,
Denner
3 10 871
5. Bergau,Röser,Bruckmann,Ameter. 8 9 818
6. MeyerJos,MeyerChrist,Niermeier,Jähne 4 8 851
7. Probst,Sandrock,Brundig,Meyer O. 2 7765
8. Wichelhaus,Junker,Gottschalk,Büch 10 6 725
9. Welz,Pfotenhauer,Knobek,Brinker 5 4 696
10. Diebold,Schmidt(Sergt.Clauss)Fink,Meinsen 9 4 663
Die beiden siegenden Mannschaften (Untffz. Schulz und Gefr. Brück)wurden von Herrn Major Kleemann mit Preisen ausgezeichnet.
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Jahrestage des Krieges.

Januar 1915.
10. I.Heftige Angriffe der Franzosen in der Champagne.
12.13. I.Schlacht bei Soissons
22. I. Kämpfe in der Bukowina; Eroberung von Kirlibaba.
24. I. Seegefecht in der Nordsee; „Blücher“ gesunken.
26. I. Erfolgreiche Kämpfe bei Givenchy und bei Craonne. Heftige Angriffe der Russen bei Gumbinnen. Wiederoberung des Uzsok-Passes in den Karpathen.
EndeJanuar: Erfolgreiche Kämpfe der Türken im Kaukasus.

Februar 1915.
3. II.Ayesha in Hodaida eingetroffen.
6. II. Angriffe der Türken am Suez Kanal.
16. II. Ende der Winterschlacht in Masuren. Die Österreicher erobern Kolomea.
17. II. Die Österreicher erobern Czernowicz.
17. II. bis Anfang März. Schlacht in der Champagne.
18. II. Beginn des deutschen Unterseebootskrieges.
19. 25. u. 27. II. Beschießung der Dardanellen d. engl. u. franz. Schiffe.
22. II. Beendigung der Verfolgung der Russen: 100000 Gef. 300 Gesch.
25. II. Eroberung von Prasnysz.

Januar 1916.
8. I. Großer Erfolg am Hirzstein.
9. I.Räumung von Seddul Bahr. Gallipoli vom Feinde frei.
11. I.Beginn einer russ. Offensive im Kaukasus. Eroberung des Lowcen.
13. I. Cetinje besetzt.
16. I. Montenegro streckt die Waffen.

Februar 1916.
1. II. Eintreffen der „Appam“ in amerikanischen Gewässern.
10.11.II.Seegefecht an der Doggerbank; engl. Kreuzer „Arabis“versenkt.
20. II. Deutsche Garnison in Mora ergibt sich. Kamerun in Feindes Hand.
21. II. Die Russen erobern Erzerum.
22. II. Beginn der Kämpfe um Verdun: erster Vorstoß auf3 km in 10 km Breite.
25. II. Eroberung von Dorf und Feste Douaumont.
27. II. Durazzo erobert.

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