Unwillkürlich fielen uns bei solcher Fahrt die jauchzendenAnfangs¬stro¬¬phen eines bekannten russischen Liedes ein, die ungefähr den Sinn haben:
Heija Troika!
Flockiger Schnee!
Rings hüllt die eiskalte Nacht uns ein.
Silbern glänzet
Das Licht des Mondes
Und wir sitzen und fahren zu zweien allein.
Unser Mischa kannte dieGegend genau, und da er mit feinem Gefährt wie verwachsen war, so machten wir uns
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keinerlei Sorgen. Und wenn wir auch einmal umkippen sollten, was war da dabei. Es war nicht das erstenmal, daß wir im Schlitten fuhren, und das Umkippen hatten wir auch schon erlebt. Gerade das war ein Hauptspaß, wenn man sanft in den weichen Schnee rollte.
Als wir uns nun wieder einmal einem Flusse näherten – diesmal war es die Seja selbst – da bat uns Mischa doch auszusteigen. Wenn nun schon Mischa selber wollte, so hätten wir eigentlich auch wollen müssen. Aber der Mensch ist nun einmal vom Widerspruchsgeiste erfüllt. Wir blieben sitzen. Das stundenlange Fahren unter wolkenlosem, strahlendem Himmel hinein in die schweigende Pracht des Landes, weich gebettet und hübsch eingemummelt, dazu das Schellengeklingel vermischt mit dem Wiehern und Schnaufen der Pferde erzeugten in uns ein göttliches Behagen und eine grenzenlose, durch nichts zu besiegende Faulheit. Da gibt es denn nichts Angenehmeres, als eine kleine Aufregung, die beispielsweise eine schwierige Passage hervorruft. So ist unter anderem, das Fahren über eine Strecke Baumstümpfe ein unbezahlbarenes Vergnügen. Sich gegenseitig fest umschlungen haltend, fliegt man abwechselnd in den Himmel und wieder zurück in die Hölle. Manchmal wartet die Hölle nicht mehr, wenn sie glaubt, daß man im Himmel bleiben will. Dann fällt man in den Schnee der Erde. Da kann Haase mit seinen Wunderschaukeln gar nicht mit! Aber aufstehen? Aussteigen? Gott bewahre! Lieber umkippen mit dem ganzen Krempel!
„Ach nitschewo Mischa.“ sagte dann auch Hinz zum Kutscher, „Du alter Kosak fährst mit uns über die Häuser weg, wenn es sein muß! Also laß uns sitzen und fahre los! Oder fürchtest du dich vielleicht?“
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Mischa schob seine verwitterte Pelzmütze vom Hinterkopf nach vorn in die Stirn und kraute sich verlegen hinter den Ohren. Aber den Vorwurf, daß er sich fürch¬teten, nahm er höllisch krumm. Nein, Mischa hatte sich noch nie gefürchtet! Er machte ein entschlossenes Gesicht und sagte gottergeben „wie Sie wollen“. Dann überzeugte er sich gewissenhaft, ob unsere Wärmeflaschen (lies Wodkaflaschen!) gut verstaut waren; schließlich bekreuzigte er sich, murmelte etwas, das wie „wie Gott will“ und „Hol“ Euch der Teufel“ klang – und fuhr los. –
Die Pferde tasteten vorsichtig die steile Böschung hinab, verloren Aber den Halt und rutschten vorwärts. Der Schlitten kam in eine seitliche Lage, so daß wenig-stens die Deichseln heil blieben, dann neigte er sich höflich vor der Macht der Gewalt, der er nicht gewachsen war und schleuderte uns, die wir es ja auch nicht anders haben wollten, die hohe Böschung hinab. Wie es nun „Gott wollte“ und wie „uns der Teufel holte“, das alles kennen wir aus dem Anfange dieser Erzählung.
