Lagerfeuer

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Lf. Nr. 41 Matsuyama, Sonntag, den 5. November 1916

Zum 7. November.

Mehr als sonst wanderten in diesen letzten Wochen unsere Gedanken zu der Stätte zurück, an die uns das Schicksal im Kampfe fürs Vaterland gestellt hatte. Erschien uns dabei nicht unser Tun gar gering und unbedeutend, als ob es einer längst überwundenen Epoche der Kriegführung angehörte, gegenüber dem zwei-jährigen Heldentum zu Hause, gegenüber dem, was unsere Feldgrauen an der Somme und am Stochod an beinahe übermenschlichen Leistungen seit Monaten vollbringen?
Wozu aber schmerzliche und unfruchtbare Vergleiche ziehen? Erinnern wir uns lieber daran, daß wir in einer Beziehung wenigstens – und dies ist gerade das wesentliche – den Vergleich gewiß nicht zu scheuen brauchen: der Geist, der uns beseelte, der Geist, in dem all die vielen Landsleute aus ganz Ostasien nach Tsingtau eilten, um auf verlorenen Posten, nicht um Weib und Kind, um Haus und Hof, sondern für einen Gedanken, für ein sittliches Ideal zu kämpfen; ist es nicht derselbe, der auch unsere Väter und Brüder zu Hause beseelt und zum Siege führt? Dessen sollten wir uns in dankbarer Bescheidenheit freuen, statt mit unserem Geschick zu hadern. Deshalb können und dürfen wir auch die wenigen Kampfeswochen, die uns vergönnt und die mit diesem Geiste erfüllt waren, nicht aus dem Gedächtnis verlieren. Nehmen wir sie, schlicht und einfach, als das, was sie waren, und lassen wir uns die schmerzlich schönen Erinnerungen an jene und schon zwei Jahre zurückliegenden Tage nicht künstlich verkümmern!
Diese Gedanken wollen wir in einer Sammlung von

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Kriegserinnerungen in diesen Blättern verwirklichen. Gott sei Dank kann und will nicht jeder über seine Erlebnisse ein Buch schreiben. Aber manche Begebenheit, manches Ereignis, das sich auf Patrouille, im Infanterie-Werk, im kleinen Rahmen der Kompagnie oder Batterie abgespielt hat, verdient doch der Tiefe des Tagebuchs entrissen und dem größeren Kreise der Mitkämpfer und Kameraden bekannt zu werden, von denen jeder ein recht vollständiges Bild jener Zeit mit nach Hause nehmen will. Gerade in unserm Lager sind günstigerweise beinahe alle Teile der Besatzung vertreten, vom jungen frischen Patrouillenreiter bis zum bedächtigen, aber nicht minder süchtigen „mobilen“ Landsturmmann. Da ruht gewiß noch manches Neue und Interessante, das zur Abrundung des Gesamtbildes dient, manch herzerfrischender Zug im Verborgenen.
In der heutigen Nummer bringen wir eine erste Reihe von Beiträgen, in denen die Tsingtauer Zeit wieder vor unser geistiges Auge treten soll. Weitere Beiträge werden wir in zwanglosen Zwischenräumen folgen lassen. Jeder ohne Ausnahme möge uns in diesem Vorhaben zur Freude seiner Kameraden nach seinen Kräften unterstützen, auf daß diese Blätter nicht nur eine „Kriegsgefangenenzeitung“, sondern auch ein klein wenig eine „Kriegszeitung“ werden und dadurch noch mehr als bisher über die Gefangenschaft hinaus dauernden Wert erhalten!

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Der Landsturm in Tsingtau.

Als auf die Nachricht vom Kriegsausbruch die Tsingtauer Garnison mobilisiert wurde, zog man zunächst nur Reserve und Landwehr ein, nicht aber den Land-sturm. Dafür erließ das Schützenkorps Kiautschou im Einverständnis mit dem Gouvernement einen Aufruf an Landsturmpflichtige und Freiwillige, sich zur Ausbildung im Schießen an dem täglich stattfindenden Scharfschießen auf dem Schießstand des Korps zu beteiligen. Das war jedenfalls das Geeignetste, was unter den obwaltenden Umständen sich tun ließ, und der Erfolg des Aufrufs war denn auch, daß über 60 Mann unter sachkundiger Leitung sich mit Eifer im Schießen übten in der Hoffnung, daraufhin im Festungskampf mit Nutzen verwendet werden zu können.
Kurz darauf beschloß das Gouvernement, aus Freiwilligen eine Bürgerwehr und eine Feuerwehr zu bilden, von denen die erstere mit Gewehr und Seitengewehr bewaffnet, sonst aber in Zivil und nur durch eine weiße Binde um den Arm mit der Aufschrift „Bürgerwehr“ kenntlich gemacht, den Sicherheitsdienst in der Stadt übernehmen sollte. Ehe die neue Bürgerwehr aber noch zur Ausübung ihres Dienstes kam, wurde sie wieder aufgehoben, ein Entschluß, zu dem sich das Gouvernement wohl hauptsächlich durch die Erwägung veranlaßt sah, daß bei einer Erstürmung der Festung bewaffnete Bürger wahrscheinlich auch durch die Binde nicht von dem Schicksal geschützt gewesen wären, als Freischärler an die Wand gestellt und erschossen zu werden.
An Stelle der Bürgerwehr wurde nun am 19. August der Landsturm I und II aufgeboten, zu dem sich noch eine Anzahl Kriegsfreiwilliger gesellte. Der Landsturm wurde in

