Lagerfeuer

1-40-01 (2-279)

Lf. Nr. 40 Matsuyama, Sonntag, den 29. Okt. 1916

Sehen und Zeichnen.

Wie der Leser weiß und überdies aus den hiesigen japanischen Tagesblättern erfährt, findet demnächst im Kriegsgefangenenlager von Matsuyama eine Ausstellung statt. Ausgestellt werden Zeichnungen, Skizzen, Gemälde, Kunstfertigkeits-arbeiten, die hiesige Kriegsgefangen in ihrer Gefangenschaft angefertigt haben. Die Ausstellung wird einen abwechselungsreichen Tag bringen. Die Bilder werden unwillkürlich zu mancherlei Vergleichen führen. Man wird die besten Leistungen suchen; man wird nach der Gesamtleistung fragen; man wird sich fragen: Wieviel Personen sind vertreten? Wieviel fehlen? Wie steht es um die durchschnittliche Leistung?
Die japanische Zeitung singt ein hohes Lob auf die durchschnittliche zeichne-rische Leistung der deutschen Kriegsgefangenen. Aber wie steht es damit? Der Leser, denke ich, zeigt eine skeptische Mienen. „Zeichnen?“ sagt er, „Zeichnen? ja, wenn es Faustball oder Musik wären; aber zeichnen ist nur für einige wenige. In unserem Lager hat man nicht viel davon gemerkt.“ Und das letztere ist gewiß in einem bestimmten Sinne richtig. Es ist eine geruhige Kunst, zu der Zeichnen und Malen gehören. Ein Faustballwettspiel interessiert mit einem Male die ganz Lagergesellschaft; der Zeichnende bleibt meist für sich; es ist ihm am liebsten so. Dem Musiker geht es zwar ähnlich; aber seine Kunst macht sich doch, dank ihrem Expansionsdrange, weithin bemerkbar. Und wie auffällig ist das Zeichnen gegenüber der am Gefangenen auffälligsten Kunst, der Rede- und Disputierkunst! Dem Gesichtssinne entstammend, wendet es sich an diesen, nicht an das Gehör.
Aber selbst wenn man diesen Umstand in Betracht zieht, so scheint das Zeichnen doch nur für einige wenige zu sein. Jede andere Kunst scheint für viele da zu sein: sich mündlich oder schriftlich

1-40-02 (2-280)

auszudrücken verstehen die meisten; mündlich – wird es uns nicht stündlich ad aures demonstriert? Und an Vorträgen mangelt es auch nicht; schriftlich – sind dafür nicht diese Blätter ein guter Beleg? Vom Sprechen weiter zum Singen ist nur ein kurzer Schritt; Musikausübende finden sich in großer Zahl; Beweis dessen sind unsere Chöre, unsere Schrammelkapelle, unsere reichhaltigen Konzerte. Mimische Kunst kommt, neben anderen, bei unseren Aufführungen zu reicher Geltung.
Und das Bezeichnende ist: diese Künste hält niemand für sonderlich schwer. Wollte man ernstlich, so denkt man, dann käme man schon dahinter. „Fange ich heute Klavierspiel an“, so höre ich etwa einen kalkulieren, „so kann ich gewiß doch noch vor Ablauf der Gefangenschaft den Brautchor aus Lohengrin, bezw. „Puppchen, du bist mein Augenstern“ spielen (natürlich vierstimmig); im Turnen kann ich doch jetzt den Handstand auf dem Barren und wenn die Geschichte noch so lange dauert, als es den Anschein hat, so ist mir auch der Riesenschwung sicher. Reden – kann man von Natur. „Aber zeichnen? Bewahre! Das ist eine Sache für sich, und Talent habe ich keins.“ „Übrigens,“ fährt er charakteristisch fort, „sehe ich auch nicht ein, was es für einen besonderen Wert haben sollte.“ Mit dem Urteil über die Möglichkeit und die Anlage geht dasjenige über den Wert Hand in Hand. Es ist das meist so, und das ist nur natürlich. Daher ist auch die Meinung rasch zur Hand, Zeichnen sei unnütz, sein Wert setze sich nicht unmittelbar in Mark und Pfennige um. Sprachen, Vokabeln mag man in sich hineinstopfen, so lange es geht; das nährt, wenn es auch „unverdaut“ bleibt und entstellend wirkt. Das rentiert gewiß. Aber zeichnen? – Es würde zu weit in Einzelheiten führen, zu zeigen, wie es sich doch im Gesamtleben rentiert. Wir wollen auch nicht über „Geldverdienen“ als Endzweck diskutieren. Macht man das doch auch z.B. der Musik gegenüber nicht geltend. –

1-40-03 (2-281)

Wenn aber Klavier- oder Guitarrespiel Genuß bietet, sollte nicht auch das Zeichnen ähnliche Werte in sich tragen? Wenn wir in Briefen gern einmal eingehende Schilderungen geben, sollte eine Schilderung in Linien und Farben selbst vielleicht nicht noch vollkommener sein? Es gibt freilich auch Leute, die entdecken, daß das alles „im Examen gar nicht verlangt werden wird.“ Wir wenden uns an ihre Adresse vergebens. Erst die Änderung der Examenvorschriften selbst, die im Gange ist, widerlegt sie. Treffender scheint, was ein dritter einzuwenden hat: „wozu zeichnen? Komme ich nicht durch Photographieren rascher und besser zu demselben Ziel?“ Es wird in den Lagern viel photographiert. Der große Umsatz an Abzügen zeigt, wie sehr man sie und damit mittelbar das Gebiet der graphischen Kunst schätzt. Leicht läuft aber eine Täuschung mit unter; man gleicht dem Lehrling, der sich eine Kopie von irgend einem Schriftstück gemacht hat, das Schriftstück aber nur halb zu lesen versteht, und von dem Gelesenen so gut wie nichts behält. Man hat Versuche gemacht, festzustellen, wieviel denn der oder jener von seiner allernächsten täglichen räumlichen Umgebung erfaßt und behält. Das Resultat der Versuche zeigte, daß die durchschnittliche Beobachtung außerordentlich lückenhaft ist, und daß in der Folge der Sinn für das Konkrete und Anschauliche sehr gering ist. Bei den im Ausland Lebenden, die, wenn auch noch so privat, Berichte in die Heimat bringen, wäre ein anderes Resultat durchaus wünschenswert. Auch an der Photographie wird gewöhnlich nur das gesehen, was beobachtet ist. Der Wert des Abzuges beruht auf der Kunst, ihn lesen zu können; dies aber setzt das Zeichnenkönnen im gewissen Maße voraus. Eine noch so flüchtige, selbstgefertigte, für andere vielleicht nicht „lesbare“ Skizze irgend eines Gegenstandes oder einer räumlichen Anschauung ist darum meist an beobachtetem Stoff, an Beobachtungswert und darum an Erinnerungswert der Photographie überlegen, ganz zu schweigen, von den Farben,