Stöhnend erhob ich mich endlich und stellte verwundert fest, daß mir nichts weiter zugestoßen war, Hinz ließ ich vorläufig noch in seinem prächtigen Steck-kissen. Es konnte noch lange dauern, bis wir dieses hilflose Wickelkind trocken legten. Mit Mischa gemeinsam half ich zunächst dem armen Solowjoff, dem die Haut über dem linken Knie gesprungen war. Außerdem hatte sein Nasenbein die genaue Richtung verloren. Wir entblätterten den Mann, der bei der Hundekälte jämmerlich mit den Zähnen klapperte, weshalb wir ihm den Hals einer Wodka-flasche zwischen die Zähne steckten, worauf das Klappern aufhörte. Nachdem wir Solowjoff verbunden hatten, stärkten wir uns erst auch einmal durch einen kräftigen Schluck. Wir tranken auf das Wohl unseres lieben
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Hinz, der diesen Vorgang neidisch beobachtete. Er konnte sich nicht regen, aber man sah ordentlich, wie er im Geiste den Kopf schüttelte; er konnte es nicht hassen, daß ein anderer als er die Flasche in den Händen hielt. –
Kameraden, die ihr Feinde des Alkohols seid! verdammt mich nicht, wenn ich soviel von Schnaps rede und auch heute noch reden werde. Wenn Sie auf dem mehr als meterdicken Eise eines einsamen sibirischen Flüßchens stehen und Ihnen ein schneidender Wind den staubfeinen Schnee in alle Poren sticht, daß Sie blau anlaufen vor grimmer Kälte, dann erstarren auch Ihre Grundsätze der Enthaltsam¬keit. In solcher Situation wird der Alkohol zum kostbaren Schatz.
Nun Hinz, dem es im Gegensatze zu Solowjoff in dem molligen Schee bereits recht heiß wurde, wurde endlich vorsichtig wie ein antikes Kunstwerk ausgegraben. Dann klopften wir ihm, Mischa mit der Nagaika, liebevoll den Schnee ab. Wir stärkten uns noch einmal und richteten uns dann wieder häuslich im Schlitten ein.
Wir mochtenetwa 2 – 3 Stunden weitergefahren sein, als Mischa plötzlich lebhafte Zeichen der Unruhe von sich gab. Ob ihn nun unser Unfall zu sehr er-schüttert haben mochte, oder ob er zuviel für seine innere Wärme gesorgt haben mochte, kurz und gut, Mischa unser Juwel hatte sich verfahren. Diese Perle von einem Kutscher, der sicher schon mit Stiefeln und Peitsche bewaffnet zur Welt gekommen war, hatte sich geirrt. Er war ganz erschüttert, und fühlte sich plötzlich alt. Es sei, das erstemal in seinem Leben, daß er falsch gefahren sei, so schwur er bei Gott und allen Heiligen. Wir schimpften ihn erst gründlich aus, dann aber trösteten wir ihn. Da es nun bereits spät am
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Nachmittage war, so wäre es zwecklos gewesen umzukehren. So beschlossen wir denn aufs Geradewohl den Wagenspuren nachzufahren, die sich im Schnee zeigten. Der klare Himmel überzog sich mit einem weißgraunen Schleier. Violette und blaue Schatten legten sich auf die Landschaft. Wir fuhren hinein in die unbekannte Einsamkeit. Bald ging die Sonne unter. Sie übergoß uns mit flussigem Feuer, der Schnee begann in allen Farben zu leuchten, in der Ferne auftauchende Wälder schienen zu brennen. Schließlich wurde alles grau und öde. Kein Wesen begegnete uns, uns fröstelte, es wurde dunkel. Sterne blitzten auf, flackerten unruhig und funkelten dann starr in kalter Pracht aus unermeßlichen Höhen herab.
Nach langer Fahrt, es mochte gegen 8 Uhr abends sein, blinkten endlich Lichter auf. Bald erreichten wir ein kleines Dörflein – Berjosowka. Wir fuhren die wenigen Häuser und Hütten entlang und machten schließlich, da wir keine öffentliche Ausspannung fanden, vor einem größeren Anwesen Halt.