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drei Züge eingeteilt, in den für den militärischen Dienst bestimmten 1. und 2. Zug, zusammen etwa 150 Mann, und den Feuerwehrzug von etwa 50 Mann, welch letzterer übrigens nicht nur im Löschwesen, sondern auch im militärischen Dienst ausgebildet wurde. Die Truppe unterstand dem Kommandanten der inneren Stadt, Kapitän z. S. Timme. Die Führer des 1. und 2. Zuges waren Richter Lehman und Garnisonverwaltungs-Inspektor Walter, die beide zu diesem Zweck zu Hilfsoberleutnants ernannt wurden. Die Feuerwehr befehligte anfangs Landmesser, Oberleutn. d. L. Gödecke, später Baurat, Leutn. d. L. Strasser. Die Einkleidung der Züge erfolgte aus Beständen des III. S.B., die Ausrüstung mit dem Gewehr M/88.
Die Mannschaft war bunt zusammengewürfelt: Nicht allein aus Tsingtauern setzte sie sich zusammen, was man gerade beim Landstum hätte erwarten können, sondern aus den fernsten Gegenden Ostasiens; aus Tientsin, Tsinanfu, Hankou, Siam, Wladiwostock, Japan usw. waren Alte und Junge, Gediente und Ungediente zum Teil schon vor der Einberufung des Landsturms herbeigeeilt, um unsere Kolonie verteidigen zu helfen; die verschiedensten Berufe fanden sich hier zusammen: da stand der ältere Geheimrat als ungedienter Landsturmmann in Reih’ und Glied neben dem jungen Kaufmann und stand stramm wie dieser vor dem Unteroffizier, der früher sein Untergebener war. Es war wirklich eine Freude zu sehen, mit welch erstaunlicher Schnelligkeit sich die Mehrzahl in die militärische Disziplin hineinfand, ein Beweis dafür, wie tief bei uns Deutschen der preußische Soldatengeist in allen Ständen eingewurzelt ist. Die denkbar größten Gegensätze aber wies unsere Truppe hinsichtlich des Alters auf: der Jüngste stand

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im 15., der Älteste im 53. Lebensjahre, und hinsichtlich der militärischen Ausbildung: die meisten waren nie Soldat gewesen, gedient hatte fast nur der Landsturm II, und das waren fast ausschließlich Chargierte, vom Gefreiten bis zum etatsmäßigen Feldwebel; diese aber entstammten wieder den verschiedenensten Truppengattungen: Infanterie, Marine und Kavallerie waren vertreten. Zu all diesen Gegensätzen kam schließlich noch, wenn auch nicht am wenigsten störend für die Ausbildung der Unterschied in der körperlichen Leistungsfähigkeit. Da war mancher von den älteren Herren, den das Postenstehen in den Regengüssen, wie wir sie während der Belagerung so reichlich erlebten, doch recht schwer wurde, mancher, der beim Sturmangriff mit aufgepflanzten Seitengewehr das Hurra-Rufen der jüngeren Kameraden überließ und froh war, den Anschluß an die Sturmlinie zeitig genug zu erreichen, um sich wenigstens noch am Verfolgungsfeuer beteiligen zu können.
Untergebracht waren die Züge 1 und 2 in den Zentralhotel, das zu diesem Zweck von der Hotelverwaltung abgemietet war, die Feuergewehr in der katholischen Mission. Die Küche wurde im Zentralhotel von einigen Frauen durchaus zur Zufriedenheit besorgt; und wenn gar ein freundwilliger Kamerad, der daheim sich Schweine groß gezogen hatte, eines dieser Borstentiere für die Küche spendete, dann war wirklich von der Not der Belagerung nichts zu fühlen. Das auch niemand verdurstet ist, bedarf wohl weiter nicht der Erwähnung.
Die militärische Ausbildung war bei der erwähnten Zusammensetzung der Truppe begreiflicherweise recht schwierig, und wenn gleichwohl recht erfreuliche Ergebnisse in kurzer Zeit erzielt wurden, so ist das dem allseitigen großen Eifer und wohl auch dem Umstande zu danken, daß die Mehrzahl

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in gereifterem Alter stand. Natürlich wurde alles, was nicht unbedingt notwendig war, wie Gewehrgriffe und Parademarsch fortgelassen, und die Ausbildung be-schränkte sich auf Zug- und Kompagnieexerzieren: Garnisonwachtdienst, Feld-dienst und Schießen. Die Aufgabe des Landsturms war es, möglichst viele Truppen für die Front frei zu machen durch Übernahme des militärischen Dienstes in der Festung. Der Landsturm besetzte daher die folgenden Wachen: Deutsch-Asiatische Bank, Verpflegungsamt, Polizeiamt und Elektrizitätswerk und unterhielt nachts einen geregelten Patrouillengang innerhalb der Stadt. Vorgesehen war ferner für die Tage der Beschießung, dass auf das Alarmsignal hin die wichtigen Straßenkreuzungen in der inneren Stadt besetzt werden sollten. Vom Landsturm wurden ferner Mannschaften abgegeben für das Rote Kreuz, für den Fuhrpark, für Polizeidienste, in die Schlachterei und Bäckerei und zur Versorgung des Schlachtviehs.
Durch Gouvernementstagesbefehl vom 12. Oktober wurde die Bildung eines mobilen Landsturmzuges - oder, wie er ursprünglich amtlich bezeichnet wurde: „Landsturm gegen den Feind“ – aus Freiwilligen aller drei Züge befohlen. Zur selben Zeit wurde der Feuerwehrzug seines militärischen Charakters entkleidet: seine Mitglieder trugen von nun an Zivil, waren aber zum Löschdienst verpflichtet und bildeten die sogenannte „Pflichtfeuerwehr“.
Für den mobilen Landsturmzug - so bezeichneten wir uns selbst und dieser Name hat sich auch durchgesetzt – meldeten sich 35 Mann, von denen 5 später, meist wegen Krankheit, wieder zurücktraten. Von den 30 Mann, aus denen somit der mobile Landsturmzug sich schließlich zusammensetzte, waren nur 4 gediente Soldaten: 1 Feldwebel, 1 Vizefeldwebel,

