Lagerfeuer

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II. Jg. Lf. Nr. 4. Matsuyama, Sonntag, den 28. Jan. 17.

Kaiser's Geburtstag.
Ein Prolog

Laßt Festtag sein! Aus diesen engen Wänden
Fern in die freie-Weite lenkt den Blick!
Mit all' den Wünschen, die wir heimwärts senden,
fliegt auch der Geist zum Vaterland zurück.
Da steht das Kaiserschloß, von Licht umflossen,
Die Hohenzollernfahne weht vom Dach,
Grad wie im Frieden wird Salut geschossen
Und ruft ein hundertstimmig Echo wach,
Und durch das Land mit jauchzendem Frohlocken
Wie Friedensläuten gehen die Festesglocken.

Rings um das Friedensbild der Eisenrahmen!
Das Heer, im blut“gen Boden festgekrallt.
Und grüßend, jubelnd klingt der Kaisernamen
Hindurch vom Seestrand bis zum Wasgenwald,
Vom balt'schen Haff und von den Pripetmooren
Bis hin, wo der Karpathenrand sich dehnt,
Bis an die Donau, wo vor Galatz' Toren
Der schwere Mörser einlaßheischend dröhnt.
Ein Gruß von Siegesstolz und Mannentreue
Klingt alter Sang dem Kriegesherrn aufs neun:

Heil Dir im Siegerkranz!
Herrscher des Vaterlands,
Heil Kaiser Dir!
Fühl in des Throns Glanz
Die hohe Wonne ganz

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Liebling des Volks zu sein,
Heil Kaiser Dir!

Und er, dem all' das gilt, was mag er fühlen
Am heut'gen Tag beim Gruße seiner Treun?
Ein Leuchten mag um seine Züge spielen:
„Ich kenne nur noch Deutsche nicht Partein.“
Mir ward die Gnad': Zur Zukunft darf ich leiten
Das stärkste Volk auf diesem Erdenball.
Anrollen mag das grimme Rad der Zeiten,
Fest hält die deutsche Mauer überall,
Und fester noch, aufs deutsche Herz gegründet,
Hält jenes Land, das Volk und Fürst verbindet:

Nicht Roß und Reisige
Sichern die steile Höh!
Wo Fürsten stehn.
Liebe des Vaterlands,
Liebe des freien Manns,
Sichern den Herrscherthron
Wie Fels im Meer.

Heil! Herrscher, Dir! Heil uns! Wir sehen ragen
In stolzer Kraft die deutsche Kaiserpracht
Ins ew'ge Blau. Was will's daneben sagen,
Daß uns das Schicksal kümmerlich bedacht!
Und wenn uns heute enge Fesseln schnüren,
Der Tag kommt auch, der wieder löst das Land.
Er wird uns wieder in die Heimat führen
Zu stillem Kärrnerwerk fürs heil'ge Ganze,

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Das aus dem Blutbad steigt in neuem Glanze.

Handlung und Wissenschaft
Hebt dann mit Mut und Kraft
Ihr Haupt empor.
Krieger – und Heldentat
Finden ihr Lorbeerblatt
Treu aufgehoben dort
An Deinem Thron.
S.
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Über unsere Tätigkeit in der Kriegsgefangenschaft.

(Vortrag, gehalten am 7. Januar im Lager Yamagoe)
Die Jahreswende ist einer der geeignetsten und beliebtesten Zeitpunkte, nicht nur um sich über sein bisheriges Leben Rechenschaft abzulegen, sondern auch um gute Vorsätze für die Zukunft zu fassen. Es gibt bekanntlich 2 Arten von Vorsätzen, solche negativer Art, bei denen man sich vornimmt etwas zu lassen, und solche positiver, bei denen man sich etwas zu tun vornimmt. Über die erstere Art von Vorsätzen brauchen wir uns nicht weiter zu unterhalten; was wir alles lassen sollen, darüber wird von unseren Gefangenenwärtern schon mehr als genug bestimmt. Davon abgesehen, entspricht aber auch die andere Art von Vorsätzen, bei denen es sich um eine Tätigkeit handelt, weit mehr dem deutschen Charakter. So mag denn gerade die Jahreswende mit Rücksicht auf die bei dieser Gelegenheit zu fassenden guten Vorsätze eine günstige Gelegenheit sein, einmal in der Öffent-lichkeit von dem Problem zu sprechen, das wohl jedem Einsichtigen als