1-40-04 (2-282)

die die übliche Photographie nicht meistert. Für den Zeichner erschöpft sich darum der Vorrat nicht, während die Photographen meist bald finden, daß nicht mehr zu photographieren da ist.
Aber auf alle diese Gegeneinwände begegnet uns immer wieder als letztes Wort: „Zeichnen? Das ist nur für einige wenige; ich wenigstens habe kein Talent dafür.“
Wie steht es nun um die durchschnittliche Begabung? Man muß Lehrer fragen, die ein großes Material von Schülern kennen gelernt haben, man muß es an Schulen tun, an denen das Zeichnen weder eine besondere Begünstigung noch vollends eine zu starke Zurücksetzung erfährt, und hernach muß man die Historiker und vor allem die Psychologen fragen. Das Auffällige gewahren wir natürlich immer zuerst; auffällige Talente zeigen sich da besonders, wo die Pflege des Durchschnittstalentes gering ist. Aber eine Begabung zum Zeichnen hat fast jeder überkommen. Hundert kleine Verbesserungen vererben sich von Geschlecht zu Geschlecht; der Besitz mehrt sich, wenn auch langsam und in einseitigen Richtungen. An einzelnen Stellen häufen sich Reichtümer auf, aber leer geht fast keiner aus. Was fehlt, ist die Übung. Die meisten Menschen vergessen, welch unablässiger Übung sie die einfachsten Tätigkeiten verdanken. Ärzte und Physiologen können sich nicht genug darin tun, die Übungsleistungen des Kindes in den ersten Lebensjahren zu loben. Bis ein Kind eine Treppe hinaufgehen gelernt hat, sagen sie, hat es einen Übungsgang hinter sich, der an Arbeitsinhalt einigen Schuljahren nicht nachsteht. Stündlich, täglich wird geübt, wiederholt, exzerziert. Mit dem Sprechenlernen ist es nicht anders. Erst so bilden sich die Organe aus. Die „Bahnungen“ des Nervensystems entstehen; es formt sich allmählich das komplizierteste System aus und mechanisiert sich, so daß die betreffende Tätigkeit unbewußt ausgeführt wird. Ein gutes Stück Zeichnen haben wir übrigens auf diese Weise erlernt und die Organe dafür ausgebildet: das Schreiben. Welche Mühe es gemacht hat,

1-40-05 (2-283)

welche Aufmerksamkeit es erforderte, das haben wir so gut wie vergessen.
Wenn wir einen Baum kaum so oft gezeichnet hätten, wie wir B, A, U, M ge-schrieben, oder irgend eine Perspektive so geübt wie das P oder M, wie anders stünde es um das Zeichnen! So aber stehen wir ihm gegenüber wie einer fremden Sprache, die wir doch auch durch Übung bemeistern.
Nicht unserer Anlage fällt unsere geringe Leistung zur Last, sondern dem Mangel an Übung. Erst die Übung bildet die Organe aus, ähnlich wie das Turnen bestimmte Muskelgruppen entwickelt. Hat man aber einmal begonnen, die Fähigkeiten zu entwickeln, so stellt sich von selbst die Lust ein, die gewonnenen Kräfte frei zu gebrauchen, und indem sich Übung und Wertschätzung wechselseitig steigern, wächst auch die Einsicht in die eigentümliche Bedeutung des Zeichnens.
Diese Bedeutung beruht vornehmlich auf der Bedeutung des Gesichtssinnes. Jedes Lebewesen ist gewissermaßen eine Abgrenzung in der Lebensfülle des Universums, in der es sich mit den ihm eigenen Kräften regt und aus der es den Stoff seines leiblichen und geistigen Lebensumlaufes nimmt. Die Sinne sind dabei gleichsam die Tore zur Außenwelt. Aus dem hereinströmende Material der Sinnesempfindungen werden die Vorstellungen und Gedanken aufgebaut. Zweierlei Formen sind es nun, in die zunächst das Material geordnet wird; Raum und Zeit, ihnen entsprechend alles Quantitative, Extensive einerseits, Qualitatives und Intensives andererseits. Keins läßt sich durch das andere ersetzen. „Äußerlich kann die Zeit nicht angeschaut werden, so wenig als der Raum in uns“ (Kant). Die Erfassung der Wirklichkeit aber beruht auf ihrer Messung. Maße sind Quantitäten, gehen also letztlich auf Raumanschauung zurück. Auf diesem Sachverhalt, den wir hier nur andeuten, nicht

1-40-06 (2-284)

ausführen konnten, beruht das schematische Zeichnen: Zunächst das Zeichnen der Geometrie, dann darüber hinaus das graphische Darstellen der Gedanken und zwar der Gedanken auch der entlegensten Gebiete. Denn was auch immer gedacht wird, hat auf ein Räumliches Bezug, hat die Tendenz, sich meßbar, d.h. räumlich anschaubar zu machen. Daher die graphische Darstellung aller algebraischen Ausdrücke; daher die Temperatur- und Luftdruckkurven, die Anwendung der tabellarischen Zeichnungen auf allen Gebieten. Das schematische Zeichnen erfaßt dabei das Schema der Vorstellung, ihre Form, ihr Reihenprinzip, im Unterschiede von dem Zeichnen, von dem wir bisher zu sprechen schienen und an das wir zunächst denken, wenn wir von „Zeichnen“ reden. Dieses Zeichnen geht vielmehr auf den Inhalt, auf das Material der Vorstellung selbst.
„Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauungen sind leer,“ lautet ein berühmter Satz Kants (fast ebenso Kung-futse Lun-yueBuch II, 15}. Unter „Anschauung“ ist das Material aller Sinnensempfindungen zu verstehen. Aber schon das Wort „Anschauung“ verrät die hervorragende Stellung, die die Empfindungen des Gesichtssinnes dabei einnehmen. „Das Auge ist des Leibes Licht“, sagt ein altes Wort. Zwar nehmen wir auch mittelst des Tastsinnes die Außenwelt wahr; das Gebiet des Gehörs (Sprache, Musik) ist überaus groß; aber erst das Auge bringt „den hellen Tag“. – „Begriffe ohne Anschauungen sind leer; – Wenn ein Kind in die Schule kommt, so hat es von vielen Dingen überhaupt noch keine Begriffe, und diejenigen, die es hat, sind alle meist leer. Es weiß von einem Strome vielleicht, daß er aus Wasser besteht, aber mehr etwa nicht. Was eine Bergkette, ein Dampfer, eine Baumschule ist, und hundert andere Dinge mehr, das weiß es nicht. Wir sagen: Es hat keinen Begriff davon. Kant würde sagen: Es besitzt keine genügenden Anschauungen.
Sobald wir deshalb einmal begannen, uns von der römisch-

1-40-07 (2-285)

griechisch-palästinensischen Tradition loszulösen und selbständig zu werden, früh um 1200, kräftiger in den Tagen der Renaissance und der Reformation, da hieß es immer wieder auf allen Gebieten: Empirie! Empirie! Anschauung! und was das lebende Geschlecht nicht erreichte, das wünschte es dem Kommenden, und Anschauung! wurde die Maxime aller Erziehung. Von des MährenbischofsCamenius wundervollem Orbis pictus, der dem Schüler in Bildern die ganz Welt vor Augen führt, von Ratichs Methoden bis zu den größten Anschauungslexiken der Philantropen und bis zu Salzmann, der mit den Schülern reiste der Anschauung wegen, von Lockes Spott über das blinde, leere, abstrakte Wissen und Rousseaus leidenschaftlichen Schriften gegen das leere Phrasentum und die Hohlheit und Heuchelei der Zeit biz zu dem, was Pestalozzi für den Anschauungsunterricht oder, umfassender gesagt: Für die Erziehung durch das Erlebnis, geleistet hat, ist es in hundert verschiedene Wendungen und Ausdrücken, immer derselbe Ruf, dasselbe Motto, jenes, das Kant in die Worte kleidete: „Begriffe ohne Anschauungen sind leer.“ Und das 19. Jahrhundert, das man auch das Jahrhundert der Naturwissenschaft nennt, hat diesen Ruf vollends zum herrschenden gemacht.
Wohin wir darum heute im Unterrichtswesen blicken, sehen wir die praktischen Konsequenzen. Darum, um nur einige Bespiele zu nennen, im Anfangsrechnen die Rechenmaschine und bei der beginnenden Bruchrechnung das Vorzeigen am konkreten Gegenstand; darum in Botanik und Zoologie das Beobachten und Beschreiben am lebendigen Objekte selbst, wo immer es herangebracht werden kann; darum das Schulmuseum mit seinen Herbarien, Sammlungen, Präparaten; darum hier und dort der Schulgarten; darum, wenn angängig, die botanischen Spaziergänge, das Aufsuchen der Tierfährten, die Beobachtung der Singvögel im Freien; darum die Erdkunde beginnend mit der Heimat, von Schul-