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1 Sergeant und 1 Unteroffizier. Später, am 4. November, als der Zug in der Moltkekaserne lag, wurde uns bekanntgegeben, daß sämtliche Mannschaften zu Gefreiten befördert seien, zwei Gefreite zu Unteroffizieren, der Sergeant zum Vizefeldwebel und der Unteroffizier erst zum Sergenaten und am Tage darauf weiter zum Vizefeldwebel. Auch ein seltener Fall in der deutschen Armee.
Zum Führer des mobilen Landsturmzuges wurde Oberleuten. Wiegand ernannt, der schon die Kämpfe im Vorgelände in der 4. Kompagnie mitgemacht hatte. Freundlich und doch dabei energisch war er für seinen Posten, der recht viel Takt erforderte, ganz der geeignete Mann und hat es auch verstanden, sich die unbe-dingte Hochachtung und Zuneigung seiner Landstürmer zu erwerben. Der mobile Landsturm war dazu bestimmt, in der Front mitzukämpfen und bildete zusammen mit der Marinekompagnie und der Besatzung der „Kaiserin Elisabeth“ die Reserve der Festung, die unter dem Oberbefehl des Korvettenkapitäns Sachse stand.
Die Ausbildung des mobilen Landsturms beschränkte sich von nun an auf das für die neue Aufgabe allein Erforderliche: auf Schießen und Felddienst. Das erstere ging nicht immer ohne Unterbrechungen von statten: das eine Mal kreiste der feindliche Flieger über uns, das andere Mal wurde die Batterie von Huitschenhuk von der feindlichen Flotte unter Feuer genommen, so daß wir wohl oder übel Feuerpausen einlegen mußten. Die Felddienstübungen hielten wir meist allein für uns ab, einmal aber auch mit den Österreichern unter Oberleutnant v. Schlick zusammen. Eines Nachts wurden wir in die auf der Frobelhöhe angelegten Stel-lungen geführt, da die Absicht bestand, die Reserven in

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diese Stellungen zu legen; später hat man diesen Plan wieder fallen lassen. Jedenfalls machten wir bei dieser Übung eine Erfahrung, die uns für unsere späteren Nachtmärsche sehr zustatten kam, daß nämlich bei Nacht das Getrennt-Marschieren wesentlich leichter ist als das spätere Sich-Wiederfinden.
Vom 30. Oktober an befand sich der Zug in Alarmbereitschaft, es durfte also nur in den Kleidern geschlafen werden. Am Spätnachmittag des 2. November wurden wir alarmiert und rückten in Reservestellung hinter den Moltkeberg beim Artilleriedepot, wo wir mit den Österreichern zusammen die Nacht an dem Wege zubrachten, der die untere Taitungtschenstraße mit der oberen verbindet. Während die Österreicher, in ihre weißen Wolldekcen gewickelt, wie die Mehlsäcken am Wegrande lagen und den Schlaf des Gerechten schliefen, lehnten sich die meisten von uns mit dem Rücken gegen die steile Lehmwand, in die dort der Moltkeberg gegen die Straßen abbricht und versuchten mit mehr oder weniger Glück zu schlafen. Aber bald setzten ein leiser, aber um so eindringlicherer Regen ein, und wem das Einschlafen auch anfangs gelungen war, der wurde bald genug durch die Bächlein gemerkt, die in den Rinnen der Lehmwand herabrieselten, um schließlich eine ungewohnte Mündung in den diversen Mantelkragen zu finden. So zogen es denn die meisten vor, den Rest der Nacht wachend zu verbringen. Zu hören und zu sehen gab es ja auch die ganz Zeit über genug, um uns munter zu halten. Da wurde Batterie Patzig beschossen und wir beobachteten mit Spannung, wie ein von einer Granate hervorgerufener Grasbrand dicht unterhalb der Batterie

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allmählich höher züngelte und auch die kleinen Sträucher ergriff und schon zu einem die Batterie aufs schönste beleuchtenden Waldbrande sich zu entwickeln drohte, als zum Glück eine zweite, auf derselben Stelle einschlagende Granate durch ihre Rauchentwicklung den Brand erstickte. Dann beobachteten wir auf der anderen Seite den immer heller auflodernden Brand der Werft. Die Musik aber zu diesem Schauspiel lieferte außer unseren Festunggeschützen und den explodierenden japanischen Granaten aus nächster Nähe unsere Haubitzbatterie, die auf der Höhe rechts von uns Aufstellung gewonnen hatte. Als der Morgen zu grauen begann, wurden wir zurückgezogen und konnten uns den Tag über, es war der 3. November, in unterem Quartier im Zentralhotel trocknen und ausruhen. Und das war auch sehr erwünscht; denn schon nachmittags um 4 Uhr verließen wir nunmehr endgültig das Zentralhotel, um uns näher an die Front heranzuziehen. Zunächst ging der Marsch bis zu dem Hause von Winkleru.Co. dort erhielten wir Proviant und unser Führer berief uns Unteroffiziere und Gruppenführer zusammen und klärte uns über unsere Bestimmung auf. Darnach stand der mobile Landsturm von jetzt an zur Verfügung des Kommandeurs des linken Flügels, der Oberstlt. Kuhlo, und hatte die Aufgabe, zusammen mit der Marinekompagnie und dem O. M. D. die Schützengrüben am Haipo-Wäldchen zwischen I.W. 5 und Taitungtschen zu besetzen. Einzeln, in größeren Abständen gingen wir nun vor bis zu den Unterständen auf der Frobelhöhe. Kaum aber waren wir in diese Kaninchenlöcher hineingekrochen, als wir – es war mittlerweile gegen 11 Uhr geworden – den Befehl bekommen, in den Kellerräumen der Moltkekaserne Unterkunft zu beziehen. Hier lagen wir den Rest der Nacht und den folgenden Tag, den 4. November, in Alarmbereitschaft, um gegen 7 Uhr abends wieder in die Unterstände auf der Frobelhöhe zu rücken. Dort kamen wir auch ohne Verlust an, da wir das Glück hatten, daß ein Schrapnell, das die zu den Unterständen