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das wichtigste und schwierigste des Gefangenenlebens überhaupt erscheint, als das Bedeutsamste nächst dem Essen und Trinken, nämlich von dem Problem unserer „Arbeit und Tätigkeit während der Kriegsgefangenschaft.“
Die Frage, die dies Problem stellt, läßt sich etwa folgendermaßen formulieren.
„Wie verwendet man die schier sich unendlich dehnende Zeit nutzbringend für sein späteres Leben? Was soll man anfangen und tun, um sich nicht später einmal bittere Vorwürfe darüber machen zu müssen, kostbare, unwiederbringliche Lebens¬jahre verschwendet, ja geradezu weggeworfen zu haben; und sind überhaupt die Möglichkeiten gegeben, sich auch in der Kriegsgefangenschaft in irgend einer Weise für seinen Beruf, für seine spätere Tätigkeit vorzubereiten und zu rüsten?“
Das Problem ist in seiner vollen Schärfe neu, die lange Dauer des Krieges hat es erst richtig ins Rollen gebracht. Seine Bedeutsamkeit beruht vor allem darauf, daß es weit über die Tage der Gefangenschaft hinaus in unser späteres Leben hinüber-greift, das es in guter oder schlechter Weise beeinflussen kann.
Über die Lösung des Problems besteht eigentlich kein Zweifel, kann bei einem so tätigen Volke, wie wir Deutsche es sind, gar kein Zweifel bestehen. In der Frage-stellung liegt eigentlich auch schon die Antwort. Jeder von uns fühlt, daß in den besonderen Verhältnissen des Kriegsgefangenendaseins ein schleichendes Gift, eine Art Betäubungsmittel verborgen ist, dem unter allen Umständen getrotzt werden muß, wenn nicht die unheimlichsten Zerstörungen an unseren geistigen und körperlichen Fähigkeiten aufkommen sollen;

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jeder fühlt, daß es nicht lediglich darauf ankommen darf, das Gespenst der Lange-weile von sich fern zu halten, sondern vor allem darauf, positiv nutzbringende Werte zu schaffen und auch aus dieser Zeit Kapital zu schlagen. Jeder weiß aber auch, daß das Allheilmittel gegen all“ diese widrigen Verhältnisse Tätigkeit und nochmals Tätigkeit heißt oder, um mit dem berühmten englischen Philosophen und Geschichtsschreiber Carlyle zu sprechen: „Arbeiten und nicht Verzweifeln!“ Schiller hat den gleichen Gedanken einmal sehr schön ausgedrückt, wenn er sagt: „Wir würden uns schämen, uns nachsagen zu lassen, daß uns die Dinge formten und nicht wir die Dinge.“
So ist die Lösung des Problems freilich einfach im Großen, aber desto ver-wickelter im Einzelnen.
An diesem Ergebnis kann auch jene kleine Minderheit nichts ändern, die in einer beinahe russisch anmutenden Hingabe an die sogen. „Macht der Verhält-nisse“ immer wieder die Folgen der Freiheitsberaubung und des engen Zusammen-lebens als Entschuldigung für jahrelanges Nichtstun ins Treffen führt. Man dürfte vielleicht dieser öfters wiederkehrenden Begründung eine gewissenhafte Prüfung nicht versagen, wenn-ja wenn der Gegenbeweis für den durchschnittlich Veran-lagten, – und von dem allein spreche ich – nicht täglich erbracht würde. Überemp-findliche und Ausnahmsnaturen finden in allen Lebenslagen Entschuldigungs-gründe, mögen sie nun frei oder gefangen sein. Darum sind es auch nur ganz weni-ge, die so oder ähnlich denken, und deren Gewissen so leicht zu beruhigen ist.
Die Masse jedenfalls hat bewußt oder unbewußt die richtige Lösung im Großen gefunden. Ob sie nun genau im Einzelnen das für sie richtige gefunden haben, das