Wütendes Kettengerassel und Hundegebell empfing uns. Die Türe des Block-hauses öffnete sich, ein heller Lichtstrahl fiel aus dem Zimmer auf den glitzernden Schnee. Eine hohe Patriarchengestalt, ein eisgrauer Bauer trat heraus. Wir begrü߬ten ihn und schilderten ihm kurz unser Mißgeschick. Der Alte musterte uns prüfend und schweigend, dann wies er die kläffenden Hunde zur Ruhe, trat an unseren Schlitten heran und hieß uns herzlich willkommen. Er spannte zunächst mit Mischa zusammen die Pferde aus und brachte sie unter. Dann geleitete er uns in die Wohnstube.
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Wir traten, eine kleine Diele überschreitend, in das Haus ein, das sich bald als das typische Anwesen des wohlhabenden Bauern dieser Gegend zeigte. Von dem in der Mitte des fast quadratischen Holzbaues stehenden, gewaltigen Ofen strömte eine Wärme aus, die uns wohlig entgegenschlug. Mit Behagen sogen wir diese Luft ein, die erfüllt war mit den angenehmen Gerüchen von Kohl, Rahm und frischem Brot und einem feinen herben Duften von Leder(-) und Pelzwerk. Von dem Ofen aus liefen nach den vier Wänden des Hauses Holzwände, die so das ganze Innere in vier Räume teilten. Diese Zwischenwände reichten nicht ganz bis zur Decke hinauf, sodaß sich Luft und Wärme gleichmäßig in den Zimmern des Hauses verteilen konn¬ten. Die Stube, die wir betraten, war durch eine von der Decke hängende Öl-lampe erleuchtet und machte einen anheimelnden Eindruck. Gleich rechts am Eingange sahen wir zwei übereinander gebaute, bunt überzogene Betten, das deutlichste Zeichen des Wohlstandes. Links in der äußeren Ecke stand ein großer, rechteckiger Tisch. An den Wänden liefen längs des Tisches zwei feste Bänke ent¬lang. Die beiden Fensterchen darüber waren dicht geschlossen. Blumentöpfe standen auf den Fensterbrettern. In der Ecke des Zimmers hingen mehrere bunte Heiligenbilder in vergoldeten Rahmen über- und nebeneinander. Neben den Betten an der Wand bemerkten wir ein Jagdgewehr, das zwischen bunten Öldrucken hing. Auf dem Ofen lagen und schliefen bereits die Enkelchen unseres Wirtes. Ein vielleicht 12 jähriger rotbäckiger Junge erwachte bei unserem Eintritt, rieb sich verschlafen die Augen und starrte uns neugierig an. Aus dem angrenzenden Raume
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traten zwei Frauen heraus, eine kleine alte weißhaarige, mit roten Filzstiefeln unter dem weiten altmodischen Rocke, anscheinend die Frau unseres Wirtes und ihre Tochter oder Schwiegertochter, eine junge stattliche Bäuerin.
DerBauer erzählte den Frauen kurz unser Mißgeschick und forderte sie auf uns freundlich aufzunehmen. Die Alte führte uns zu den Heiligenbildern, vor denen wir uns verneigten und bekreuzigten. Dann erst begrüßte sie uns. Wir baten, keine Umstände unseretwegen zu machen, außer Brot und Tee brauchten wir nichts. Die Wirtin, die Babutchka (Großmütterchen), schickte die junge Frau in die Küche, den Samowar zu bereiten und wandte sich dann Solowjoff zu. Sie trug ihn mit dem Alten zusammen auf das Bett. Dort entkleideten die beiden den armen Kerl, als ob er ihr Junge wären. Sie lösten mit zitternden Händen seinen Verband, holten Wasser und Salbe, wuschen und verbanden ihm die Wunde.