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führende Rawine herabfegte, gerade als wir sie hinaufstiegen, mitten zwischen und hindurchtaufte, ohne einen einzigen zu treffen. Dort lagen wir nur einige Stunden, während über unsere Köpfe die verirrten Infanteriegeschossen hinwegpfiffen, die wohl von dem links vor uns im Watt tobenden Kampfe herrührten. Gegen Mitternacht wurden wir noch näher an die Front befohlen dicht hinter die uns bestimmte Stellung im Haipowäldchen, in die Unterstände an dem gedeckten Wege zwischen I. W. 5 und Taitungtschen, wo wir zur Verfügung des Hauptm. Berndt stehen sollten. Auch diesen Weg legten wir natürlich in aufgelöster Ordnung zurück, um Verluste zu vermeiden. Und das tat auch not, denn der Weg über den Moltkeplatz, wie besonders der durch Taitungtschen, wurde vom Feinde dauernd unter Schrapnellfeuer gehalten. Die Nacht verging ruhig, wenigstens für uns, insoweit als wir nicht zum Eingreifen kamen, und beim Morgengrauen ging es wieder im Eilmarsch zur Moltkekaserene zurück, wo unser Kommandeur uns schon erwartete, ungeduldig über unser spätes Eintreffen bei Tageslicht, wodurch wir leicht den Japanern verraten konnten, daß die Kaserne bewohnt war. In diesem Falle konnten wir mit Sicherheit darauf rechnen, aus unserem behaglichen Schlupfwinkel durch japanische Granaten ausgeräuchert zu werden. Das hätte noch dazu nicht nur uns geschädigt, sondern auch die Österreicher, die unsern Schlupfwinkel mit uns teilten. Und so versteckt lebten wir dort, daß am Tage niemand sich im Hofe oder an einem Fenster des oberen Stockwerks zeigen durften; sonst war aber der Aufenthalt sehr gemütlich, fanden wir doch auch Gelegenheit, unsere Beförderungen sehr vergnügt zu feiern mit Hilfe eine Fäßchen Lagerbiers, das wir uns unter dem Schutze der Dunkelheit von der Brauerei, die es uns gestiftet hatte, abholten.
Am 6. November 6 Uhr abends wurden plötzlich unser Zug sowohl wie die Österreicher alarmiert, und wir, d.h. der Landsturm, eilten

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im Laufschritt durch Taitungtschen, während die Schrapnellkugeln wie Hagel auf die Dächer herabprasselten. Dies heftige Feuer, mit dem die Japaner die Zugangswege zur Front unter Feuer hielten, wies schon darauf hin, daß vorne etwas Besonderes for sich ging. Wieder kamen wir in dieselben Unterstände. Heftiger als in der vergangenen Nacht rasselte das Infanterie- und Maschienengewehrfeuer, donnerten die Geschütze, aber diesmal wurde das Feuer nicht allmählich schwächer, sondern nahm vielmehr an Heftigkeit zu. Nach Mitternacht wurde der Rest des O. M. D. zur Verstärkung in die Schützengräben befohlen, dann die Marinenekompagnie und gleich darauf in der Morgendämmerung ertönte der Ruf: „Alles raus!“ Wir stürzten hinaus in den dämmernden Morgen und wurden an der Böschung des gedeckten Weges von den Unterständen bis zum Krematorium zusammen mit Teilen der Marinekompagnie in Schützenlinien auseinandergezogen. Hier lagen wir nun und suchten die Dämmerung mit den Blicken zu durchbohren. Über und zwischen uns pfiffen vereinzelte Infanteriegeschosse, von denen eines meinem Nachbarn den Laufmantel aufriß, absprang und ihn nur an der Backe schrammte. Das war übrigens außer einem Loch im Rockärmel eine anderen Kameraden die einzigen Kugelspur, die einer von uns aufzuweisen hatte. Wir können von Glück sagen! Hinter uns, jenseits des Hohlweges, an dessen Rand wir lagen, schlugen die Granaten ein. Auf einmal rief jemand: „Ein Flieger!“ Dieser üble Vogel hatte uns offenbar entdeckt; denn gleich darauf hörte das Granatfeuer auf und plötzlich sahen wir vor uns, wohl etwa 60 m hoch, die Sprengwölkchen von drei Schrapnells. Im nächsten Augenblick sauste auch schon der Geschoßhagel zwischen uns durch und so folgte Salve auf Salve. Offenbar kannte die japanische Artillerie ganz genau die Lage unseres Hohlweges; denn so haarscharf trafen die Schüsse den Rand der Böschung, daß während kurz vor mir einschlagende Kugeln mich mit Erde bespritzten, ein

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Mann der M. K. der dicht unter mir im gedeckten Wege dahinging, einen Schuß anscheinend in den Unterleib erhielt, denn er faßte sich an den Leib und brach auf der Stelle zusammen. Während dessen sahen wir vor uns gegen den heller werdenden Morgenhimmel dunkle Gestalten auftauchen. Wie oft hatte ich mein Gewehr schon entsichert, in der Meinung, es seien Japaner, und uns allen ist es wohl so gegangen, aber zur Ehre des Landsturms kann ich es sagen: Kein Gewehr ging blindlings los; wir warteten so lange, bis wir die Gestalten deutlich erkennen konnten, und dann stellte es sich jedesmal heraus, daß es Leute der M. K. oder des O. M. D. waren, die sich aus dem Schützengraben auf unsdere Aufnahmestellung zurückzogen. So hatte der Landsturm leider nur am rechten Flügel Gelegenheit, einige vereinzelte Schüsse auf weit entfernte Japaner abzugeben. Das war nicht unsere Schuld, unsere Schuld aber wäre es gewesen, wenn wir in nervöser Hast auf unsere eigenen Kameradn geschossen hätten.
Inzwischen kam vom rechten Flügel die Meldung, daß Taitungtschen von den Japanern besetzt sei. Also waren wir umgangen, und unsere Stellung mußte unhaltbar werden, wenn auch unsere Reihen durch die Unverwundeten der M. K. und des O. M. D. verstärkt war. In diesem kritischen Zeitpunkt hörte man aus der Ferne das Signal: „Das Ganze Halt!“ Der Kampf war zu Ende. Tsingtau war gefallen. Der Schmerz des Augenblicks machte sich bei dem einen in Tränen Luft. bei dem andern in einem Wutausbruch. Jeder aber zerschlug sein Gewehr auf den Stein, um es wenigstens nicht unversehrt dem Feinde zur Beute zu lassen. Wir halfen die Verwundeten aufsuchen und bergen, und dann mußten wir auf der großen Straße am Nordausgang von Taitungtschen antreten, wo wir einige Stunden stehen blieben. Inzwischen zogen japanische Truppen an uns vorüber und kamen auch Engländer. Als die letzteren