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ist zunächst Nebensache; Hauptsache ist und bleibt, daß sie eine Antwort und damit eben nichts anderes als eine Tätigkeit gefunden haben. Dadurch allein schon läßt sich von ihnen sagen, daß für sie die Zeit der Gefangenschaft auf keinen Fall gänzlich verloren ist, denn sie haben ihrem unheimlichsten Gespenst, der Ermat¬tung und Energielosigkeit getrotzt. Wenn man sich der Bedeutung der Willenskraft als dem entscheidenden Faktor für die Gestaltung unseres ganzen Lebens bewußt ist und andererseits der systematischen Untergrabung eben dieser Willenskraft durch unser jetziges Dasein, dann liegt der ungeheuere Nutzen, den der selbst auferlegte Zwang zu einer bestimmten Tätigkeit auf die Erhaltung der Willenskraft ausüben muß, auf der Hand.
Wenn es auch, je länger die Gefangenschaft dauert, desto schwieriger wird ihren zermürbenden Einflüssen gegenüber auf der ganzen Linie Sieger zu bleiben, so ist doch gewiß, daß der Tätige sich einen bestimmten Kern von Pflichtbewußtsein und Willenskraft erhält, mit dem gewappnet er frischer und mutiger in die Friedens-arbeit hinaustritt, als derjenige, der sich mehrere Jahre seines Lebens hindurch nur ausgeruht hat. Es ist ein recht gefährlicher Trugschluß, wenn manche meinen, ein solch jahrelanges Ausspannen habe gerade den Vorteil, daß Körper und Geist sich später mit doppelter Frische wieder auf die Arbeit stürzen können. Mir scheint vielmehr die natürliche Folge zu sein, daß die menschliche Arbeitsmaschine bei so langem Stillstehen Rost ansetzt und nur schwer wieder in den früheren frischen Gang zu bringen sein wird. Und während wir einerseits, solange uns keine sicheren Erfahrungen über die voraussichtlichen

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Nachwirkungen der langen Gefangenschaft zur Verfügung stehen, wohl berechtigt sind, zu hoffen, daß sich bei all denen, deren Maschine stets, wenn auch mit halber Kraft in Gang geblieben war, der frühere Puls der Arbeit langsam aber sicher wieder einstellen wird, steht andererseits zu befürchten, daß sich bei jener – glücklicher¬weise geringen – Minderheit, die sich zu keiner ernsthaften und geregelten Tätigkeit aufraffen kann, unter Umständen ernste, ja vielleicht sogar dauernde Schädigun¬gen für ihr späteres Leben ergeben können. Von der nun gewonnenen prinzipiellen Erkenntnis aus, daß Tätigkeit das T und das O für uns Kriegsgefangenen bedeutet, führt nur ein kleiner, ganz selbstverständlicher Schritt zur Erweiterung und Vertiefung der eingangs gestellten Fragen. Nun gilt es zu prüfen:
„Wie soll denn diese unsere Tätigkeit aussehen? Soll sie in erster Linie körper¬lich oder geistig sein? Welche Gebiete sind hier erreichbar? Und lassen sich für das eine oder andere Gebiet bestimmte Richtlinien aufstellen?“
Auf den ersten Blick sehen wir zunächst ein recht großes Durcheinander von Tätigkeiten und Beschäftigungen; je nach Alter, Beruf, Anlage und Fähigkeiten, sind die Mittel und Wege, die eingeschlagen werden um über die lange Zeit mit Nutzen hinwegzukommen, recht mannigfach. Wir sehen aber auch gleichzeitig, – und dadurch wird das Problem erst schwierig – daß es den meisten von uns nicht möglich ist, in ihrem gewohnten Beruf hier weiterhin tätig zu sein, und daß alle diese Brotlosen auf andere Arbeitsgebiete gedrängt werden.

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Um da also klar zu sehen, und Übersicht zu gewinnen, müssen wir dies scheinbare Durcheinander zu entwirren suchen und nachher auf die Verhältnisse, so wie sie sind, eingehen.
Zwei Haupttätigkeitsgebiete lassen sich unterscheiden, die wir von Anfang an scharf aus einanderhalten wollen, nämlich die Gebiete der körperlichen und geistigen Arbeit.
Wenn wir uns zunächst dem Gebiete der körperlichen Betätigung zuwenden, sehen wir uns leider überall von engen und hindernden Schranken umgeben, die die freie Tätigkeit hemmen. Das ist um so schlimmer, als die meisten von uns vor dem Kriege gerade einen praktischen Beruf betrieben, sei es als Handwerker, Kaufleute, Berufssoldaten usw. Sie alle sind aus ihrer gewohnten Tätigkeit herausgerissen. In dieser Richtung läßt sich also kein positiver Nutzen von der Gefangenschaft erwarten. Der Weg ist und bleibt ungangbar. Das Einzige, was wir in körperlicher Beziehung hier tun können und unter allen Umständen tun müssen, ist, unser ganzes Bemühen darauf zu richten, daß wir uns Gesundheit und körperliche Spannkraft zu erhalten suchen. Dieses Bemühen steht keineswegs im freien Belieben jedes Einzelnen, sondern ist eine vaterländische Pflicht aller¬erster Bedeutung, ein Teil unserer Wehrpflicht im weiteren Sinne, die von uns verlangt, daß wir nach Friedensschluß imstande sind, unsere Kräfte möglichst frisch und unverbraucht wieder in den Dienst des Vaterlandes zu stellen. Arbeit und Leistung ist ja nur von gesunden Menschen zu erwarten.
Da die Japaner außer ihren üblichen nichtssagenden Reden nichts für unsere Gesundheit tun, als daß sie uns die frische Lust zur Verfügung stellen, müssen wir alles Übrige eben selbst dazu tun. Trotzdem es jeder weiß,