Der kleine Enkel unseres Wirtes holte uns Wasser, wir entledigten uns der Pelze, der Tücher und Mützen, wuschen uns und setzten uns an den Tisch. Der Bauer bot uns Brot und Salz an, das Zeichen russischer Gastfreundschaft. Wir aßen von seinem Brote und lobten es. Der alte Bauer dankte lächelnd. Er war ein prächtiger Mann. Scharfe, schlaue und doch recht gutmütige graune Augen sahen uns aus diesem hageren Gesichte an. Ein gesicht, das wie das unseres Mischas nur aus Leder und Bart zu bestehen schien. Schlohweiß war dieser prächtige Bart, der das ganze Gesicht einhüllte, schlohweiß war das dünne in die Stirnen gekämmte Haupthaar. Unter
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dem kurzen,offenen, mit schwarzer Wolle gefütterten Pelze trug er eine kleinrussi-sche Rubacha, ein weißes Hemd, mit um Halse geschlossenem Kragen und langen weiten Ärmeln, die am Handgelenk festgeknüpft waren. Wir sahen die typischen bunten, handgestickten Kanten an dem Halsansatz und den Ärmelenden der Rubacha. Seine kurzen Pelzhosen steckten in denselben roten Filzstiefeln, wie wir sie anhatten. Der Alte gefiel uns sehr und schien auch an uns Gefallen zu finden. Durch Fragen und Antworten kamen wir uns bald näher. Unser Mischa holte inzwischen unseren Proviant von Schlitten und schüttete aus einem Sacke trübe Eisklumpen auf den weißgescheuerten Tisch. Die Babuschka brachte mit der Tochter zusammen den schweren brodelnden Samowar herein und stellte ihn vor uns hin. Die Eisklumpen warf sie lachend in einen mächtigen Topf voller Schnee, den die Tochter zur Küche trug.
Wir stellten Zucker und Butter auf den Tisch. Das siedende Wasser sprudelte aus dem Samowar in die Gläser. Wohlig umschlossen unsere steifen Finger die heiße, goldgelbe Flüssigkeit, die wir gemischt mit der süßsäuerlichen Warjenje (Fruchtmarmelade) unseres Wirtes behaglich schlürften. Bald kam auch die junge Frau mit dem dampfenden Topfe zurück. Ein Wunder war geschehen! Schnee und Eisklumpen waren zur lieblich duftenden Suppe geworden! Vor drei Tagen hatte man würzige Fleischklößchen in Teig eingebacken. Diese Teigklümpchen wurden mit Fleischbrühe zusammen dick eingekocht. Das Ganze hatte man dann an die Luft gestellt, an der es
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zum Steingefror. Als wir nun mit der Troika wegführen, schlug man von dem Steine Stücke ab, die man in einen Sack tat und uns mitgab. Der Schnee der freien Steppe und das Herdfeuer unseres Wirtes hatten aus den unförmigen Eisstücken die köstlichste und kräftigste aller sibirischen Suppen gemacht: Die Piellmjenj.
Wir ließen sie uns zusammen mit unserm Wirtsleuten schmecken. Obwohl die Suppe reicht würzig war und uns einging wie Feuer, so schüttelte doch Mischa mit dem Kopfe; er behauptete, daß die Pjellmjenj noch Frost in sich habe, den man töten müsse. Dabei schielte er verlegen nach unserem Proviant. Der alte Bursche wollte einen Schnaps haben! Nun, er bekam ihn, wenn auch Hinz so tat, als ob er sich sträubte. (Dieser Heuchler, der mit seinem Königsberger Magen jeden Rekord im Wodkatrinken hielt!) Wir tranken alle und bewegten auch die Babuschka von unserem Kognac zu kosten, was ihr und uns viel Spaß machte. Der kleine Enkel unseres Wirtes freundete sich bald mit uns an. Er hatte sein kleines Schwesterchen vom Ofen geholt und die beiden jungen Sibiriaken standen nun stumm vor Hinz und bewunderten dessen schmeidigen Schnurrbart. Immer, wenn eines der beiden Kinder vor Staunen den Mund öffnete, steckte ihnen der schmunzelnde Hinz ein Stück Zucker zwischen die gesunden Zähne. Der kleine Mann räumte dann mit seiner Mutter gemeinsam das Geschirr ab. Der Samowar blieb stehen. Das Wasser in ihm sang lustig zu unserem Geplauder. Doch wir waren noch nicht gesättigt, breiteten die Schätze unserer Sakurka auf dem Tisch aus und luden unsere Wirte zum Mittun ein. Sie ließen es sich alle