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nahe an uns heran waren, rief Oberleutn. Wiegand uns zu, wir sollten uns doch einal die schöne Gegend auf der andern Seite ansehen. Das war das richtige Wort an der richtigen Stelle. Im Augenblick, als die englische Kolonne uns erreichte, machte alles kehrt und drehte den Engländern die Rückseite zu. Um aber Miß-verständnisse über den Sinn unseres Manövers nicht aufkommen zu lassen, wurde prompt wieder kehrt gemacht, sowie der letzte Engländer an uns vorbei gezogen war. Und so machten wir es bei jeder einzelnen Abteilung Engländer oder Inder. Der kleine Japs aber, dr uns überwachte, grinste dabei verständnisinnig.
Endlich wurden wir nach Tsingtau zu in Marsch gesetzt, und dabei mußten wir noch das empörende Schauspiel mitansehen, daß eine Abteilung der unseren mit auf dem Rücken gefesselten Händen abgeführt wurde. In der Nähe des Artillerie-depot sahen wir einen Trupp mit Gewehren bewaffneter chinesischer oder mongo-lischer Reiter lagern, höchstwahrscheinlich Hunghutten, die den Japanern Kundschafterdienste geleistet hatten. Gegen Mittag kamen wir glücklich in der Bismarckkaserne an, wo wir bis gegen 5 Uhr auf dem Kasernenhof lagen. Dann marschierten wir, von einigen japanischen Unteroffizieren und Mannschaften begleitet, in der Richtung Tsingtau ab. Die Optimisten unter uns behaupteten, wir kämen in unser altes quartier im Zentralhotel. Das erwies sich indessen als ein Irrtum; denn vir bogen in die Bismarckstraße ein. Da wir von unseren Führern nicht herausbekommen konnten, was man mit uns vor hatte, so fragte Oberleutn. Wiegand als wir an der Einmündung des Elisabethweges auf eine Kompagnie Japaner traf, die dort biwakierte, einen der Offizieren auf englisch, wohin man uns denn führen wolle. In groben Tone und mit fühlbarer hämischer Genugtuung erwiderte jene, wir hätten die Nacht durch zu marschieren über den Lauschan;

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zu essen brauchten wir nicht und wenn wir angeblich nicht marschieren könnten, so würden wir schon dazu gezwungen werden. Das war ja nun eine recht ange-nehme Aussicht. Aber was half es, wir mußten weiter marschieren durch Taitungtschen hindurch, stolpernd auf den von Granatlöchern zerrissenen Wegen, bis wir unvermutet kurz vor dem großen Hindernis bei I. W. 4 Halt machten. Hier machte der Posten, indem er auf die Wiese deutete, auf der wir standen, die Geste des: „Bitte nehmen Sie Platz!“ Das war ja zwar immerhin besser, als die Nacht hindurch zu marschieren, aber schön auch nicht; denn in dem scharfen Novemberwind waren wir bald trotz eines rasch entzündeten Biwakfeuers bis auf die Knochen durchfroren: Doch das Glück wollte uns wohl: Noch einigen Stunden des Frierens kam zufällig ein japanischer Offizier des Weges, und dies mal ein freundlicherer, der uns gestattete, uns in Taitungtschen Unterkunft zu suchen. Mit Freuden marschierten wir zurück in das Dorf und fanden dort in der evangelischen Missionskapelle doch wenigstens einigermaßen Schutz gegen die Kälte. Am nächsten Morgen erhob sich die Frage: Wohin nun?, aber – und das ist bezeichnend für das japanische Organisationstalent – nicht bloß bei uns, sondern auch bei unserer Bewachungsmannschaft, die uns durch Zeichen befragte, wohin wir wollten. Natürlich wiesen wir energisch nach Tsingtau, und richtig, nach einigem Zaudern und Palawern marschierten wir in der Richtung auf Tsingtau ab. In der Richtung! Denn leider stießen wir bald auf einen japanischen Offiziersposten, der uns nicht durchließ, aber auch nicht zurückschickte. Wohl eine Stunde verhandelte Oblt. Wiegand mit ihnen und unsere Hoffnungen war schon bis auf den Gefrierpunkt gesunken, als unsere Erlösung in Gestalt eines zufällig des Weges kommenden japanischen Offiziers nahte,

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der uns vielleicht aus Rücksicht auf Verpflegungsschwierigkeiten die Erlaubnis gab, nach Tsingtau in die Bismarckkaserne zurückzukehren. Wer war froher als wir! Hatten doch nun die Tsingtauer unter uns die Aussicht, vor dem Abtransport nach Japan noch einmal ihre Familien wiederzusehen, alle aber gemeinsam die tröstliche Gewißheit, nun bald den knurrenden Magen befriedigen zu können.
Einige Tage waren uns noch in Tsingtau gestattet, während derer jeder Gelegen-heit hatte, sich für die Gefangenschaft auszurüsten; denn erst am 10 November erfolgte der Abtransport des größten Teiles des mobilen Landsturms. Der nicht-mobile Landsturm und die Feuerwehr sind erst wesentlich später und zu verschiedenen Zeiten nach Japan in Gefangenschaft gebracht worden bis auf einige wenige, die so vorsichtig waren, sich durch rechtzeitige Abreise aus Tsingtau der drohenden Gefangenschaft zu entziehen
Küntzel.