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kann nicht oft genug betont und wiederholt werden, daß uns glücklicherweise im Turnen ein ausgezeichnetes Mittel zur Verfügung steht, den Körper frisch und elastisch zu erhalten. Ein Mittel, von dem jeder, aber auch jeder Gebrauch machen soll und kann. Versäumnisse lassen sich hier nur schwer nachholen.
Förderlich für die Gesundheit ist es ferner, wenn man seinem Körper möglichst wenig Gifte zuführt, die bei unserer geringen Bewegungsmöglichkeit besonders schädlich wirken müssen. Was aber von vielen auf der einen Seite durch geringeren Alkoholverbrauch hier gut gemacht wird, wird auf der anderen Seite durch übermäßiges Zigarettenrauchen wieder redlich gesündigt.
Im Allgemeinen ist hier wenig mehr zu sagen, jeder weiß, was zu tun ist. Ich möchte aber mit Rücksicht auf die Vorfälle im letzten Sommer dieses Kapitel nicht verlassen, ohne nochmals ernstlich auf die schweren nicht selten lebenslangen Schädigungen derartiger Krankheiten hingewiesen zu haben. Deutschland braucht nach dem Kriege Kinder, Kinder und nochmals Kinder. Gesunde Kinder aber kommen nur von gesunden Eltern. Die Frage der unverminderten Bevölkerungs¬zunahme ist eine der allerwichtigsten für Deutschlands Zukunft. Sie wissen vielleicht, daß vor dem Kriege die Kurve des Geburtenüberschusses sich bereits in bedenklicher Weise auch bei uns in absteigender Richtung bewegt hat. Ein gesundes Volk muß aber wachsende Geburtsüberschüße haben. Wenn Deutsch¬land an Bevölkerung nicht zunimmt, dann wird es allein schon von den 170 Millionen Russen, die sich mit kaninchenartiger Geschwindigkeit vermehren, erdrückt.

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All’dies kann ich hier nur streifen. Soviel ist klar: Auf körperlichem Gebiete sehen wir eine starke Beschränkung der Berufstätigkeit, daneben aber den Zwang, das Ziel körperlicher Tücktigkeit nie aus den Augen zu verlieren.
Etwas verwickelter aber auch erfreulicher wird unsere Untersuchung, wenn wir uns nun dem anderen Hauptarbeitsgebiet, dem der geistigen Tätigkeit zuwenden. Es ist das Arbeitsgebiet, das sich in unseren Verhältnissen jedem, der eine Tätigkeit sucht, gewissermaßen von selbst anbietet. Ich glaube, daß wenn man in späteren Jahren einmal Kameraden die in aller Herren Länder in Kriegsgefangenschaft gewesen waren, nach dem charakteristischen Merkmal ihrer Gefangenschaft fragen wird, die Antwort lautet: „Die Schulbank.“ Nie mehr im späteren Leben wird sich fur (für) viele unter uns so günstige Gelegenheit bieten, früher Gelerntes wieder aufzufrischen und Lücken der Bildung und des Wissens aufzufüllen. In diesem Gebiet drängen sich nun aber auch alle diejenigen zusammen, die aus ihren früheren praktischen Berufen vertrieben, sich nach neuer Tätigkeit umsehen und zwar natürlich nach einer Tätigkeit, die auch für ihren praktischen Beruf von Nutzen ist.
Gerade sie, die bisher mit Hammer und Meißel gearbeitethaben, hört man immer klagen: „Was soll mir die Kriegsgefangenschaft für Nutzen abwerfen? Da es mir in meinem Berufe nicht möglich ist, mich hier zu vervollkommnen, sind im Gegenteil die Jahre der Gefangenschaft für mich völlig werloren!“
Zur Wiederlegung dieses Einwandes bedarf es nur der Untersuchung, ob sich nicht trotz aller Verschiedenheit der Lebensziele, der Berufe, der Anlagen und Fähigkeiten für