1-40-08 (2-286)

oder Elternhaus ausgehend zur anschaulichen Kenntnis der nächsten Bäche, Wälder, Höfe, Gehege, Dörfer, weiter und weiter die konzentrischen Kreise ziehend; darum in der Physik das Experiment und in der Chemie der Schülerlaboratoriumsstand; darum der Projektionsapparat; darum in jedem Unterrichtsbuch Bilder über Bilder, Karten, Skizzen.
Jedoch das passive Aufnehmen der Anschauung allein genügt nicht. Die Fähig-keit der Wiedergabe muß ausgebildet werden. Wenn wir die Einrichtung eines Sinnesorgans samt seinen Nervenbahnen und Leitungszentren mit einen Telegraphensystem vergleiche, so treten dabei zwei Hälften, zwei Seiten des Systems hervor: eine passive, aufnehmende, empfangende und eine aktive, wiedergebende, aussendende. Höre ich zum Beispiel ein Wort, so ist damit nicht gesagt, daß ich es wiederzugeben vermag. Ja, während ich eine Sprache erlernen, treten fortgesetzt die Fälle ein, daß ich Vokale und Konsonanten, dann Worte und Sätze, dann Satzaccente zwar höre, aber nicht wiederzugeben vermag. Erst wenn ich das kann, stehen die betreffenden Laute, Worte, Sätze zu meiner eigenen freier Verfügung. Und auch das Wiedergeben hat zwei charakteristische Stufen: einmal, wenn ich unmittelbar Gehörtes nachspreche, dann, wenn ich aus dem Schatz des Gedächtnisses das Wort wiederhole und es wiedergebe. Erst das zweite bedeutet Vollendung der Aneignung. und von hier geht der Weg dann fort zur Begriffbildung.
Ähnlich verhält es sich mit dem Zeichnen. Das Geschehene muß wiedergegeben, es muß gezeichnet werden, zunächst nach dem unmittelbaren Gesichtseindruck, – dann aus der Gedächtnis, aus der Vorstellung- und Einbildungskraft heraus. Dabei bleibt das Zeichnen nach der Natur immer die Grundlage und die Kontrolle des zweiten. Es sind die Wege, die der moderne Zeichen-

1-40-09 (2-287)

unterricht einschlägt. Es sind die Richtungen, nach denen hin wir den Reformator des deutschen Zeichenunterrichts Fedor Flinzer, bestrebt sehen: Einmal ist er der erste seinerzeit gewesen, der systematisch die Vorlagenhefte verbannte und nur nach Natur zeichnen ließ; andererseits aber besteht das Wesentliche seiner Bestrebungen darin, daß er das Zeichnen als Schulung zum Erkennen faßt. Was nützt es, wenn ich z.B. photographiere, die Photographie aber nicht zu „lesen“ vermag, wenn ich das Angeschaute nicht bewußt ergreife, wenn ich keinen „Begriff“ habe von dem, was ich angeschaut habe? Und wenn das Auge eine Art Camera obscura ist – was nützt das bloße passive Aufnehmen der flüchtigen Bilder der Außenwelt, wenn ich sie nicht selbst jederzeit wieder zu schaffen vermag und über ihren Besitz nicht ordnend und einteilend verfüge? „Das Sehen mit Bewußtheit zu vollziehen, die Dinge in ihrer Linien- und Lichterscheinung richtig zu sehen, weil man die Bedingungen ihrer Sichtbarkeit mit erfaßt und begreift, das hat uns vor allem Flinzer gelehrt.“ (Kunstwart 1902). Wie anders wird dann die Wirklichkeit erfaßt! Dem Zeichnenden kommt es vor, als habe er bisher überhaupt nicht gesehen! Wie leer waren seine Vorstellungen und Begriffe! Wie ungenau, oberflächlich , langweilig war, was an Anschauung in ihnen war! Wenn wir uns vollends im Gedanken auf die Stufe der großen Maler stellen, wie inhaltreich wird ihnen die Wirklichkeit! Als man erst einmal das Licht auf und an den Dingen wiederzugeben verstand, fand auch das bisher als unansehnlich Verachtete Ansehen und Beachtung. Man kann es bei den niederländischen Malern leicht verfolgen: ein einfacher Waldrand mit ein paar Büschen wird für Rembrandt ein erhabenes Bild. Und wie hat sich bei den heutigen Malern dieser Zug verbreitert und vertieft! Da ist im Bereich des Räumlichen

1-40-10 (2-288)

nichts mehr uninteressant, und jeder Augenblick der vorübereilenden Zeit wird für sich gewertet. „Man soll es meinen Bildern ansehen“, sagt ein schwäbischer Maler, „um welche Stunde des Tages und in welchem Monat des Jahres ich diesen Bach mit den paar Büschen malte.“ So sehr hat sich im Leben der Nation im Verein mit der Beobachtung der Natur auch die Wiedergabe derselben ins Unermeßliche erweitert.
Die Schule wird sich, wie schon angedeutet, dieser Bedeutung des Zeichnens mehr und mehr bewußt. Bedeutsam ist hier die Gestaltung jenes Unterrichts-jahrgangs, der wohl der schwierigste, aber darum wohl auch der sorgfältigst gestaltete ist, nämlich der des ersten Jahres. Hier soll das Zeichnen in jedem Unterrichtsfache Platz greifen, und das Zeichnen aus der Vorstellung, bezw. aus dem Gedächtnisse und der Phantasie wird hier besonders betont. Letzteres ist auch für den Zeichnenunterricht der späteren Stufen als wesentlich vorgesehen. Je länger je mehr soll dabei das Zeichnen nach der Natur die Kontrolle bilden. Der naturwissenschaftliche Unterricht soll, wo immer möglich, von Zeichnungen begleitet sein, wobei es sich freilich mehr um die Skizzierung des wesentlichen Vorstellungsinhalts handelt; man denke etwa an die Stufen des erdkundlichen Unterrichts. Dabei ist freilich die Frage, wie weit der Zeichnenunterricht vorgearbeitet hat, überhaupt, welche Schätzung er genießt. Liegen auch vielerlei Hemmnisse noch vor, so sind sie gegenüber der Macht der durch Jahrhunderte fortwachsenden Bestrebungen von untergeordneter Bedeutung. Das Zeichnen wird jelänger je mehr geschätzt, gelehrt, geübt werden.
H. B.

---------------------
1-40-11 (2-289)

Das Farbensehen.