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Der Kampf um I. W. 4.

Nachfolgende Übersetzung aus einer japanischen Zeitung wurde uns liebenswürdigerweise zu Verfügung gestellt:

Irrtum im amtlichen Bericht über den Fall von Tsingtau.
Die erste Eroberung eines feindlichen Werkes war nicht die des I. W. 3, sondern die des I.W. 4.

Im amtlichen Bericht des Kriegsministeriums vom 7. XI. 14 über die Eroberung von Tsingtau wird diese den Truppen der Mitte (General Yamada) zugeschrieben, von denen zwei Kompagnien

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Infanterie und 1 Zug Pioniere am 7. 11. 140 Uhr vorm. bis in die Feuerstellung des I. W. 3 durchstießen, das Werk eroberten und 200 Gefangen machten.“ die nach-stürmenden Abteilungen eroberten hierauf die anderen Weke und Batterien der Festung, deren Übergabe der Gegner durch Hissen der weißen Flagge zu erkennen gab. Der Führer der ersten in das I. w. 3 einbrechenden Sturmkolonnen war Lt. Nakamura; er lebt im Glanze seines Triumphs und seine Tat gelangte bis zu den Ohren des Kaisers. Der Fall der ganzen Festung wurde aber nicht, wie berichtet wird, durch die Eroberung von I. W. 3 eingeleitet, sondern durch die von I. w. 4, das mehr als vier Stunden vor dem gegen I. W. 3 ausgeführten Angriff in die Hände der Sturmkompagnie 4/48 fiel. Leider sah sich die Kompagnie gezwungen, das Werk wieder aufzugeben und sich zurückzuziehen, da sie allein, ohne jede Unterstützung und infolge ihrer großen, mehr als die Hälfte der Kompagnie betragenden Verluste, dem Gegenangriff der Werkbesatzung nicht Stand halten konnte.
Im Gefechtsbericht des Regiments wird die verdienstvolle Handlung der Kom-pagnie kaum gewürdigt und ihr dadurch eine den Tatsachen entgegentretende Bedeutung zugelegt. Im Gefechtbericht heißt es: Infolge des eigenmächtigen Entschlusses des Kompagniechefs blieb die gewaltsame Ausklärung der 4. Kompagnie gegen I. W. 4 ohne Erfolg. Dieser Absatz fand auch im amtlichen Bericht der Militärbehörde Aufnahme, wodurch das Verdienst der 4/48 gar nicht bekannt wurde.
Der Angriff auf I. W. 4 verlief wie folgt:
Hauptm. Kitano, Chef der 4/48, wunderte sich am 6. 11. abends über die vollkommene Ruhe im I. W. 4. Er ließ gegen 8 Uhr abends die Sergt. Eto und Takao mit je drei Mann von Front und Flanke aus gegen das Werk vorgehen. Sergt. Takao meldete: „Im Werk kein Gegner.“ Die Meldung des Sert. Eto besagte: „Gegner

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insgesamt kaum 10 Mann stark.“ Hptm. Kitano sammelte darauf seine Kompagnie, in Wirklichkeit 2 1/2 Züge, und befahl den Vormarsch. Die Kompagnie gelangte durch das zerstörte Haupthindernis hindurch bis in das Werk. Trotz des feindlichen Feuers erbeutete sie fünf Maschinengewehre und machte zehn Gefangene, die in Deckung gebracht wurden. Die ganz Kompagnie rief Bansai. Gegen 10 Uhr abends befahl der Kompagniechef, um des Besitzes der eroberten Geländes sicher zu sein, das Ausheben von Verteidigungsanlagen. Infolge des sehr heftigen Feuers der Deutschen, besonders mit Handgranate und infolge des Ausbleibens jedweder Unterstützung durch rückwärtige Abteilungen, wurde die Lage der Kompagnie recht verzweifelt. Die Mannschaften riefen: „Erstes Bataillon vor, 48. Regiment vor!“, um dadurch rückwärtige Abteilungen zur Unterstützung anzuregen – jedoch vergebens. Hptm. Kitano begann sich zu beunruhigen. Trotz des zu dieser Zeit einsetzenden heftigen feindlichen Infanterie- und Artilleriefeuers (M. F. B. hatte vom K. d. L. den Befehl erhalten: I. W. 4 wird angegriffen, M. f. B. hat das nahe Vorgelände des Werks unter Feuer zu halten. Amn. d. Übersetzers), besonders aber auch mit Handgranaten, wurde ausgehalten und die Erdarbeiten weiter gefördert. Da unternahm der Gegner, der in Erfahrung gebracht hatte, daß unsere Kompagnie allein war, vom rechten Flügel aus einen Gegenangriff. Unsere Verluste waren unter dem lebhaften feindlichen Kreuzfeuer sehr groß. Alle Leute riefen erneut und fortgesetzt: „Regiment 48 vor!“ Da aber trotzdem keine Hilfe eintraf und der feindliche Gegenangriff von größter Wirkung war, fielen die eroberten Maschinengewehre und die Gefangenen wieder in des Feindes Hände.
Unsere Schützenlinien lichteten sich mehr und mehr, und der gewonnene Erfolg unserer kleinen Abteilung brach allmählich zusammen. Hptm. Kitano erhoffte immer nach baldige Ankunft

