Lagerfeuer

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Lf. Nr. 44 Matsuyama, Sonntag, den 26. November 1916

Brückenbau im Eis.

Man erwarte im Nachstehenden keine fachmännische Abhandlung über Brücken-bauten von mir. Es sind lediglich persönliche Eindrücke, die hier vorliegen.
Zwei bis drei Werst von S. entfernt liegt die Arbeiteransiedlung W. an der Seja. Hier baute man eine gewaltige Eisenbahnbrücke über den in Eis erstarrten Strom. Durch die Bekanntschaft mit einem polnischen Ingenieur gelang es mir, die Bauten zu besichtigen.
Es ist bewundernswert, was die Russen hier unter den schwierigsten Verhält-nissen geschaffen haben. Die Brücke wird von einer Petersburger Gesellschaft errichtet. Die Unkosten bestreitet der Staat. Der Gesellschaft ist ein absoluter Reingewinn, der in einer genau festgesetzten Summe bestimmt ist, zugesichert.
Das Arbeitermaterial besteht aus zweifelhaften Elementen. Die ungefähr 2000 Arbeiter setzen sich zusammen aus Verbannten, Zwangsansiedlern, aus allerlei lichtscheuem Gesindel und weniger Bauern. Die Gesellschaft ist aber auf die Arbeit dieser Elemente angewiesen, da andere bessere Arbeitskräfte nicht aufzutreiben sind, und Chinesen zu Regierungsarbeiten nicht zugelassen werden dürfen.
Das Meterial zum Bau dieser Brücke kommt hauptsächlich im Sommer auf dem Wasswerwege. Im Winter aber muß es auf Schlitten aus dem über 250 km entfernten Kl. bezogen werden.
Nur die Granitquader zu den Brückenpfeilern werden aus einer Entfernung v. 90 Werst per Ochse angefahren. Der Frachtpreis hierfür beträgt allein 40 Kopeken für das Pud (1 Pud = 16,375 Kg).
Wie ist es nun möglich, den Mörtel in dieser grimmigen Kälte zum Binden zu bringen? Der Wärmemesser zeigt hier in den Monaten November - März immer unter –25 Grad Reaumur.

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Überall dort, wo einer der sieben Pfeiler entstehen soll, ist ein mächtiger Holzbau errichtet. Diese Räume sind ständig geheizt, und im Innern werden alle nötigen Arbeiten vorgenommen. Geleise laufen bis an die Türen dieser Bauten und eine Kleinbahn schafft die Materialien aus den an rechten Ufer liegenden Lagerhäusern heran. Das Eis ist hier durchschnittlich 1½ m dick und trägt mit Leichtigkeit alle Lasten.
Treten wir nun in eines dieser Häuser ein. Sofort umfängt uns eine stickige, schweiß- und öldurchtränkte Luft, und ein ungeheurer Lärm. Da sind Steinmetzen ganz am Eingang beschäftigt, die den Granitquadern Form geben. Des weiteren sehen wir Bohrer, Dreher, Fräser, Tischler. Ganz im Hintergrunde befinden sich Maschinen die kleinen Steinblöcke zermalmen. Der so gewonnene Schotter wird den Betonmischmaschinen zugeführt, die ihn zusammen mit Zement und Sand gierig verschlingen. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, daß auch ich einmal gar bald eine solche Maschine sein würde. Bei Kanonendonner!
Mitten im Raume ist das Eis in Form eines großen Rechteckes aufgesprengt, und wir sehen das grüne Wasser der Seja dampfend fließen. Unter Taucherglocken arbeitet die Elite der Arbeiter. Das Grundeis muß beseitigt werden. Abdichtungen gegen die Wassermengen müssen geschafft werden. Die Quader sollen in einer Höhe von ca. 13 Faden (27 m) gesetzt werden. Langsam und trotzig erheben sich die massiger Pfeiler vom Grunde empor.
Der Ingenieur führt uns jetzt zum linken Stromufer. Hier ist die erste schützende Hülle bereits gefallen. Dutzende kräftiger Männer vereinten an dieser Stelle das Eisengerüst eines Pfeilers. Stabeisen und Trägen werden wie Butter zerschnitten. Bei grimmigster Kälte. Aber trotz der 30–35° Reaumur unter Null läuft den Nietern der Schweiß über das Gesicht. Die Arbeiten gehen in