Über unser Auge hat man sich Jahrhunderte lang falsche, oberflächliche Vorstellungen gemacht. Man hielt es für einen Spiegel, in dem sich die Außenwelt abmalt. Verleitet wurde man zu dieser Annahme durch das Spiegeln der Umgebung auf der glänzenden Hornhaut.
1589 erfand der Italiener Giambattistadella Porta die Cameraobscura. Er vermutete, daß das Auge Ähnlichkeit mit dieser haben könnte, wagte es aber nicht zu behaupten, um nicht durch ein zu tiefes Eindringen in die Geheimnisse der Natur mit der damals allmächtigen Kirche in Widerspruch zu kommen. Erst Kepler hat 1604 die richtige Erklärung des Auges gegeben und auch die Entstehung des Bildes im Hintergrunde des Auges nachgewiesen. Die Grundlage unseres Sehens besteht also darin, daß auf der Netzhaut unseres Auges ein Bild entworfen wird, das nach dem Gehirn telegraphiert wird.
Mit Hilfe des Augenspiegels kann man die Netzhaut in voller Lebenstätigkeit beobachten. Sie erscheint als gelbrot leuchtende Fläche, auf der sich einige feine Äderchen schlängeln (Tafel I. Abb.1). Aus dem roten Felde hebt sich deutlich ein rötlich weißer Fleck ab. Etwas nach außen von ihm liegt eine kleinere dunklere Stelle mit undeutlichen Rändern, die nur schwer zu erkennen ist. Es ist der gelbe Fleck.
An dem großen weißen Kreis setzt sich von außen her der Sehnerv an, und die Tausende von feinen Nervenfäserchen der Netzhaut sammeln sich an dieser Stelle.
Wenn ich einen Gegenstand deutlich sehen will, fasse ich ihn scharf ins Auge, d.h. ich richte meine Augen so, daß eine Linie von dem fixierten Punkt durch die Mitte der Pupille genau auf den gelben

1-40-12 (2-290)

Fleck fällt. Dann kann ich erst deutlich erkennen (Taf. I. Abb. 2).
Auf der Netzhaut haben wir also die Apparate zu suchen, welche die Ätherwellen des Lichtes in Nervenkraft umwandeln. Zu Tausenden stehen die keuligen Gebilde dicht gedrängt nebeneinander (Taf. I. Abb. 3). Von jedem geht ein feiner Nervenfaden aus, der den Nerveneindruck weiterleiten soll. Sonderbar ist, daß die Apparate nicht dem Lichte zugedreht, sondern von ihm abgewandt sind.
Alle Nervenfäden sammeln sich im weißen Fleck. Der weiße Fleck hat keine Lichtapparate, er ist blind. Die Lücke im Gesichtsfeld ist so groß, daß in ihr beim Betrachten des Sternenhimmels etwa 11 Vollmonde verschwinden könnten. Trotzdem erscheint uns eine angeschaute weiße Fläche rein weiß, ohne eine Lücke. Es ist demnach klar, daß das Gehirn die fehlende Stelle aus den Eindrücken der umgebenden Netzhaut ergänzt, so daß die Lücke nicht zum Bewußtsein kommt.
Deutlich sehen wir nur mit dem gelben Fleck. Alles, was auf die übrige Netzhaut fällt, ist undeutlich, verschwommen, matt in Farben. Dafür sind diese Gegenden der Netzhaut besonders empfindlich für schwache, für sich verändernde und für sich bewegende Gebilde.
Kein Teil des Menschen- und Tierleibes ist wohl genauer mit der Mikroskop durchforscht als die Netzhaut des Auges. Unter den keulenartigen Gebilden, die 40/1000 mm lang und 2-3/1000 mm dick sind, erkennt man unter dem Mikroskop zwei Arten. Die einen laufen spitz zu und heißen Zapfen, die anderen, mehr zylindrischen werden Stäbchen genannt (Tafel I, Abb. 4). Beides sind zellige Gebilde, deren Außenglieder scharf von den Innengliedern abgesetzt sind. Die Außenglieder erscheinen stark lichtbrechend und zeigen eine merkwürdige Querstreifung. Im gelben Fleck stehen nur Zapfen, in der übrigen Netzhaut hauptsächlich Stäbchen, nur hin und wieder ein Zapfen.

1-40-13 (2-291)

Die Stäbchen sprechen auf die Ätherwellen überhaupt an. Die Zapfen werden je nach der Wellenlänge der Lichtstrahlen verschieden beeinflußt. Die Stächen sind die Apparate, mit denen wir das Licht überhaupt, und zwar die geringsten Helligkeitsunterschiede wahrnehmen können. Mit den Zapfen erkennen wir die Farben. Sie unterscheiden zwischen den Wellen von 760 - 392 Millionstel Millimeter Wellenlänge. Diese Wellenlängen umfassen alle Farben. Bei abnehmender Helligkeit versagen die Zapfen, und zwar das langwellige Rot eher als für das kurzwellige Blau. „Des Nachts sind eben alle Katzen grau.“ Bei starker Dunkelheit benutzen wir nicht den gelben Fleck zum Sehen, sondern die übrige Netzhaut, weil die Stäbchen sich nicht nur größter Helligkeit, sondern auch der schwächsten Beleuchtung anpassen.
Wie wirken nun die Lichtwellen auf die Stäbchen und Zapfen?

1874 entdeckte Boll in der Netzhaut einen roten Stoff, der unter dem Einfluß des Lichtes bleicht. Ein Kaninchen, das lange Zeit im Dunkeln gehalten war, wurde unbeweglich durch drei Minuten so einem Fenster gegenüber gestellt, daß das Feld des Fensterkreuzes ins Auge halten mußte. Darauf wurde das Tier schleunigst im Dunkeln getötet und die Netzhaut freigelegt. Man fand das Fenster mit Rahmen und Kreuz als weißes Bild auf rotem Grunde. Dieser Sehpurpur bildet sich aber so schnell um, daß in Bruchteilen einer Sekunde das Bild wieder verwischt ist. Durch das Ausbleichen entsteht nur ein weißes Bild. Das Problem des Farbensehens ist dadurch nicht gelöst. Außerdem kommt der Sehpurpur nur in den Außengliedern der Stäbchen vor, mit denen wir keine Farben unterscheiden können. Er ist wahrscheinlich nur ein Sensibilisator, der die Helligkeitswerte der Farben ausgleicht.
Man hat nun noch etwas anderes gefunden. Infolge der Belichtung treten eigentümliche Bewegungen an und neben den

1-40-14 (2-292)

Stäbchen und Zapfen auf. Die Zwischenräume zwischen den beiden sind ausgefüllt von feinen, fadenförmigen, schwarzen Fortsätzen von Zellen der darunter liegenden schwarzen Pigmentschicht. Diese lassen kein Licht durch. Dadurch werden die Außenglieder der Lichtapparate optisch voneinander getrennt. Der Holländer van Genderenhat zuerst nachgewiesen, daß unter dem Einfluß der Ätherwellen sich die Zapfen verkürzen, und daß die schwarzen Pigmentzellen folgen, sich mit langen Fransen zwischen die Außenglieder der Zapfen vorschieben (Abb. 5). Im Dunkeln ziehen sich beide zurück (Abb. 6). Angelucci hat weiter nachgewiesen, daß diese Verkürzung je nach der Länge der Ätherwellen wechselt, daß bei Wellen von 760 Millionstel Millimeter Wellenlänge (rot) die Verkürzung eine nicht so weitgehende ist als bei kurzwelligen Licht (blau).
Betrachten wir ein rotes rundes Scheibchen, das wir auf ein weißes Papier legen, und schnellen das Scheibchen plötzlich weg, so sehen wir den Kreis noch, aber er ist grünblau. Ein grüner Farbenfleck hätte uns ein rotes Nachbild gegeben, ein blauer ein gelbes, und ein gelber ein blaues. Stets sind zwei Farben auf diese Weise fest miteinander verknüpft. Als solche Farbenpaare fand Helmholtz:

Rot656- Grünblau492mill. Mill. Wellenlänge
Orange608- Blau490  〃    〃      〃
Goldgelb585 - Blau 485  〃    〃      〃
Goldgelb 574- Blau 482  〃    〃      〃
Gelb 567 - Indigo 465 〃    〃      〃
Gelb 565 - Indigo 462 〃    〃      〃
Grüngelb 560 - Violett 433  〃    〃      〃

Bringen wir die Farben Rot von 656 mill. Mill. Wellenlänge und Grünblau von 492 mill. Mill. Wellenlänge so aufeinander, daß sie sich decken, dann fallen beide Farben gleichzeitig auf die

1-40-15 (2-293)