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jeden ohne Unterschied auf geistigem Gebiete Möglichkeiten ergeben, die Zeit der Gefangenschaft unter Ausnutzung der hier zu Gebote stehenden Hilfsmittel in ein reiche Früchte tragendes Kapitel umzuwandeln.
Muß denn überhaupt jede Tätigkeit, um für uns von Nutzen zu sein, gerade nur unmittelbare Berufsarbeit sein? Wenn es gelingt, nachzuweisen, daß dies nicht notwendig der Fall zu sein braucht, dann haben wir unserem Tätigkeitsdrang ein ungeheures Arbeitsfeld eröffnet, auf dem es nur not tut, sich nicht zu verlieren, sondern vor allem diejenigen Wege aufzufinden, die für die Masse der verschie-denen Berufe, auch für alle praktischen, von gemeinsamer besonderer Bedeutung und von Nutzen für die Zukunft sind.
„Das kann ich nicht brauchen“ ist die ständig wiederkehrende Äußerung jener begrenzten Leute, die nicht weiter als bis zur nächsten Ecke sehen können, mit der sie alles ablehnen, was sich nicht in unmittelbarste Verbindung mit ihrer Berufs-tätigkeit bringen läßt. Aber die Leute, die so sprechen, irren. Sie vergessen, daß jedes Lernen, jede geistige Beschäftigung auf irgend eine, wenn auch vielleicht nicht immer sofort erkennbare Weise fördert. Sie belohnt sich stets, wenn sie auch nicht immer gleich in bare Münze umzusetzen ist. Es wird keiner im Ernst glauben wollen, daß ein Handwerker z.B., der es im Leben vorwärts bringen will, gerade nur tüchtig tischlern oder schlossern zu können braucht. Er wird vielmehr um so tüchtiger in seinem Berufe sein, je besser seine Schulbildung und seine Kenntnisse auf anderen Gebieten sind. Gerade die heutige Zeit verlangt von einem Manne, der seinen Platz im Staate ausfüllen

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will, mehr als nur beschränkte Berufskenntnisse; sie verlangt ins besondere staatsbürgerliche Kenntnisse. Nicht immer ist gerade das Nächstliegende das Beste; ein scheinbarer Umweg ist auch die geistige Tätigkeit für alle diejenigen, die bisher praktisch tätig gewesen sind. Richtig muß also die obenangeführte Äußerung nicht heißen „dies oder jenes kann ich nicht brauchen“ sondern „alles kann ich brauchen!“
Nun haben wir schon ein festes Fundament unter den Füßen; auf dem sich weiter bauen läßt. Ich will kurz wiederholen, was wir bis jetzt festgestellt haben:

1) Tätigkeit muß sein.

2) Die körperliche praktische Arbeit scheidet so gut wie ganz aus. Hier ist kein Nutzen, sondern höchstens Erhaltung des Bestehenden zu erhoffen.

3) Geistige Tätigkeit ist in unseren Verhältnissen das Gegebene und ist für jeden ein brauchbares und nutzbringendes Arbeitsfeld.

Sie würden mich aber ganz falsch verstehen, wenn Sie nun meinten, man solle sich nun ohne Ziel und Wahl auf irgend ein Gebiet stürzen, nur mit dem unklaren und verschwommenen Gedanken, daß es einem später schon einmal nützen werde. Dazu ist die Zeit auch hier viel zu kostbar. Auch wurde eine solche Tätigkeit, der ein Ziel und eine Idee fehlt, sehr bald zur wertlosen Spielerei herabsinken. Schließ-lich ist es aber auch gar nicht nötig, denn es gibt Wissensgebiete, weil sie die Grundlage jeder Bildung sind, für jeden von praktischem Nutzen und – was für uns besonders wichtig ist, – auch hier für jeden

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zu erreichen sind.
Die Gebiete, die ich vor allem meine, sind in der Hauptsache dieselben, die schon die Schule vermittelt, nämlich Deutsch, Geschichte, Erdkunde, wozu noch als jüngstes, auf der Schule noch stiefmütterlich behandeltes Gebiet, Staatsbürger¬kunde kommt. Daß diese Gegenstände Inhalt der Schulbildung sind, scheint mir zugleich der beste Beweis ihrer bedeutung für die allgemeine Bildung.
Wenn ich trotzdem im Folgenden die einzelnen Fächer ganz kurz ihrer Bedeu-tung nach zu würdigen versuche, geschieht dies deshalb, weil in der Regel, je naheliegender und selbstverständlicher ein Fach ist, desto weniger sein praktischer Wert eingesehen wird.
Nicht ohne Absicht stelle ich mich an die Spitzeder nachfolgenden Betrachtun-gen die Beschäftigung mit unserer Muttersprache, deshalb hauptsächlich, weil ein Blick auf unsere Unterrichtsstatistik zeigt, daß der Löwenanteil der geleisteten geistigen Arbeit nicht ihr, sondern dem Studium fremder Sprachen zugute kommt. „Deutsch kann man ja,“ so denkt wohl mancher, „wozu das noch lernen? Aber die Kenntnis einer fremden Sprache bringt mich im Leben vorwärts, schafft mir einen größeren und höhergestellten Wirkungskreis.“ Das ist gewiß zum Teil richtig. Wer ein bestimmtes praktisches Ziel mit der Erlernung einer fremden Sprache verbin-det, der soll sie auch ruhig lernen. Er tut aber gut daran sich zum mindesten nebenher einmal gründlich mit unserer Muttersprache zu beschäftigen. Der Nutzen des Erlernens fremder Sprachen scheint mir weit überschätzt zu werden, gegenüber dem gar nicht hoch genug anzuschlagenden Bildungswerte, den