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Akkord und werden sehr gut bezahlt.
Noch nie habe ich das Fehlen zeichnerischen Talentes so empfunden wie damals. Das Zwielicht der Hallen warf blitzende Reflexe auf die bleichen schweiß-bedeckten Gesichter der Arbeiter. Wüst sahen sie aus, diese Burschen, die fast ausnahmslos etwas auf dem Kerbholz hatten. Und die Leute im Freien! Ringsum blendendes Weiß, über uns strahlender Himmel, mitten darein in der weiten Einsamkeit ein steinerner Pfeiler, auf dem langsam Eisen wächst, dunkle Gestalten mit braunroten Gesichtern, verbrannt von der Sonne, zerfressen von der Kälte und dem Schweiß, Gestalten, die Hämmer schwingen, Eisen glühen, biegen und schneiden!
Vielleicht waren wir zwei, mein Kollege und ich, die einzigen Ausländer, denen es vergönnt war, die Bauten zu besichtigen. Denn ohne Vermittlung des Ingenieurs hätte man uns als Spione festgenommen. Es ist nicht einmal erlaubt, die Brücken, die Bahnhöfe, oder sonstige Einrichtungen der Mittelamurbahn zu photographieren.
Was diese Brücke gekostet hat, habe ich nie erfahren. Ich erwähnte bereits oben, daß die Transportkosten der Steinblöcke sich auf 40 Kopeken für 1 Pud belaufen, das sind ungefähr fünf M für 100 kg. Am billigsten ist noch das Holz, am teuersten das Eisen, abgesehen von Gehältern und Löhnen. Zu Regierungsbauten darf nur russisches Eisen verwendet werden. Dieses Eisen kommt aus den Hütten des Ural. Es geht von den Hochöfen aus auf dem Wasserwege nach den Häfen des Schwarzen Meeres. Von da aus mit Dampfern nach dem Hafen Nikolajewsk (Ostsibirien). Dann bringen es Schleppkähne den Amur aufwärts bis nach Blagowestschensk. Und von Bl. aus wird es in kleinen Mengen die Seja aufwärts bis zum Bauplatze geschafft. In kleinen Mengen deshalb, weil

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die Seja trotz großer Breite stellenweise nur 1½ – 2 Fuß tief ist. Im Winter jedoch muß das Eisen aus den Beständen der Blagowestschensker Handelshäuser genommen werden und wird mit dem Schlitten angefahren. Da ein jeder dieser Schlitten nur ca. 40 Pu = 650 kg trägt und der Frachtpreis hierfür allein ca. 50 Kopeken für das Pud beträgt, so kann man sich einen Begriff von der Umständlichkeit und den Kosten dieser Arbeiten machen. Übrigens habe ich das an und für sich billige Eisen als Beispiel angeführt, weil dieses gerade durch die Frachtraten prozentual mehr belastet wird als irgend ein anderes Material. Aber auch für den Transport aller anderen Güter und Waren gilt dasselbe. Bei meiner Rückfahrt von W. nach Bl. im Schlitten begegneten wir Schlittenzüge von 100–150 Gefährten hintereinander, beladen mit Lebensmitteln, Werkzeugen, Kleidung, Stahl und Eisen. –
Das Material aber, welches im Winter auch nicht in Bl. zu haben ist, muß aus Wladiwostok bezogen werden. Es läuft dann mit der Bahn bis Chabarowsk und von da aus über 1000 Werst auf Schlitten. Oder das Material muß per Bahn aus Irkutsk oder Rußland bezogen werden.
Nun bedenke man, daß der Preis für Uraleisen genau der doppelte ist wie der für oberschlesisches Eisen, welches letztere hauptsächlich in Sibirien den Markt beherrscht. Durch einen Erlaß der russischen Ministerium, ich glaube des Innern, des Kriegs und des Handels wurden jedoch (wenn ich nicht irre, war es 1910), für Regierungsarbeiten über Fabrikate deutscher Herkunft der Boykott verhängt. Die russen haben sich jedenfalls damit mehr geschadet als uns. Und unsere Regierung wird sich schon beim Friedensschlusse gegen derartige Erlasse zu schützen wissen. – – –
Das Eisengerüst der Brücke wurde im folgenden Sommer errichtet. Es war mir nicht vergönnt, über die Brücke zu fahren.