Zapfen, und wir sehen weiter nichts als weißes Licht. Eines der obigen Farbenpaare gibt in seiner Mischung immer weiß.
Wenn man die Malerfarben Gelb und Blau mischt, so erhalten wir zwar Grün. Diese Farben sind aber wie aller Farben, die wir herstellen, nicht rein. Die blaue Malerfarbe wirft außer den blauen noch die benachbarten Wellenlängen der Grün zurück und ebenso das Gelb neben anderen die grün erscheinenden Ätherwellen. Bei der Mischung der Farben wird Blau und Gelb zu Weiß vereinigt, und die zurückgeworfenen grünen Ätherwellen werden jetzt erst sichtbar, und so erscheint uns die Mischung grün. Man hat heute Gelatine-Blättchen hergestellt, durch die man nachweisen kann, daß sich tatsächlich zwei dieser reinen Farbenpaare aufheben. Zwei solcher Farbenpaare bezeichnet man als sich ergänzende oder komplementäre Farben.
Mit welchen Hilfsmitteln unterscheiden nun die Zapfen unseres Auges die verschiedenen Wellenlängen? Es ist ausgeschlossen, daß für jede Farbe und jede Abstufung ein besonderer Apparat vorhanden sei; das wäre im gelben Fleck schon räumlich nicht möglich. Mit Hilfe der reinen Spektralfarben Grün, Rot, Blau kann ich, wenn ich sie in den rechten Tönen anwende, alle Farben durch Mischung, bald von dieser, bald von jener etwas mehr, hervorbringen.
Helmholtz kam auf Grund dieser Tatsache und vor ihm schon der Engländer Young zu folgendem Schluß. „Wenn durch Mischung dreier Spektralfarben alle möglichen Farbenschattierungen hergestellt werden können, wenn der Drucker durch Verwendung von drei geeigneten Farben farbige Bilder herstellen kann, die ihrem Vorbild durchaus gleichen, dann ist wohl möglich, daß die Farbenapparate unseres Auges auf drei Grundfarben abgestimmt seien, durch deren Mischung alle in der Natur vorkommenden

1-40-16 (2-294)

Farbenwerte zur Aufnahme kommen können. Nehmen wir an, es wären Rot, Grün und Violett. Werden alle drei verschiedenen Lichtapparate gleich stark erregt, so gibt es Weiß. Wird der rotempfindende sehr stark, der grüne weniger, noch weniger der violette beeinflußt, so haben wir den Eindruck Orange. Ähnlich ist es bei den übrigen Farbenabstufungen.“
In dieser Weise ist die Annahme von Helmholtz wohl nicht richtig. Man hat heute nachgewiesen, daß ein Punkt irgendwelcher Farbe auch dann noch farbig gesehen wird, wenn sein Bild auf dem gelben Fleck kleiner ist als der Querschnitt eines Zapfens. Und nach Helmholtz gehören doch mindestens drei Zapfen dazu, um den Eindruck farbig zu bekommen. Es muß wohl jeder Zapfen selbst die Fähigkeit haben, die verschiedenen Ätherwellen zu sichten.
In neuerer Zeit hat nun Rählmann ein Theorie der Licht- und Farbenempfindung aufgestellt, die wohl die meiste Wahrscheinlichkeit für sich hat. Er stützte sich auf einen Versuch von Lippmann. Diesem gelang es, mit einer einzigen, gewöhnlichen photographischen Platte farbige Bilder der Außenwelt zu erhalten. Er brachte die Glasseite der Platte in Verbindung mit einer starkspiegelnden Quecksilberschicht. Das von der Außenwelt in der Camera entworfenen Bildchen dringen durch die empfindliche Schicht hindurch, wird zurückgeworfen in die einfallenden Strahlen hinein, und nun bilden sich innerhalb der empfindlichen Schicht stehende Wellen mit Knoten und Bäuchen. Wo die Wellen sich in Knoten scheiden, ist Ruhe, keine Bewegung, also auch keine chemische Kraft. Das Silber wird an der Stelle nicht zersetzt, dagegen nur an den Schwingungsbäuchen. Es müssen also in regelmäßigen Abständen Schichten von zersetzten und unzersetzten Silber abwechseln, und die Abstände entsprechen

1-40-17 (2-295)

Tafel I.

1-40-18 (2-296)

Tafel II.

1-40-19 (2-297)

Tafel III.

1-40-20 (2-298)

Tafel IV.

1-40-21 (2-299)

der halben Wellenlänge der Ätherwellen. Dr. Hans Lehmann hat Querschnitte solcher belichteter Silberschichten unter dem Mikroskop photographiert und die Bestätigung der Theorie erhalten. Man erkennt an der Abbildung die vorausgesetzte Schichtung.
Rählmann schloß daraus folgendes: Wie hier auf der Silberplatte ist es in den Lichtapparaten der Zapfen im Auge. Das Außenglied ist durch eine scharf abge-setzte, stark spiegelnde, ebene Fläche von dem Innenglied getrennt. Jeder Zapfen ist von einem schwarzen Becher so umhüllt, daß das Licht nur senkrecht einfallen kann. Es sind also alle Bedingungen für stehende Wellen gegeben. Sie entstehen in den Innengliedern und entfalten dort ihre Wirkung ähnlich wie in der photographischen Platte. Wir haben schon früher gehört, daß sich die Innenglieder unter dem Einfluß des Lichtes zusammenziehen, und daß die Verkürzung je nach der Wellenlänge verschieden ist. Es bilden sich stehende Wellen, die Veränderungen in den Innengliedern hervorrufen, und diesen Wellen paßt sich jeder Zapfen mit Verkürzungen und Verlängerungen, je nach der Wellenlänge, an und übermittelt uns so die Empfindung der Farbe.
Ob diese Theorie des Farbensehens die richtige ist, ist schwer zu behaupten. Es ist möglich, daß in späterer Zeit diese Rählmannsche Theorie von einer anderen glaubwürdigeren abgelöst wird. Theorie bleibt aber alles, solange wir nicht imstande sind, die Netzhaut in voller Lebenstätigkeit unter dem Mikroskop zu beobachten.
Klautke.

--------------------
1-40-22 (2-300)

Zeichnendes Denken

Die Gefahr für die Zukunft des Kulturmenschen liegt in seiner Spezialisierung auf gewissen Fähigkeiten, neben denen er andere vernachlässigt. Es ist die große Gefahr, die alle Lebensentwicklung durch die geologischen Perioden hindurch begleitet hat, an der offenbar alle die großen Geschlechter der Amonshörner, der Riesenechsen usw. zu Grunde gegangen sind. Sie paßten sich gewissen Bedingungen an, stellten auf sie ihren Körper besser, aber auch endgültiger ein als ihre Mitbewerber und beherrschten darum den Schauplatz des Tierlebens ähnlich wie heute der Mensch. Aber die Fähigkeiten, die sie dabei nicht übten, verkümmerten, und eine Änderung der äußeren Lebensverhältnisse endigte nicht nur ihre Herrschaft sondern wie die Geologie zeigt, auch ihr Leben. Denn abgesetzte Königsgeschlechter auszurotten, ist in der großen Natur ebenso üblich wie in dem kleineren Kreise orientalischer Menschenvölker.
Die Überlegenheit der menschlichen Entwicklung hat vom Anfange unserer tierischen Ahnenreihe an darin gelegen, daß der Körperbau nur mäßig den jeweiligen Bedingungen angepaßt wurde, daß aber das Gehirn immer besser lernte, diesen Körper zu brauchen, der eben, weil er wenig spezialisiert war, zu allem brauchbar blieb. Eine neue, oft betonte Gefahr tauchte auf, als unsere geistigen Fähigkeiten so stiegen, daß sie uns ermöglichten, durch fremde Kräfte das zu ersetzen, was bisher unser Körper hatte leisten müssen. Man hat deshalb oft vor der Verkümmerung des Körpers beim Kulturmenschen gewarnt. Im Zeitalter der allgemeinen Wehrpflicht scheint diese Gefahr behoben, wenn rechtzeitig Krieg wie der jetzige die Menschheit sichten.
Der Mensch wird somit in absehbarer Zeit von seinem