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rückwärtiger Abteilungen und besprach sich hierüber mit dem ältesten Zugführer, Leutn. Yasube. Dieser wußte keinen Rat. Während beide Offiziere berieten und keinen Ausweg aus dieser Lage fanden, wurden Hptm. Kitano am rechten Arm durch ein feindliches Artilleriegeschoß schwer verwundet. Leutn. Yasube befahl in der Nähe befindlichen Soldaten, den Kompagniechef zu verbinden und hinter die Stellung zu transportieren. Der Rest der Kompagnie wurde herangeholt und der Kampf ging weiter. Der Gegner setzte seinen Sturmangriff vom rechten Flügel her fort und drohte, uns ganz zu umfassen. Hierbei wurde Säbelfähnrich Ienaka, der Fürhere des 3. Zuges, verwundet und mußte zurückgehen (Oblt. Nakamura, Führer des 1. Zuges, war am Tage vorher gefallen). Die Kompgnie verlor allmählich ihre Gefechtskraft und hatte nahezu keine Munition mehr. Ein Bayonettangriff stand bevor. Um diesen zu vermeiden, entschloß sich Leutn. Yasube zum Rückzug. Die Leute ganz und gar in Unordnung, Tote und Verwundete ohne Ende, so zog man sich bis in den Außengraben des Werkes zurück. Dort lag noch Hptm. Kitano, der bereits mehreremale mit seinem gesunden linken Arm Harakiri zu begehen versucht hatte, von den Sanitätssoldaten jedoch daran verhindert wurde. Wie der Kompagniechef den Rest der Kompagnie zurückkommen sah, wurde er äußerst wütend und zog Lt. Yasube zur Rechenschaft, worauf dieser die Kompgnie ungeachtet des feindlichen Verfolgungsfeuers und trotzdem ihre Gefechtskraft bereits zusammengebrochen war, an die alte Stelle zurückführte.
Von Beginn des Durchstoßes an, in beinahe fünfstündigem Gefecht fielen rund 56 000 Schuß. Wir hatten 37 Tote, 40 Schwer- und 42 Leichtverwundete, kaum 33 Mann kehrten in die Einbruchsstellen zurück. Wenn das Infanterieregiment 48 oder wenigstens das 1. Bataillon oder andere rückwärtige Abteilungen die Kompagnie

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unterstützt hätten, so wäre die Eroberung des I. W. 4 und damit der ganzen Festung gelungen.
HptmKitano ist infolge seiner Verwundung aus dem aktiven Dienst ausgeschie-den; Lt. Yasube ist jetzt Fliegeroffizier und Fähnrich Ienaka ist seiner Verwundung beim Transport erlegen.“

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Den Erinnerungen des Waffenmeisters Gerbig entnehmen wir folgende Darstellung dieses Kampfes:
Am 6. November meldete abends gegen 10 Uhr der Post aus der Frontlinie starke feindliche Kolonnen, die bereits ins Werk eingedrungen seien. Unser Werkkommandant alarmierte sofort die Besatzung. Es begann ein mörderisches Feuer der Japaner auf unsere Truppen. Da sich die Japaner schon eingegraben hatten, war es für uns sehr schwer, überhaupt eine von ihnen zu Gesicht zu bekommen. Sobald einer von uns nur den Kopf heraussteckte, bekam er einen Schuß und stürzte rücklings die Böschung tot herunter. In dieser äußerst schwierigen Stellung hatten wir in kurzer Zeit fünf Tote. Dieser Lage mußte ein Ende gemacht werden, und wir entschlossen uns, den Feind zunächst mit Handgranaten zu bearbeiten. Allerdings mangelte es an Handgranaten, und zwar aus dem Grunde, weil das gesamte Material vorne in der Frontlinie in den Unterständen bereitgestellt, aber durch das starke Artilleriefeuer, welches das Werk in den Tagen vorher erhalten hatte, vollständig verschüttet war. Es wurde daher von der Nordwache, auf der auch ich mich befand, nach der Kaserne telephoniert, so schnell als möglich Handgranaten zu schicken, die auch bald herangebracht wurden.
Mittlerweile hatte der Kampf im Werk selbst seinen Fortgang genommen. Bald machte sich wieder Mangel an Handgranaten bemerkbar, und es blieb uns nichts weiter übrig, als einen

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neuen Vorrat anzufertigen. zu unserem größten Schrecken fehlte es jedoch an Sprengstücken. Kurz entschlossen entnahm ich aus meinen beiden Waffenmeisterkästen sämtliche Reserveteile, welche sich dazu vorzüglich eigneten, und binnen kurzem schleuderten unsere Soldaten dem Feinde wieder Tod und Verderben bringende Granaten entgegen. Jetzt war schon etwas Luft geworden, und wir konnten mit den Gewehren und den Maschinengewehren dazwischenfunken. Diesem Feuer vermachten die Japaner nicht Stand zu halten. Wir konnten die fünf Maschinengewehre, die sie beim Eindringen ins Werk erbeutet hatten, zurückerobern und die zehn Mann, die sie gefesselt in die Unterstände geworfen hatten, befreien. Ihre Lage war während des dreistündigen Gefechtes wirklich nicht beneidenswert gewesen, zumal man ihnen Knebel in den Mund gesteckt hatte.
Das Werk war jetzt frei vom Feind; der Angriff war abgeschlagen.

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Blick vom Blockhaus.

Sie hatten gestanden die lange Nacht,
letzte Erkundigungsgänge gemacht,
sie hatten geschossen, geleuchtet, gewacht.

Es dämmerte fahl, ward langsam Tag,
im matten Gewölb der Dunstball lag,
grauer Dunst überm Wasser blak.

Sie standen bereit, daß der Feind nur käme,
mit reißendem Schwarm das Hindernis nähern,

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bereit, den Streifen den Knopf zu bedienen,
ein leiser Kontakt, so sprangen die Minen,
springt Haus und Mannschaft, Panzer und Schienen. . .

Da sah der Sergeant, wie am Krähenhang
eins, zwei, drei, vier den Rohren entlang
ein Streifen, – ein Donner sprang.

Ihm war, als sei Körper und Blut
selber das schwere Eisengut,
das in Schmerz zerriß – mit zerspringenden Sinnen
rief er, bleich vor Schrecken und Mut:
„Sie sind drinnen, sind drinnen!“

Schwerer Donner kam über den Berg,
es sprang das gewaltige Bismarckwerk
auf die Höhen klomm das fremde Gezwerg.