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Bei meiner Fahrt im Winter 1913/14 lief das Geleis noch über das Eis; ich konnte vom Zuge aus die noch unvollendete Brücke beschauen.
Schade, daß sie nicht zusammengebrochen ist; viel amerikanisches Kriegs-material wird über sie gerollt sein.
K. Bähr.

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Der letzte Ritt.

Am 4. November 1914 hatte der Feind sein Sturmmaterial bereits bis an das Haupthindernis geschafft, das stellenweise schon sehr stark beschädigt war. Zwischen 8 und 9 Uhr abends hatte er das Haipowasserwerk gestürmt. Die letzten Tage von Tsingtau war angebrochen. Die aktive Feldbatterie, der ich angehörte, stand an diesem Tage am Observatoriumshügel. Es war die letzte Stellung, die die Batterie inne hatte.
Am Nachmittag des genannten Tages wurden zwei Unteroffiziere und ich als Meldereiter zum Gouvernementsstab, der sich in der Bismarckkaserne befand, kommandiert. Dort hatten wir die Aufgabe, uns mit unseren Pferden zu jederzeitiger Verfügung des Stabes bereit zu hatten. Der 5. November brachte uns weiter keinen Befehl. Die feindlichen Sturmkolonnen waren bis dicht an die Werke herangekommen, ohne daß unsere durch Munitionsmangel stark geschwächte Artillerie das hätte verhindern können. Ein Sturmangriff wurde stündlich erwartet. Die Nacht zum 6. brachte jedoch diesen Angriff noch nicht. Gegen Abend dieses Tages wurde das I. W. 3 von feindlicher schwerer Artillerie überaus heftig beschossen; die andern Werke wurden mit Schrapnellfeuer überschüttet. Gegen 11 Uhr machte der Feind auf I. W. 4 einen heftigen Angriff, der aber mit Handgranaten zurückgeschlagen wurde. Um Mitternacht jedoch gelang es ihm,

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das I. W. 3 zu umstellen, das sich dann auch nach kurzer Zeit ergeben mußte. Darauf durchbrach der Feind die Zwischenstreiche 3 und befand sich somit inner-halb des Festungsgürtels. Gegen Morgen des 7. November zwang ein Teil der feindlichen Infanteriemassen die Iltisbatterie zur Übergabe. Die in der Nhe befindliche Besatzung der Punktkuppe wurde beinahe völlig niedergemacht. Unser linker und rechter Flügel wurde jetz im Rücken angegriffen, und es entspannen sich heftige Kämpfe in den Schützengräben und bei den Werken. Die Batterien hatten ihren Munitionsbestand verschossen und ihre Geschütze gesprengt. Eine weitere Verteidigung war aussichtslos, weshalb um 620 Uhr auf dem Observatorium und der Signalstation die weiße Flagge gehißt wurde. Mit Tränen in den Augen erteilte uns der Kommandeur der Landfront den Befehl, den Major o. K., der als Parlamentär für die Übergabererhandlungen bestimmt war, ins feindliche Lager zu begleiten. Diese Begleitung bestand aus einem Flaggenträger, einem Pferdehalter und mir als Trompeter. Etwa 620 Uhr ritten wir über die Hauptmann-Müller-Straße in der Richtung auf Taitungtschen. Am Artilleriedepot mußten wir jedoch umkehren, weil unsere Batterien immer noch derart unter Feuer gehalten wurden, daß es unmöglich war, auf der Straße weiterzureiten. Auf meinen Vorschlag ritten wir zurück über die Bismarck- und Deutschlandstraße auf die Taitungtschenstraße, die ebenfalls aufs heftigste beschossen wurde. Trotz dieses heftigen Feuers erreichten wir doch glücklich Taitungtschen. Unser Posten am Eingang des Dorfes meldete, daß das Polizeigebäude schon von den Japanern besetzt sei. Wir ritten weiter und wurden am Marktplatz von Japanern angehalten, sie respektierten die weiße Flagge und gaben uns fünf japanische Infanteristen als Begleitung mit. Am Nordausgang von Taitungtschen mußten wir absitzen, weil wir von mehreren feindlichen Kompagnien, die an der Straßenböschung und in