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man sich durch die Vervollkommnung im Deutschen aneigent. Das erstere bleibt doch mehr oder weniger ein mechanisches Eintrichtern von so und so viel Wörtern und Redewendungen, ja, ich glaube, daß man eine fremde Sprache stets nur in demselben Verhältnis lernen kann, wie man das Deutsche beherrscht; weiß man das Deutsche nur mangelhalt zu gebrauchen, so bleibt man auch im Englischen zeitlebens ein Stümper.
Wieviel wertvoller und nützlicher, aber auch schwieriger und geistig anstren-gender ist dagegen die Beschäftigung mit unserer Muttersprache. Was an rein mechani¬¬scher, zeitraubender Lerntätigkeit von vorneherein wegfällt, wird gewonnen an Denkarbeit. Mancher von Ihnen hat die Probe schon gemacht und erfahren, wieviel schwieriger es ist, einen klaren flüssigen deutschen Aufsatz zu schreiben, als eine lange Reihe von englischen Vokabeln auswendig zu lernen. Sie wissen alle, daß es schon gar nicht so leicht ist, eine kurze, aber gute militärische Meldung zu verfassen, aus der der Empfänger ein wirklich klares Bild darüber, was gemeldet wird, erhält. Wer aber dies Schwierigkeiten und die damit verbundene eigene Denkarbeit nicht scheut, dem winkt auch ein wirklich erstrebenswertes Ziel. Gebildet im eigentlichen Sinne des Wortes ist man nicht bloß deshalb, weil man zufällig das „Einjährige“ gemacht, oder ein Gymnasium absolviert hat, der aber kann entschieden Anspruch auf Bildung machen, der seine Muttersprache beherrscht, sich frei und leicht in Wort und Schrift in ihr auszudrücken versteht, und die Meisterwerke unserer deutschen Dichter und Erzähler kennt. Niemand wird, um mit Bismark zu sprechen, jeden Kellner

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deshalb schon für gebildet halten wollen, bloß weil er flüssig englisch und fran-zösich sprechen kann.
Ich möchte an einem höheren Gesichtspunkt hier nicht vorbeigehen. Wer einmal seine Muttersprache und ihre Schätze kennen und lieben gelernt hat, der hängt auch zäh an ihr fest, und das hat bei der ungeheueren Bedeutung der Sprache – ein Kapitel für sich – wiederum zur Folge, daß er, wohin auch immer das Geschick ihn verschlägt, Deutsch bleibt; dem passiert es nicht, wie so vielen gewissenlosen Landsleuten, daß ihre Kinder schon kein Wort Deutsch mehr verstehen, sondern er erhält sich sein Deutschtum im Ausland so, wie es die Siebenbürger Sachsen seit Jahrhunderten tun.
Durch welche Mittel istuns nun die Vervollkommnung im Deutschen hier möglich? Nächst Unterricht vor allem durch diejenige Tätigkeit die von den meisten freilich nicht als Tätigkeit, sondern als bloßer Zeitvertreib angesehen wird, durch das Lesen. Freilich nicht durch das Lesen von jedem beliebigen Buche, sondern von guten Büchern. Es ist eine der wohltätigsten Begleiterscheinungen des Krieges, daß durch Schützengrabenbibliotheken, Reichsbuchwochen und ähnlichen Einrich¬tungen unzähligen Deutschen im Felde, ebenso wie hier in der Gefangenschaft Gelegen¬heit geboten wird, unsere herrliche deutsche Literatur kennen zu lernen. Das ist zugleich der beste Kampf gegen die Schundliteratur, indem jeder dadurch, daß er seinen Geschmack an guten Büchern bildet, diese gräßlichen 10 Pfennig- und Detektivromane zu verabscheuen lernt. Wenn es beim Essen eine große Unsitte ist, heikel und wählerisch zu sein, so kann man umgekehrt beim