„Nimm’s Gewehr, Kamerad! Schlag’s entzwei!
Es ist alles vorbei! – – –
Horch! Wie der Flintenschwarm verbellt!
Junge, ich glaube – – es schwankt die Welt!
Es fällt, unser Tsingtau fällt!
Sei still! schweig still! Halt den Mund!
Ohne einen Schuß in dieser Stund’
muß ich’s jämmerlich gehen lassen zu Grund!

„Du hast gut Schauen! Du magst auch schweigen!
Dir war es nicht wie mir zu eigen!
Du kennst ja die ersten Häuser nicht.

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Du weißt nicht, wie die Straßen wir ausgericht’
Wie der eine Bau zum andern kam,
Wie das Städtchen Fülle und Ansehen nahm,
Wie die Schulen gegründet, der Hafen gebaut;
Die Schiffahrt ging, wo die Meerflut blaut, –
Wie in wilder Sturmzeit der deutsche Ort
Die Chinesen aufnahm als sichersten Port –
Was weißt du von China? Kennst du dich aus?
Auch bracht’ man dir nie vom Garten den Strauß,
Du hast nicht Frau noch Kinder noch Haus –
Kennst die Arbeit nicht, die Tag für Tag
Sich mühte, kennst die Männer nicht,
Die Großen, die Kleinen in Wunsch und Pflicht,
Den Freund, den Schelm, das Spießergesicht,
Verschwärmte Gesellen beim späten Gelag,
Das alles kennst du, das kennst du nicht!

„Da lag der Gelbe auf dem Sprung,
Mit Lächeln und Freundesversicherung.
Nun springt er an, nun setzt er hinein,
Läßt in deutschen Willen sich’s gütlich sein,
Wundert sich über Bett und Schrank,
Kauert am Boden, speist von der Bank –
Ich mag’s nicht denken, mir zur Qual –
Aber bleibt auch jetzt keine Wahl,
Wir kommen wieder! wir kommen einmal.

„Teufel! was mußten wir hier auch nur
Drahtwerke spannen und Stachelschnur,
Mit Minen versperren die guten Spur . . . .

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Lagen wir denn mit unserem Zug
In vorderster Front nicht noch genug,
Wo Granate über Granate schlug?
Da hast du’s! Da haben wir sie geschreckt!
Hat sich der Feind nach links vertreckt,
Nun hinter uns Berg’ und Werke bedeckt . . .
Nun fließet vieler Bruder Blut –
Denk nicht der Toten, sie ruhen gut!
Halte Gott die Heimat in Hut!
Hier ist’s aus, ist’s vorbei!
Nimm’s Gewehr! Schlag’s entzwei!
Da bringen sie Laken und Stangen!
Wir sind verkauft! Gefangen!
Vertrieben! Verloren!
Wär’ ich doch nie geboren,
Daß ich ohne Wehr und Schuß
Es so ansehen muß!“
H. B.
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Der M. F. B.

Es fliegen wohl die Raben
Um Tsingtau’s Flaggenmast
Wir aber traben, traben,
dem Feind zu, ohne Rast.

Wir haben sechs Geschütz!
Was schert uns Überzahl?
Wir sprühen feurige Blitze,
Und schleudern zackigen Stahl.

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Wir halten nächtlicherweile
Die Wacht am brandenden Meer
Wir reiten Meile um Meile
Für Deutschlands heilige Ehr’.

Auf sonnendürchglühte Höhen
Das Maultier keucht hinan:
„Wenn Ihr wollt tsingtau sehen,
dann schafft Euch blutige Bahn!“

Als dann der Ring geschlossen,
Kein Ausweg mehr erschien,
Wer rattert unverdrossen
Durch Tsingtau’s Straßen hin,

Wer schließt aus allen Ecken,
Eh’ jemand sich’s versieht?
Wir Reitenden, wir wecken
Euch auf mit eisernem Lied!

Leb wohl, du lieber kleiner
Vierbeiniger Kamerad!
Was dank’ ich alles deiner
Getreuen Freundestat!

Ob auch der Degen sich senkte,
Nimmer vergeß’ ich sie:
Die mit Hurrah gesprengte
Marine_Feldbatterie!

M.
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Posten

Das Meer rollt, die Woge läuft,
Der Taifun gellt, Regen träuft,
Regen schüttelt die Wolke herab
Reißende Bäche schnellen feldab
Durch die dichte düstere Nacht
Halloh! Posten, hab acht!

Das Band unterm Kinn, in den Mantel geschmiegt,
Ruhig schreitet der Posten und wiegt
Leicht in der Hand das treue Gewehr,
Der Gürtel drückt, die Taschen sind schwer,
In die Stiefel rinnt das Wasser sacht’
Halloh! Posten, hab acht!

Aug’ und Ohr sind angespannt,
Gierig, als trnke sie Luft und Land.
Lärm ist alles, Lärm ohne Licht,
Zwei Schritte vo Leib erkennst du nicht.
Schüsse und donner verschluckt die Ncht
Halloh! Posten, hab acht!

Der Regen prasselt, die Stunde rinnt,
Der Post steht . . er sinnt, er sinnt:
„Ihr Mädchen, wo sind Ihr? – wir warmes Licht
Überfliegt es sein hartes Gesicht –
„Ihr Stunden, gespielt, geliebt, gelacht – „
Halloh! Posten, hab acht!

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Die Bucht hinaus an der Dschunke dort,
Das war uns allen der liebste Ort,
Rechts fern die Berge zackig und wild,
En fleißiges Völkchen rings im Gefield,
Das Meer in Ruhe und Pracht . . .
Halloh! Posten, hab acht!

Der Regen prasselt, der Windstoß gellt,
Drei Japaner wie Katzen schleichen im Feld,
Sie kauern . . . sie gleiten wieder voran,
Ein Sprung noch, so stehen sie Mann an Mann
In der reißenden düsternen Nacht – –
Halloh! Posten, hab acht!. . .

H. B.
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