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den Gräben in Deckung lagen, umringt wurden. Da diese jedoch dauernd noch schwer von unseren Truppen beschossen wurden, hatten wir keinen leichten Stand. Neben mir fielen drei Japaner; ein vierter bekam einen Kopfschuß und brach zusammen; er wollte sich an mir festhalten und befleckte mich so von oben bis unten mit Blut. Trotz unserer weißen Flagge wurde das Feuer sicht eingestellt. Infolgedessen rissen uns die Japaner die Waffen vom Leibe und wollten uns mit dem Bajonett niedermachen. Nachdem Major o. K. einigermaßen die Japaner beruhigt hatte, kletterten wir alle am Damm hoch. Major o. K. schwenkte sein Taschentuch, der Flaggenträger seine Fahne, und ich blies aus Leibeskräften: „Das ganze halt“, um das Feuer unserer Truppen zum Schweigen zu bringen. Der Pferdehalter, der mit unseren Pferden abseits der Straße hielt, erhielt einen Brustschuß und war sofort tot; ebenso erhielt das Pferd von Major o. K. einen tödlichen Schuß; die andere Pferde rissen aus. Endlich wurde das Feuer unserer Truppen schwächer, weil sie die weiße Flagge erkannt und auch das Signal verstanden hatten. Wir wurden nun von einem japanischen Offizier und etwa 30 Mann weitergeführt. Zu beiden Seiten der Straße lagen verwundete und gefallene Deutsche und Japaner. Es war ein trauriges Bild, das ich nie wieder vergessen werde. Als wir beim Blockhaus am Haupthindernis anlangten, kamen die ersten Inder. Sie stürzten sich mit einer wahren Wut auf das Blockhaus, um liegengebliebenen Gegenstände und Bekleidungstücke an sich zu nehmen. In einiger Entfernung hinter ihnen aus der Richtung von Schuangschan kamen im Gänsemarsch die Engländer angeschlichen. Höhnisch pfeifend und mit den Händen in den Hosentaschen zogen sie an uns vorüber. Wir drehten ihnen den Rücken. Selbst den Japanern gefiel das Benehmen ihrer Verbündeten nicht, was sie durch Gesten und Bemerkungen zu verstehen gaben.
Wir marschierten weiter auf der Straße nach Litsun. Die Straße