1-40-23 (2-301)

Herrscherplatz im Tierreich schwerlich abgesetzt werden; aber im Kampfe der Menschengruppen untereinander, im Wettbewerb der geistigen Fähigkeiten, liegt die Gefahr vor, daß der Kulturmensch einseitig diejenigen Künste pflegt, die er im Augenblick zu brauchen glaubt, und daß er darum auf die Dauer im Wechsel der Zeiten den minder spezialisierten Menschen unterliegen könnte, die zahlreiche Fähigkeiten entwickelt haben, wenn auch keine in so hohem Maße wie er.
Unter den Fähigkeiten, die wir lange sträflich vernachlässigt haben, rechne ich das Zeichnen. Auch hier ist vielleicht die schlimmste Gefahr schon beseitigt, seit wir sie zu erkennen beginnen und seitdem gewichtige Stimmen mahnen, der Ausbildung des Zeichnens eine entscheidenden Platz im Jugendunterricht zu geben. Eine so hohe Wertschätzung des Zeichnens mag manchem befremden und zu der Frage veranlassen, was denn verkümmert, wenn wir das Zeichnen nicht üben. Die Antwort darauf könnte mancherlei nennen; ich greife nur eines heraus: das anschauliche Denken, das Umformen der von außen uns zugetragenen Urteile und sogenannten Tatsachen zu lebendigen Bestandteilen unseres Geisteslebens. Wir haben heute bei der erdrückenden Fülle unverdauter Tatsächlichkeiten, die die Zeitung und andere noch weniger vermeidbare Folgen des Völkerverkehrs in uns hineinpfropfen, meist nicht mehr die Ruhe, um klar zu entscheiden, was wir annehmen wollen und was abweisen. Im Siegesbewußtsein der populär gewordenen Naturwissenschaft schätzen wir das „positive Wissen“, das überall auf uns andringt, höher als das Nachdenken, das Ordnen, Verknüpfen und urteilende Umformen dessen, was uns als Wissen und Beachtung anderer angeboten wird. Das gründliche Denken läuft Gefahr zu verkümmern, und es ist wünschenswert, daß wir alle Mittel anwenden, um dem entgegenzuwirken.
Zur Unterstützung unseres Denkens sollen wir uns nicht scheuen, zu denselben Mitteln zu greifen, deren sich schon das älteste Altertum

1-40-24 (2-302)

bediente. Daß sie gut waren, zeigt der ungeheure Forschritt, den wir auf ihrer Grundlage gemacht haben. Unter ihnen gebührt aber dem Zeichnen ein hervor-ragender Platz. Aus ihm ist erst die Schrift entstanden. Wieviel wir dieser verdan-ken, bedarf nicht der Erwähnung. Aber es darf vielleicht auch einmal ausgesprochen werden, daß die glänzende Entwicklung des Schreibens mit schuld ist an der langen Vernachlässigung des Zeichnens. Alle Schrift ist aus Bilderschriften entsprungen. Tafel I, Abb. 7 zeigt eine solche Bilderschrift aus dem alten Ägypten. Sie besagt: Der König (= Falke) hat 6000 Leute aus dem Küstenlande Wa gefangen mit sich geführt. Der Name des Küstenlandes Wa ist rechts unten durch das Zeichen eines Sees wiedergegeben und eine darüberliegende Harpune, deren Bezeichnung im Ägyptischen Wa lautete.
Als dann der Verkehr unter den verschiedensprachigen Völkern in den Ländern zwischen dem Mittelmeer und dem Indischen Ozean immer mehr Bedeutung gelangte, als man immer öfter gezwungen war, die Bezeichnung für das gleiche Ding in verschiedenen Sprachen zu unterscheiden, da trat statt der zeichnerischen Darstellung der Begriffe die Darstellung der Laute für ihre mündliche Bezeichnung in den Vordergrund. Oft gebrauchte Bilderzeichen wurde nicht mehr um des von ihnen dargestellten Begriffes willen angewendet, sondern zur Wiedergabe des gesprochenen Lautes, durch den man denselben Begriff in der mündlichen Rede bezeichnete. So schrieb man Lautgruppen und schließlich einzelne Laute. Aus der umständlichen Bilderschrift entwickelte sich die einfachere und unvergleichlich anpassungsfähige Lautschrift (Abb. 8), in der grundsätzlich kein Zeichen mehr einen „Sinn“ hat sondern nur einen Lautwert. Die Schrift, ursprünglich ein selbständiges Ausdrucksmittel, war zur Dienerin der Sprache geworden. Aber auch die Sprache konnte der Anschauung nicht entbehren, aus der das Zeichen entsprungen war, und was man

1-40-25 (2-303)
lebhaft ausdrücken wollte, das sagte man in „Bildern“. Auch dieses Können ist matter geworden. Das ursprünglich anschaulich im Geiste gesehene Bild wurde zum gedankenlos nachgesprochenen Namen, ein „Atha-Wulf“ verblaßte zum „Adolf“. Das mag eine notwendige Entwicklung sein; aber wenn dadurch das Mitarbeiten der klaren „Anschauung“ beim Aussprechen der Gedanken verkümmert, dann ist es wünschenswert, dem durch ausdrückliche Übung des bewußten Schauens des Gedachten entgegenzutreten, und das geschieht zweifellos am wirksamsten durch Zeichnen.
Auf einem Gebiete, dem wir viel von unserem geistigen Fortschritte verdanken, haben wir, wenn nicht die Bilderschrift, so doch die Begriffsschrift nicht nur beibehalten, sondern erheblich ausgebildet, nämlich in der Mathematik. Eine mathematische Formel oder auch eine Ziffer sagt uns nicht, wie ich das durch sie Ausgedrückte auszusprechen haben, sondern was ich dabei denken soll. Und auf diesem Gebiete, auf dem wir die Klarheit des Denkens am meisten gepflegt haben, ist auch der alte Sinn für die zeichnerische Darstellung gerade in letzter Zeit wieder in seine Rechte eingesetzt worden. Diagramme und schematische Zeichnungen nehmen in allen naturwissenschaftlichen und technischen Darstellungen einen immer breiteren Raum ein und sind längst nicht mehr auf den Kreis der Fachleute beschränkt. Von diesen Bestrebungen wird man am zweckmäßigsten ausgehen, wenn man einen Überblick darüber gewinnen will, inwieweit hier ein Handwerkszeug für den Alltag, ein Ausdrucksmittel für jedermann, gegeben ist.
Zeit, Raum und die Frage nach Ursache und Folge sind die wesentlichsten Gesichtspunkte, unter die wir die Gedanken ordnen können. Im Anschluß an diese drei St{i}chwörter, aber ohne logisch strenge Bindung an sie, will ich im folgenden auf einige der wichtigsten Mittel der graphischen Darstellung