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Lesen gar nicht wählerisch genug sein. Bei jedem Buch, das man liest, soll man das Gefühl der Bereicherung, des Nutzens in dieser oder jener Richtung haben. Dazu ist freilich nötig, daß man gute Bücher nicht verschlingt, sondern wirklich „liest“, d.h. in sich geistig aufnimmt und verarbeitet. Dann wird Lesen auch zu mehr als bloßem Zeitvertreib, wird es zu ernsthafter Tätigkeit, dann wird man auch durch die Früchte der Lektüre spielend seine Sprechgewandtheit vergrößern.
Kaum minder wichtig, als die Pflege der Muttersprache ist für die Bildung die Aneignung von Kenntnissen auf dem Gebiete der Geschichte. Selten wird ein Fach so merkwürdig verkannt und mißachtet. Man scheint immer vollauf genug zu tun, wenn mann sich der Gegenwart widmet und sieht den Wert nicht ein, den die Beschäftigung mit der Vergangenheit haben soll. Ich will auch hier nicht näher ausführen, daß wahre Vaterlandsliebe, der Glaube an unser Volke von innen heraus hohl und leer ist, nichts weiter als eine schön klingende Phrase, wenn sie nicht gegründet sind auf die Kenntnis der vaterländischen Geschichte. Ich will ganz absehen von der patriotischen Ehrenpflicht, die wir den Taten derer schulden, die das Reich geschaffen haben und deren Saat wir ernten. Ich will auch nicht davon sprechen, daß man sich gerade in trüben Zeiten an den großen Männern unserer deutschen Geschichte, an Friedrich dem Großen, Gneisenau, Nettelbeck, Bismark und unzähligen anderen wahrhaft erbauen und aufrichten kann, sondern ich will nur zeigen, welch“ hohen praktischen Wert für jeden die Beschäftigung mit der Geschichte hat. Um es kurz zu sagen: Ein Verständnis der Gegenwert ohne Kennt¬nis der Vergangenheit ist einfach unmöglich. Denn die Gegenwart

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ist ja nur das letzte Glied einer langen Entwicklungskette. Die Zeitereignisse sind ohne Kenntnis ihrer geschichtlichen Grundlagen, aus denen sie erwachsen und mit denen sie aufs engste verknüpft sind, wie ein Körper ohne Geist. So ist auch der ganze Krieg, seine Entstehung, unsere Ziele und die unserer Gegner ohne Kenntnis der Entwicklung, die ihn herbeigeführt hat, gar nicht zu verstehen. Wer nicht weiß, was sich seit 1870 alles ereignet hat, der steht dem grimmigen Haß Englands, dem treibenden Element in diesem Kriege, verständnislos gegenüber. Die bloße Tatsache der Wiederaufrichtung des Königreichs Polen sagt noch gar nichts; historisch erfaßt wird es zu einem recht bedeutenden Ereignis. Jeder weiß, daß Elsaß-Lothringen rein deutsche Provinzen sind, von denen die Franzosen auch nicht einen Fußbreit bekommen dürfen. Wenige aber wußten vor dem Kriege und auch jetzt noch, daß die drei Ostseeprovinzen deutsches Kolonisationsgebiet sind, Jahrhunderte lang deutsch waren und auch heute noch zum großen Teil deutsch sind. Die Geschichte ist die Idee, die hinter der Politik steht, die ganze Politik ist, wie Treitschke sagt, nichts anderes als angewandte Geschichte. Darum ist es auch so lächerlich, wenn Leute, die von Gott und der Welt nichts gelernt haben, nur deshalb, weil sie gele¬gentlich einmal eine Zeitung in die Hand nehmen, am Biertisch über die Hand¬lungen der Staatsmänner zu Gericht sitzen zu können glauben.
Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, wie nahe uns durch den über die ganze Welt hin wirkenden Krieg die Erdkunde gerückt ist. Keiner wird den offenbaren Gewinn verkennen, der allein aus dem Verfolgen