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hatte sehr unter der Wirkung unserer Geschütze gelitten und hatte viele Löcher von eingeschlagenen Geschossen; gleichfalls zeigten die nebenliegenden Dörfer stark die unvermeidlichen Spuren des Krieges. Etwa 500 m vor dem Dorfe Koutsy wurden wir von einem japanischen Offizier mit den später uns allen so wohl bekannt gewordenen „warten Sie“ angehalten. Wir mußten abseits der Straße waten, weil mehrere . Die Herren stellten sich gegenseitig vor und verhandelten an Ort japanische Infanterieregimenter vorbeimarschierten. Sie kamen aus der Richtung von Litsun und bogen vor dem Höhe 136,5 ab auf den Wasserleitungsweg. Sie trugen gutansehende, neue Uniformen, und, wenn ich nicht irre, die Nr. 44, 45, 46, 54, 56 und 58. Nachdem wir annähernd eine Stunde gewartet hatten, mußten wir wieder denselben Weg zurück. Beim Orte Tungwutschiatsun wurde halt gemacht. Hier sollten wir den Adjutanten des Generalleutnants Kamio erwarten. Wir lagerten uns mit unseren Begleitmannschaften auf das Stroh einer chinesischen Tenne und hatten noch Gelegenheit, ein sehr interessantes Bild zu beobachten: vier Feldgeschütze, die wohl unterhalb der Höhe 186,5 gestanden hatten, sausten in wilder Fahrt an uns vorüber. Sie fuhren ohne Führer und Bedienungsmannschaften, und ihre Fahrer hatten wohl nur das eine Ziel, möglichst die ersten in der eroberten Festung zu sein. Nach etwa ½ Stunden kam aus der Richtung des Klosters Yünkuan der erwartete Adjutant des Gen. Lts. Kamio, ein japanischer Major, der etwas deutsch sprach. Die Herren stellten sich gegenseitig vor und verhandelten an Ort und Stelle. Nach Beendigung der Verhandlungen verabschiedeten sich die Parlamentäre und wir wurden nach Tsingtau zurückgeführt. In der Bismarckkaserne angekommen, stellte uns Major o. K. nach diesem schweren und bedeutungsvollen Gange Seiner Exzellenz dem Herrn Gouverneur vor. Damit hatte diese Begebenheit, die ich nie vergessen werden, ihren Abschluß gefunden.

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Am Nachmittag desselben Tages traf ich dann noch meine Frau.
Die Freude des Wiedersehens war natürlich groß. Ich konnte darauf noch einige Tage in Tsingtau verbleiben, wo ich meinem Batteriechef zugeteilt war. Am 14. November wurde ich mit dem Rest der Tsingau-Besatzung in Kriegsgefangenschaft abgeführt.
R. Hönemann,
M. F. B.

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Vom wahren und falschen Frieden.

Wie die herbstlichen blätter zu Boden fallen, so fällt ein Tag nach dem andern von unserem Lebensbaum herab. Unaufhaltsam fallen sie und verwehen, ohne Namen, ohne Geschehen, ohne Erinnerung. Monate werden aus ihnen, Jahre, unerlebt und kaum gelebt, die dem sonnigen Reiche der Hoffnungen und Luft-schlösser gerade entsprangen in Nichts zerrinnen.
Ein Jahr reiht sich an das andere, um uns, doch ohne uns. Wenn wir dessen vergessen wollten, die Natur erinnert uns daran. Mit schneeiger Pracht schmückt sie im Frühjahr die bäumen und läßt das wartemüde Herz froher, hoffnungsvoller schlagen. Im hellen Licht des Frühsommers reift das Korn, auf dessen Ernte die neue Saat schon wartet. Kaum sind die Halme geschnitten, spiegelt sich schon der blaue Himmel in dem schier endlosen, sonnenglitzernden See der Reisfelder, in denen unzählige, hellgrüne Pflänzchen in Reih und Glied aufmarschieren. In der grellen feuchtwarmen Glut des Hochsommers wachsen sie heran und grüßen des Herbstes durchsichtige Klarheit mit schweren Ähren. Wenn aber vom großen Festland her die rauhen Winde herüberbrausen, dann zieht die Pflugschar aufs neue langsam ihre Furchen und lockert die fruchtbare Erde. Der Kreislauf ist beendet; ein Körnchen unserer Sanduhr