1-40-26 (2-304)

hinweisen.
Zeit: Weitaus die meisten Fragen, die uns im Alltagsleben auftauchen, betreffen den Vergleich zwischen gewissen Größen, die wir nach Möglichkeit durch Zahlen auszudrücken suchen. Das nächstliegende Beispiel liefert das kaufmännische Leben. Vergleiche von Preisen, Warenmengen, Vermögenswerten stehen da im Vordergrunde des Interesses. Aber entsprechende Fälle bietet auch fast jeder andere Beruf. Die graphische Darstellung besteht hier einfach darin, daß ich die Zahlengröße, die ich darstellen will, durch eine entsprechend langer Strecke veranschauliche und die betreffenden Strecken nebeneinander zeichne (Abb. 9). Einer der gewöhnlichsten Fälle ist der Vergleich der Werte, die dieselbe Größe zu verschiedenen Zeiten hat. Ich stelle, von der letzten Abbildung ausgehend, die Angaben für verschiedene Jahre nebeneinander, links die früheren, rechts die späteren. Ich lasse sie alle unten auf der gleichen Höhe beginnen und stelle sie um so weiter auseinander, je längere Zeit dazwischen liegt. Dann verbinde ich die oberen Endpunkte und habe nun eine Kurve, die wir die Veränderungen darstellt und die ich mit anderen entsprechenden Kurven vergleichen kann (Abb. 11). Die Kurven läuft wagerecht, wenn die betreffende Größe sich nicht ändert, steigt nach rechts an, wenn diese wächst, sinkt nach rechts, wenn sie abnimmt, und behält so lange die gleiche Richtung, als die jährliche Zunahme die gleiche bleibt. Dieselben Tatsachen könnte ich auch durch eine Tabelle ausdrücken, in die ich die betreffenden Zahlenwerte eintrage, aber aus den Zahlen müßte ich erst ausrechnen, was ich aus der Kurve unmittelbar sehe. Hie{r} zeigt sich die Überlegenheit der Zeichnung, wenn es gilt, eine Anschauung zu vermitteln. Auch für das Gedächtnis wird sie in den meisten Fällen ausdrucksvoller sein als Zahlen. Nur in einem Punkt ist die Zahlentabelle überlegen, in der erreichbaren Genauigkeit. Eine einzige Ziffer mehr hinter dem Komma verzehnfacht die Genauigkeit. Das kann

1-40-27 (2-305)

ich in der Zeichnung nur erreichen, wenn ich diese zehnmal so groß mache. Für eine eingehende Betrachtung werde ich also unter Umständen die Tabelle vor-ziehen, obwohl ich ihre Vorteile mit denen der Kurve verbinden kann, wenn ich wichtige Zahlenwerte in der gewünschten Genauigkeit an die betreffende Stelle neben die Kurve schreibe. Will ich aber einen „Überblick“ haben, dann zeigt schon die Anwendung dieses Wortes, daß ein Bild, das auf das Auge wirkt, mehr gibt als Zahlen, die auf den Verstand wirken.
Auf diese Weise läßt sich alles veranschaulichen, was auf die Vergleichung meßbarer Größen und ihre Veränderungen im Laufe der Zeit hinausläuft. Man trägt die Zeitgrößen in der Wagerechten von links nach rechts auf und die Veränderliche senkrecht dazu. Aber auch Größen, die sich nicht in Zahlen ausdrücken lassen, kann man so rechnend verfolgen. Wenn wir z.B. von einem „Höhepunkt“ in einer geistigen Entwicklung sprechen, dann denken wir offenbar an etwas Ähnliches, wie es unsere Kurve zeigt, wenn sie zunächst ansteigt und dann sinkt. Auch eine solche Entwicklung läßt sich als Kurve zeichnen. Der Höhepunkt fand zu einer bestimmten Zeit statt; der Maßstab in der Wagerechten ist also wieder durch die Zeit gegeben. Nur für die „Höhe“ der geistigen Entwicklung fehlt ein zahlenmäßige Maßstab. Wir können aber zur Gewinnung eines Anschauungsbildes eine gefühlsmäßige Schätzung an die Stelle setzen und bekommen so eine „gefühlsmäßige“ Kurve, die nur in der Wagerechten einen bestimmte Maßstab besitzt, in der Senkrechten nur als quantitatives Anschauungs- und Gedächtnisbild dient. Eine rein gefühlsmäßige Darstellung ohne alle Maße gebe ich in Abb. 11. Hier handelt es sich darum, die Anwendung der verschiedenen Tempora des Zeitworts in der Erzählung zu veranschaulichen. Ich stelle mir die Zeit wieder dar durch eine wagerechte Linie, auf der das Früheren links, das Spätere rechts liegt. Auf dieser Linie ist der Erzählende

1-40-28 (2-306)

im Punkte A gedacht. Unterhalb der Linie liegen die Stoffe, die Vorgänge von denen er spricht, links die vergangenen, rechts die künftigen. Die von A nach den einzelnen Stoffen gezogenen Linien sind dann Sinnbilder für die daran geschriebnen Verbalformen; sie zeigen den „Standpunkt“, von dem bei den verschiedenen Ausdrucksweisen der Stoff betrachtet wird. Der Raummangel zwingt mich zur Beschränkung auf kurze Andeutungen; aber es leuchtet wohl ein, daß sich auf dieser Grundlage ein Mittel ausbilden läßt, um den ganzen Gedanken-„Gang“ einer Schilderung in Zeichen festzulegen. Das Bild von einem „Gange“ in Gedanken durch das Gebiet der Stoffe leitet uns hinüber zu unserem zweiten Stichwort.
Raum: Die graphische Darstellung des Raumes ist uns allen geläufig in ihrer am weitesten verbreiteten Form, der Karte. Dies Darstellungsmittel ist so bekannt, daß wenige Hinweise genügen. Seine Anwendbarkeit ist eine so vielseitige, daß sie sich selbst auf größerem Raum nicht zur Anschauung bringen ließe. Wer hat sich beim Verfolgen der Fortschritte unseres Heeres im Osten wirklich Rußland vorgestellt? Wer konnte das überhaupt. Wir alle haben wohl diese uns fehlende Vorstellung durch das Kartenbild ersetzt, das uns alles Wesentliche in einfachen Linien zeigte. Aber man sollte auch üben, sie zeichnen zu können. Nur die Karte kennt man, deren Hauptlinien man „im Kopfe“ hat. Es ist eine unübertreffliche Übung, sie nun wieder „aus dem Kopfe“ abzuzeichnen. So erst sieht man, was man wirklich mit dem Bewußtsein aufgenommen hat. Kleine Abweichungen in den Maßverhältnissen schaden dabei nichts, wenn nur der räumliche Zusammenhang der Form richtig aufgefaßt wird.

Raum und Zeit zusammen. Auch bei Erscheinungen, die wir auf Karten eintragen, möchten wir zuweilen die Veränderungen im Laufe der Zeit festhalten. Da die Karte schon zwei Dimensionen ausnutzt, so erfordert die Einführung des Zeitmaßstabes eine Darstellung in

1-40-29 (2-307)

drei Dimensionen. Hier kommen wir an die Grenze des zeichnerisch Möglichen. Eine wirklich dreidimensionale Darstellung würde ein körperliches Model verlangen. Das ist erstens schwerfällig und zweitens auch unübersichtlich. Das Wesen der eigentlichen Zeichnung zwingt uns zur Beschränkung auf zwei Dimensionen. Als Beispiel, das sich in gewissen Fällen die perspektivische Darstellung der dritten Dimension empfehlen kann, gebe ich auf Tafel III, Abb. 2 die Entwicklung des Profils der Nord- und Ostsee seit der Eiszeit wieder. Der zu Grunde liegende Gedanke ist der, daß der Querschnitt durch die beiden Meere von dem Eismeer bis zum Ärmelkanal senkrecht zur Zeichenfläche gestellt und von links nach rechts verschoben wird, während gleichzeitig der Übergang von der eiszeitlichen Gestaltung in die heutige vor sich geht. Ich gehe auf diese Darstellung nicht näher ein, da ihre Anwendung eine sehr beschränkte ist. Als Grundregel kann man aufstellen, daß im allgemeinen die dritte Dimension zu vermeiden ist. Wollen wir z.B. die Veränderung der Stellung eines Heeres ausdrücken, so helfen wir uns bekanntlich damit, daß wir auf einer einzigen oder auch auf mehreren verschiedenen Karten die Stellung in verschiedenen Zeitpunkten mit verschiedenen Farben einzeichnen. Ein grundsätzlich anderer Weg ist in Tafel II eingeschlagen, um die wichtigsten politisch-geographischen Veränderungen im Laufe der alten Geschichte zur Anschauung zu bringen. Das Kartenbild des Schauplatzes dieser Geschichte ist gleichsam auf eine Dimension zusammengedrängt, auf die Linie A B, auf der nun jedem der alten Reiche ein gewisser Abschnitt zukommt. Dann ist als zweite senkrechte Dimension die Zeit hinzufügt. Die Grenzlinien des gezeichneten Schemas geben die Vergrößerung der einzelnen Reiche auf Kosten ihrer Nachbargebiete wieder. Die Stabilität bis ins 8. Jahrhundert hinein und die explosionsartige Entwicklung der Weltreiche in der folgenden Zeit kommt deutlich zum Ausdruck. Das Schema kann, wenn es durch Gewohnheit fest eingeprägt wird, als Gedächtnisstütze