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der täglichen Kriegsereignisse auf der Karte erwächst.Indem man sich mit den geographischen und wirtschaftlichen Bedingungen aller kriegführenden Länder beschäftigt, lernt man spielend eine Fülle von Dingen, die für unsere allgemeine Bildung von reichlichem Nutzen sind. Wie vorhin die Politik nicht ohne Geschichte, so ist sie auch ohne Erdkunde, insbesondere Wirtschaftsgeographie, nicht zu verstehen. Auf welch‘ anderen als rein geographischen Bedingungen beruht denn die ungeheure Bedeutung des Suezkanals, mit dessen Eroberung, wie Rohrbach sagt, der Bau der englischen Weltherrschaft erzittert. Wie ganz anderes stellt sich unser Bündnis mit der Türkei dar, wenn wir erfahren, daß im Taurus und Antitaurus gewaltige Vorräte an Kupfer und Erzen liegen, daß sich durch Assyrien und das untere Stromland Petroleumvorkommen hinziehen, die vielleicht reicher sind, als alle anderen bekannten Quellen, daß bei Tarsus und Aleppo durch Bändigung und Verteilung der Flüsse Millionen von Zentner Baumwolle jährlich für Deutschlands Industrie zu gewinnen sind. Das sind aber gerade die Erzeugnisse, die wir in Deutschland notwendig brauchen. Wie in der Geschichte, kommt es auch hier nicht darauf an, tote Zahlen und Namen zu wissen, sondern darauf, daß man mit den Ländern, die für den Welthandel und Verkehr von Bedeutung sind, einen bestimmten Begriff verbindet, daß man weiß, was sie für uns durch ihre Lage, ihre Häfen, ihre Bodenschätze bedeuten. Daß nebenher die Kenntnis unseres ganzen Vaterlandes über die engen Grenzen des Heimatkreises, des Bundesstaates hinaus nicht vergessen werden darf, ist selbstverständlich. Und doch ist auch dies wieder eine segensreiche Begleiterscheinung des Krieges,

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daß wir uns in Deutschland etwas besser auskennen gelernt haben.
Die praktische Anwendung dieser drei Wissensgebiete liegt im letzten Fach, das ich besprechen will, in der Staatsbürgerkunde. Erst in den letzten Jahren hat sich die Erkenntnis verbreitet, daß jeder Bürger sich am Leben des Staates aktiv beteiligen muß, indem er z.B. sein Recht als Wähler ausübt. Diesem Recht entspricht aber andererseits die Pflicht, sich mit dem Wesen des Staates, seiner Verfassung, seinen Einrichtungen, seiner Politik nach innen und außen, dem Handel und Verkehr einigermaßen vertraut zu machen, und das eben nennt man Staatsbürgerkunde, oder wie das Wort schon sagt, die Kunde von all dem, was ein Bürger wissen muß. Bis Sie nach Hause gekommen sind, und den Rock des Kaisers wieder mit dem schlichten Zivil vertauscht haben, werden Sie alle in reichstags-wahlpflichtigem Alter stehen. Wenn man sich also nicht selbst zum sogen. Stimm-vieh erniedrigen will, dann muß man über die Fragen, die unser Staatsleben heute bewegen, vorher unterrichten. Wie unterrichtet man sich nun über die 1000 Fragen der Politik, über Arbeiter- und Lohnfragen, Versicherungen, Geburtenrückgang, über Landwirtschaft und Industrie, über Kolonien und Handel u.s.w. u.s.w.? Am besten bekanntlich dadurch, daß man Zeitungen liest, aber freilich nicht bloß die Telegramme oder Romane, sondern vor allem die ernsten und vielleicht zunächst etwas trocken scheinenden Artikel, denn über Geburtenrückgang oder soziale Fürsorge kann man nicht im Romanstil schreiben. Bei aller Zeitungslektüre müssen Sie aber stets bedenken, daß jede Zeitung einer bestimmten politischen

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Partei dient, also alle Vorgänge unter einen ganz bestimmten Gesichtswinkel sieht; deshalb soll man, bevor man sich über eine bestimmte Richtung oder Partei entscheidet, erst einmal die Gegenpartei anhören.
Welch“ ungeheuers Feld der Tätigkeit hat sichnun vor uns eröffnet! Wenn uns auch die Verhältnisse auf der einen Seite eine starke Beschränkung unserer Berufstätigkeit auferlegt haben, so wird diese Beschränkung doch mehr als reichlich, durch die Fülle nützlicher und praktischer geistiger Arbeit wettgemacht, die uns allen erlaubt, Lücken in unserer Bildung auszufüllen. Keiner wird im Ernst behaupten wollen, er habe während der Gefangenschaft nicht die Möglichkeit gehabt sich weiterzubilden, und so tüchtiger für seinen Beruf in die Freiheit hinauszutreten. Wie sollten wir auch die Dankespflicht gegen unsere tapferen Kameraden zu Hause besser abstatten können, als dadurch, daß wir uns geistig und körperlich so leistungsfähig wie möglich erhalten. Wenn jeder so im Bewußt¬sein der Pflichten, die er gegen sein Vaterland und gegen sich hat, handelt, dann braucht auch später einmal die Frage nach der Gefangenschaft nicht zu lauten: „Was habe ich in dieser Zeit alles verloren?“, sondern schöner und tröstlicher: „Was verdanke ich ihr alles?“
Martin
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