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gut schmecken,besonders die Babuschka. Sie blühte ordentlich auf, die brave Alte, und als wir ihr dann alles, was übrig blieb für ihren Haushalt hinterließen, Tee, Zucker, Butter und Konserven, da war sie ganz außer sich vor Freude. Das war unsere Art und Weise eines Entgeltes und wir fuhren immer gut damit. –
Das Blut zirkulierte uns bis in die Zehenspitzen, es wurde uns wohltuend warm. Wir knüpften unsere Pelzjacken auf, lehnten uns faul an und griffen zu den Ziga¬retten. Und wenn auch das Gespräch noch eine Weile behaglich fortging, so schlief es doch allmählich ein. Nur der Samowar summte sein eintöniges Lied durch die Stille des Zimmers. Der Alte nickte ein paarmal ein, erhob sich dann schwerfällig und bot uns sein und der Babuschka Bett als Nachtlager an. Es kostete uns große Mühe, den braven, alten Leuten auszureden, daß wir in die ihnen gewiß recht kostbaren Betten steigen sollten, während sie auf den Bänken nächtigen wollten. Wir kamen schließlich überein, daß Solowjoff mit seinem zerschlagenen Bein in eines der Betten gelegt wurde. Die Babuschka mußte in das andere. Der alte Bauer aber legte sich auf den Ofen zu seinen Enkelchen.
Wir andern drei, Hinz, Mischa und ich saßen noch ein Weilchen zusammen. Es war heimlich und warm im Zimmer. Ja, die Hitze legte sich auf uns und machte uns recht müde. Wir gähnten, die Glieder wurden uns recht schwer. Mischa sah noch einmal nach seinen Pferden. Hinz und ich, wir beide streckten uns in unsere Pelze gewickelt auf den zwei Bänken lang aus und empfahlen uns dem Schutze der Gottesmutter und der Heiligen, die über unseren
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Köpfen hingen. Wir blinzelten müde und behaglich, noch eine Papyros rauchend, schweigend zur Decke hinauf. Bald vernahmen wir das Schnarchen unseres Mischa, der sich wie ein treuer Hund quer vor die Tür gelegt hatte. Dazwischen hörten wir die regelmäßigen Atemzüge des alten Bauern, das Lallen eines träumenden Kindes, ab und zu das Hüsteln der Babuschka. Das leise Weinen eines Säuglings klang aus dem Nebenzimmer und beruhigende, zärtliche Worte der jungen Mutter. Sonst war tiefe Stille. Das Gold der Heiligenbilder flimmerte durch das Dunkel und gab den Heiligen selbst einen schwachen Schein. Es schien uns, als ob sie fragend auf uns Eindringlinge herabschauten. Die Geräusche wurden undeutlich, mischten sich und verschwammen. Schellen klingelten, Mischa saß auf dem Bock und pfiff aufmunternd die Pferde an, Schnee stiebte, die Tiere schnaub¬ten - - und bis in unsere tiefen lautlosen Träume hinein klang das helle Läuten und Klingeln des Schlittens, wie er über das endlose Weiß dahinglitt. – -
Wir öffneten erstaunt und müde die Augen. Was war das? Eine dunkle Gestalt zog und zerrte uns. Schlafen – schlafen! – Was soll das? Mischa stand vor uns „Auf mein Täubchen, auf! Es ist drei Uhr, wir müssen weiterfahren! Die Türe öffnete sich, ein eisiger Zug fegte durch das Zimmer und machte die Lampe flackern. Die grotesken Schatten Mischas und des eintretenden Bauern schwankten komisch an den Wänden hin und her.