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ist gefallen; der Strom des Lebens und Geschehens ist eine Jahresspanne lang in seinem neuen freuen Bette an uns vorbeigeglitten, und aus weiter Ferne, kaum vernehmbar, hören wir in träges schlammiges Altwasser getrieben, das Rauschen und rollen seiner Wogen.
Meinst Du nicht den Frieden vor Dir zu sehen? Stampft nicht die Maschine des Lebens im gewohnten Gang des Alltags vor Dir auf und nieder? Keine Verwüstungen und Zerstörungen, nirgends Spuren des großen Krieges. Wie fröhlich spielen die Kinder; wie unermüdlich pfeifen die Fabriken zur Arbeit, wie lockend und einschmeichelnd tuten und heulen die Dampfer vom Hafen herüber. Tag und Nacht rufen die dröhnenden Gangs, die klappernden Gebetstrommeln, die Litaneien der Geschorenen, die wandernden Pilger herbei zu Buddha, dem Erleuchteten, zu Kwannon, der Gütigen.
Du meinst den Frieden zu sehen und siehst doch nur eine Fata Morgana, wie der Wanderer in der Wüste. Zwischen Dir und diesem Scheinfrieden klafft ein Abgrund, unergründlich tief und dunkel, unüberbrückbar. Das ist nicht Dein Friede – der Du den Krieg im Herzen, im Blute, in all Deinen Gedanken trägst. Ein heuchlerisches Trugbild, das wir nicht verstehen wollen noch können; kein Genuß, sondern eine Qual; ein Friede so eisig kalt, daß er das Blut in den Adern erstarren läßt. Ist’s da nicht eine freundliche Wohltat, daß die Tage so eilends, wie sie gekommen, in das Nichts fliehen, das sie verdienen? Miß sie nicht, denn sie sind nicht meßbar; aber suche ihre graue Richtigkeit durch Tätigsein ein wenig zu vergolden, und sie werden es Dir durch größere Eile in ihrem Kommen und Gehen lohnen. – – –
Ganz oben, auf der höchsten Spitze der Insel der Einsamen siehst Du ein winziges Stückchen blauer See im Sonnenglanz.

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die Hoffnung, die Dich nie verläßt, die den wahren Frieden im Herzen trägt, ist es, die Dich grüßt.
M.

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Auflösung des Silbenrätsels in Nr. 43.

Falkenhayn.
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Zwei Jahre Kriegsgefangenschaft.

1.
Einstmals, als in Takahama
Wir den Bauch des Schiffs entstiegen,
Als wir von der Höhe liegen
Sah’n im Tale Matsuyama.

Als in hoher Bäume Schatten
Wir am Wegerande ruhten,
Denn die Japsen – ach, die guten–
Fürchteten, uns zu ermatten,

Als in langem Zug wir nahten
Unsres neuen Heimes Mauern,
Als mit ehrfürcht’gem Erschauern
Wir in Buddhas Tempel traten,

Als wir zwischen Reisesgarben
Erstmals eine Schone blickten,
Als wir erstmals uns entrückten
An des Ahorns Purpurfarben,

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Damals dacht’ ich: Wie bekannt,
Dieses ist ein Märchenland!

2.
Später, als wir erstmals stutzten,
Weil uns von den holden Gärten
Ringsum Stacheldrähte sperrten,
Vor den Blicken, den verduzten

Sich die Tore finster schlossen,
Als wir nachts auf kalten Matten
Immer kalte Füße hatten,
Als wir erstmals es genossen,

Mit den Japsen zu verhandeln,
Als das Wunder wir erfuhren,
Wie japanische Zensuren
Briefe schnell – zu Luft verwandeln,

Als zum erstenmal ich hörte:
„Warten Sie! In ein’gen Tagen!“
Und man schließlich auf mein Fragen
Lächelnd „ikenai“ erklärte,

Dacht’ ich zweifelnd: Wie bekannt,
Dieses ist ein Märchenland?!

3.
Monde sind seitdem vergangen
Und zum dritten Male schauen
Mit Entzücken und mit Grauen
Ahorn wir in Purpur prangen

Wenn ich heute es betrachte,
Wie sie quängeln, chikanieren,
Um uns schleichen, spionieren,
Was die Zeit uns alles brachte.

Von dem all, was sie verheißen,
Wie sie lächelnd was versprechen,
Wie sie’s lächelnd wieder brechen,
Wie sie Geist, Kultur beweisen,

Worum immer sie sich kümmern,
Wie von Bushido erschallen,
Alle unsre Tempelhallen,
Wenn sie mutig Glas zertrümmern,

Denk ich wieder: Wie bekannt,
Dieses ist ein „Märchenland!“ –

- dt.
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