„Der Schlitten ist bereit, Herren steht auf!“
Wir riebenuns die Augen und fuhren in die Höhe. Richtig ja, wir müssen weiter! Dampfende Teegläser standen auf dem Tische. Schwerfällig zogen wir uns an. Ja, der verfluchte
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Mischa mit seinem Verfahren und unsere Wirtschafterin inBlagowestschensk! Warum mußte sich die gute Frau irren?! Sie hatte uns bei der Zusammenstellung unseres Proviantes anstatt Kognac – Tafelöl – eingepackt! Wie viel Zeit hatten wir verloren, als wir in dem ersten Dorfe nach Bl. kurzerhand Halt gemacht, und die ganze Gegend nach dem teueren Stoffe abgegrast hatten. Drei Stunden hatte es gedauert, bis wir ihn gefunden, und da wir zuviel gefunden hatten um ihn alle mitzunehmen, hatten wir noch drei weitere Stunden gebraucht, um uns des überflüssigen Materials zu entledigen. Das war nun unser Schaden. Wir hatten keine Zeit mehr zu verlieren. Es halt alles nichts, wir mußten fahren. Diesen Morgen um 9 Uhr sollten laut Geschäftsorder an unserem Bestimmungsorte eintreffen. Dagegen kamen wir nicht auf. Mißmutig wickelten wir die endlosen feuerroten und grünen Tücher aus Kattun kunstvoll um unsere Pelze (mit Knöpfen ist da nichts zu machen). Wir grüßten und dankten stumm den Heiligen, der alten Babuschka, neidisch betrachteten wir die Kleinen auf dem Ofen. Wir nahmen Abschied von dem traulichen Raume und traten hinaus in die pechschwarze, eisigkalte Nacht. Da stockte uns aber der Atem! Der Wärmemesser zeigte –44 Grad Reaumur – -55 Grad Celsius! – Das hatten wir doch noch nicht erlebt. Schnell kollerten wir, Hinz und ich, in das weiche Stroh des Schlittens. Solowjoff ließ sich schwer mit dem Gesicht nach unten auf uns fallen. Über uns drei, die wir nun wie die Heringe im Fasse steckten, wurde Stroh geschüttet und Decken ausgebreitet. Darüber zog man feste Strohseile.
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Heija Troika! Das konnte ja eine heitere Fahrt werden.
Die Pferde zogen an, quietschend und kreischend holperte der schwere Schlitten über den gefegten Hof des Bauern, leicht und lautlos glitt er in sein Element, in den lockeren, hohen Schnee. Wir fuhren hinein in das Ungewisse, nichts sehend, weder Weg noch Steg, allein angewiesen auf die Tüchtigkeit und den Instinkt Mischas. Das b(B)este war zu versuchen einzuschlafen. Das gelang uns auch bald, nur wenn wir gegen einen Baumstumptauftießen oder über einen Graben setzten, wurden wir unsanft geweckt. So fuhren wir lange, 2, 3, 4 Stunden. Wir merkten, wie uns die ungeheure Kälte langsam und unerbittlich durch Stroh, Filzstiefel und Pelzwerk drang. Wir bekamen den Klamm in die Zehen, die Füße und Beine schliefen uns ein, die Finger unter Pelzhandschühen wurden starr. Der Atem setzte sich in Gestalt rauhen Reifes, an den Kleidern an. Hinz berührte mich mit seinem Gesicht, anstelle seines Schnurbarts spürte ich Eiszapten. Plötzlich ein eisiger Zug! Wir erwachten und als wir im Dunkel erschreckt um uns tasteten, merkten wir zu unserem Entsetzen, daß Solowjoff fehlte. Die Seile hatten sich gelockert und der Mann mit dem kranken Beine war aus dem Schlitten gestürzt. Wir hämmerten auf Mischa ein, dessen Gestalt, über und über bereift, sich erschreckt zu uns um-wandte. Dann kehrten wir um und schrien verzweifelt in die eisstarrende grausig-dunkle Nacht hinaus, bis uns endlich, endlich schwache Schrein antworteten. Solowjoff war geretet! Wir fanden ihn, wie er sich mühsam, vor Angst in Schweiß gebadet durch den Schnee arbeitete. Solowjoff wäre, hätten wir ihn verfehlt, verloren gewesen. Von den
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40 Werst, die wir schätzungsweise noch zurückzulegen hatten, würde er in seinem Zustande in der unbeholfenen Verpackung keine 4 Werst weit gekommen sein. Die Gefahren dieser fürchterlichen Nacht hätten ihn hilflos gemacht wie ein Kind.
Als wir nun, um uns zu erwärmen, den Wodka hervorholten, machten wir die schlimme Entdeckung, daß er gefroren war.
Mischa weckte uns, als die Sonne brandrot über fernen Wäldern hochstieg. Steif und kalt lagen wir im Schlitten. Wir befanden uns in einem schweigenden, gleich-sam verzauberten Walde. Als sich dieser nach einer weiteren Stunde öffnete, lachte uns das freundliche, tief verschneit im Tale liegende Alexandrowskoje feinen sonnengoldenen Morgengruß.
K. Bähr
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Sylvesterfeier in Kokaido.
„Bunter-Abend am 31. Dez. 1916,“ kündigte die von Plakat – „Ginstler“ C. Lätzsch aus Sachsen geschickt entworfenen Anzeige an. Alles andere war Geheim-nis, und „Det muß doch jeh“n“! das Motto. Und es ging! Gleich von Beginn an entwickelte sich die heiterste Stimmung, leicht beeinflußt durch das mundende Faßbier, von freundlichen Wirten gegen Biermarken ausgeschenkt. Die Schrammel¬kapelle hatte ihre Schlager ausgesucht, bei deren Wiedergabe sie häufig durch kräftiges Mitsingen der ganzen Kompagnie unterstützt wurde. Gepfiffen wurde auch – Sees. Ottens war es mit seinem
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heiter aufgenommenen Vortrag: „En Kutscherpfiff“. Furchterweckend und schaurig gab Sees. Kahle die entsetzliche Geschichte von „Franz und Laura“ wieder, wonach mancher sein Glas in einem Zuge leerte, so trocken war ihm die Kehle vor Lachen geworden. Auch sonst machte sich unser mit Komik reich ausgestatteter Kamerad um das Inkrafttreten der Lachmuskeln verdient; besondere Erwähnung verdient sein Vortrag der „Schiller-Quintessenzen.“ Im Rock des dummen August erschien Untoffz. Freese und Sees. Engel mit einem dem Abend angepaßten Dialog, und stürmische Lachsalven erweckte Freese später beim Tanz mit seiner lebensgroßen Puppe. Als echte „KölscheBoar“ stellte sich Sees. Steinhausen vor, der entschieden sein Publikum zu nehmen verstand. Wo er sich heute blicken läßt, wird er mit dem ersten Vers seines Vortrages begrüßt. Auch der Frankfurter Dialekt durfte nicht fehlen „die Kanarienvögel“ und anderes verfehlten bei dem FrankforderSchnawwel des Sees. Baerwald ihre Wirkung nicht. Und dann A... Stuß! Hat‘s em doch aoch der Herr gegewwe!! Trotzdem es mit dem geliebten Gerstensaft zu Ende gegangen war, sorgten die „Backpflaumen“ des nun einmal zum gottbegnadeten Künstler gestempelten Sees. Eggebrecht für Steigerung und Stimmung. Wir haben die Freude, seine zur Laute vorgetragenen kritischen Verse mit Muße nochmals im L. F. zu lesen. Noch ein anderer Reimschmied bot uns eine besondere Leistung: Sees. Höhne mit seinem Idyll: „Die Fischhochzeit“. Mit der Darstellung berühmter Männer durch Sees. Wagner mit primitiven Mitteln und starker Wirkung fand dieser Teil des Abends seinen Abschluß.
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Nach dem ersten Abfragen rief die humorvolle Ankündigung einer Ringkampf-parodie die Lagerinsassen wieder zusammen. Die Ringer: Vzfw. Rasenack, Untoffz. Böving, Freese, Schlögel, Gefr. Ohlen und Sees. Wagner erweckten schon durch ihr strammes Auftreten lebhaften Beifall. Urkomisch verlief der Kampf, wobei Schieds-richter Sees. Ottens seine Paragraphensammlung reichlich in Anwendung bringen konnte. Daß bei uns der Stärkere dem Schwächeren unterlag, war natürlich eine allgemein konstatierte Schiebung. Heulen und Zählenklappern erfüllten denn auch den Raum. Als gar der schwächliche Herr aus dem Publikum (Sees. Fiedler) end–gültiger Sieger blieb, da war es höchste Zeit ... - ... zum gemütlichen Feiern in engerem Kreise geworden. In freudiger Stimmung trugen wir das alte Jahr zu Grabe, ließen doch gerade die Tage der Jahreswende Hoffnung in uns aufkommen, ein neues Jahr nicht ein viertesmal hier schließen zu müssen.
C. L.
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Ein deutsches Urteil.
Auch in ihrer Rechtsprechung zeigen die Völker ihre Charakterunterschiede; weniger in Friedenszeiten, in denen man mehr das allen Kulturvölkern Gemeinsame der europäischen Gesittung als das einem einzelnen Volke besonders Eigene in den Urteilen findet; im Kriege dagegen zeigt sich das Volk, seine Gesinnung und Gesittung enthüllter – wir haben ja
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davon schaudernd manches Beispiel erlebt. Auch in der Rechtsprechung kann man diese Entwicklung verfolgen. Gibt es einen größeren Gegensatz als die englische (und französische) Rechtsprechung, die sich vollkommen in den Dienst der Politik gestellt haben und das auch offen aussprechen, deren Ziel nicht ist, das Rechte und Gesetzmäßige festzustellen, sondern nach Möglichkeit Englands Feinden zu schaden und das englische Reich sowohl, als den einzelnen Engländer zu berei¬chern – ganz abgesehen von den Albernheiten, wie Verurteilung des Kaisers, Kronprinzen usw. wegen überlegten Massenmordes – und dem gegenüber das deutsche Richtertum, das auch im Kriege – selbstverständlich – nichts anderes kennt als das Gesetz und seine ehrliche, genaue Durchführung, auch wenn dann einmal ein Feind die wohlverdiente Strafe nicht erhält oder in einem Rechtsstreite der Deutsche dem feindlichen Ausländer unterliegt.
Heute wollenwir einmal ein anderes Beispiel bringen, das recht gut den Geist einer deutschen Rechtssprechung kennzeichnet.
Ein Goldarbeiter hatte einen Anspruch auf Entschädigung wegen einer Ver-letzung, durch die sein Knie steif geworden war. In solchem Falle kann man nicht nur wie gewöhnlich den geldwerten Schaden ersetzt verlangen, sondern auch Entschädigungen für andere Beeinträchtigungen, wie Entstellung, Schmerzen, seelische Leiden usw. Andererseits aber muß sich der Kläger auf seinen Anspruch anrechnen lassen, was er durch denselben Unglücksfall an Vorteilen erwirbt, z.B. Versicherungsgelder. In unserem Falle bestritt der Beklagte zwar den entstandenen (2-3-20(3-52)) Schaden nicht, verlangte aber, die Höhe des Schadenersatzes solle soweit gemindert werden, als der Kläger dadurch Vorteil habe, daß er nun nicht ins Feld zu ziehen brauche und ihm alle damit verbundenen Anstrengungen und Beschwerden, die Gefahren der Tötung, Verwundung und Gefangenschaft und seiner Familie die Sorgen, Schmerzen und Leiden erspart würden.
Das Gerichtaber erklärte: Es kann nicht als ein Vorteil angesehen werden, wenn man verhindert wird ins Feld zu ziehen. Es wäre im Gegenteil eher noch in Betracht zu ziehen, ob nicht die Entschädigung noch zu erhöhen wäre, weil der Kläger, ein alter Landwehrmann, es als Schmerz und schwere Beeinträchtigung empfinden muß, daß ihn diese Verletzung hindert an der Durchführung seiner Ehrenpflicht, seines Rechtes für sein Vaterland in so schwerer Zeit einstehen zu dürfen.
So sprach das Oberlandesgericht zu Karlsruhe.
Könnte man sich überhaupt vorstellen, daß ein englisches Gericht ein solches Urteil sprechen würde?!
K.
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