1-40-30 (2-308)

für allerlei kulturgeschichtliche Tatsachen dienen (Tafel III, Abb. 1). Jede der eingetragenen Tatsachen merkt man sich auf diese Weise an einer bestimmten Stelle, an der sie sofort in ihrem ganzen zeitlichen Zusammenhang steht. Aus persönlicher Erfahrung möchte ich diese Art der Anwendung zeichnerischer Hilfs-mittel warm empfehlen.
Ursächliche Zusammenhänge: Allgemein bekannt ist die Anwendung von Kurven zur Darstellung der Abhängigkeit einer Größe von einer andern, wobei die eine der beiden Größen in der Wagerechten, die andere in der Senkrechten aufgetragen wird. Eine Aufzählung der wichtigsten Arten solcher Kurven würde ein Buch füllen. Auf eine andere Form der Darstellung ursächlicher Zusammenhänge sei aber noch hingewiesen, den Stammbaum. Er wird meist ohne jeden Maßstab gezeichnet, doch läßt sich ein Zeitmaßstab in der Senkrechten einführen. Stellt man solche Stammbäume in gleichem Maßstab nebeneinander, dann ergibt eine wagerechte Linie sofort, welche der Personen Zeitgenossen waren. Auf derselben Darstellungsweise wie der Stammbaum beruht die Veranschaulichung der Einflüsse des Unterseebootskrieges auf die englische Volkswirtschaft (Tafel IV, Abb. 1).
Wir sind auch hier nicht beschränkt auf die Zeichnung zahlenmäßig bekannter Größen, für „gefühlsmäßige“ Darstellung öffnet sich hier ein ungeheures Gebiet individuellen schematischen Zeichnens. Ein wichtiger Teil ist das tatsächliche Zeichnen einer räumlichen Vorstellung, die wir durch einen bildlichen Ausdruck in der Sprache andeuten. Erst wenn wir ihn wirklich zeichnen (Tafel IV, Fig. 2) werden wir sicher sein, daß wir ihn klar aufgefaßt haben! : (Wir sprechen z.B. von einem Kreislaufe des Wassers.)
Nicht jedes Bild, das wir in der Rede anwenden, läßt sich nun freilich zeichnen. Die bewegliche Rede kann im Augenblick von einem Linie zum andern überspringen und eben durch solchen Wechsel die Sache selbst vielseitiger beleuchten. Die Zeichnung zwingt zur Durchführung eines Bildes und daher zur Anwendung eines Bildes, das

1-40-31 (2-309)

sich möglichst weit durchführen läßt. Darin liegt eine vorzügliche Prüfung dafür, ob das Bild zutreffend war, und damit komme ich zurück auf die Bedeutung, die das geschilderten Zeichnen für die Selbsterziehung hat. Nicht alles, was klar gedacht ist, läßt sich zeichnen; aber meistens liegen die Schwierigkeiten, die dem Zeichnen entgegenstehen, tatsächlich in Unklarheiten des Denkens, die man nun erst deutlich fühlt. Solche Unklarheiten lassen sich in der Sprache ungleich leichter verschleiern als in der Zeichnung; denn beim Sprechen ist die Aufmerksamkeit immer nur auf einen Teil des Gedankens gerichtet und kann leicht von einem dunklen Punkte abgelenkt werden; in der Zeichnung übersehen wir das Ganze mit einem Blick und können jederzeit zu jedem beliebigen Teile zurückkehren. Die schematische Zeichnung hat darin vieles mit der mathematischen Formel gemeinsam. Sie ist ihr aber überlegen als Gedächtnisstütze, weil sie sich unmittelbarer an das Auge wendet. Die Überlegenheit des Gesichtssinnes im Dienste des Gedächtnisses wird vielleicht am besten gekennzeichnet durch den bekannten Rat, man solle ein Wort, um es zu behalten, aufschreiben, sich das Wortbild einprägen und dann den Zettel zerreißen. Viel lebhafter als eine Gruppe von Buchstaben prägt sich aber ein Bild von Linien ein, wenn man es nur mit vollen Bewußtsein aufgefaßt hat.
Zum Schluß noch ein Wort über die Fähigkeiten, die dieses Zeichnen voraussetzt. Übung macht natürlich auch hier den Meister. Aber es gilt weniger, das Zeichnen zu üben als das anschauliche Denken. Man muß bewußt denken, um seine Gedanken zeichnen zu können. Aber die Aufzeichnung eines Gedankenbildes, das wir im Geiste klar vor uns sehen, stellt an die Handfertigkeit gewöhnlich nur geringe Anforderungen. Es handlet sich, kurz gesagt, um ein Umformen der Gedanken zu anschaulichen Bildern, gleichsam ein Umschmelzen der Münze, die wir ausgeben. Die Scheidemünze der gedankenlosen

1-40-32 (2-310)

Phrase verliert dabei ihren Wert; das echte Gold des klaren Gedankens geht um so lauterer daraus hervor.
Solger.

----------------

Zur kommenden Ausstellung.

Das Rundschreiben, das der Ausstellungsausschuß (Hauptm. Stecher, Festgsb. Feldw. Faul, Seesoldat Steppan und Seesoldat von Holstein) am 26. Mai erlassen hatte, fand regen Beifall; alle Lager meldeten Schaffensfreudige an und gaben manche gute Anregung, wie z.B. die Erweiterung der Ausstellung auf Buchzeichen (ExLibris), Plakate für die Ausstellung, Vergrößerungen nach Photographien, Handfertigkeitsarbeiten aller Art, Bau von Schiffsmodellen, Musikinstrumenten, Schmetterlingssammlungen und dergl. mehr.
Der Ausschuß trat im Laufe des Sommers mit der Lagerbehörde in Verbindung, welche die Ausstellung genehmigte und zusagte, daß die Lager Kokaido und Dairinji zum Besuch derselben nach Yamagoe kommen dürften. – Der Termine der Ausstellung war zunächst auf den 12. November festgesetzt worden, damit die „Künstler“ die günstigere Jahreszeit zur Arbeit benutzen konnten; auch mußte das für Oktober geplante Tennisturnier erst vorüber sein. Wegen der Choleragefahr hat die Lagerbehörde vorläufig einen Besuch durch die anderen Lager verboten. Sobald diese vom Ortskommando ausgehende Beschränkung aufgehoben wird – Ende November oder Anfang Dezember –, wird der Tag der Ausstellung neu bestimmt werden. Die Ansicht in manchen Kreisen, daß die Lagerbehörde nur Ausflüchte vorbrächte, um die Ausstellung ganz zu verbieten, trifft nach kürzlich eingezogenen Erkundigungen bei der genannten Behörde nicht zu.
Die Ausstellung war zunächst im Freien unter Zelten gedacht.

1-40-33 (2-311)

Aus technischen Gründen wurde diese Absicht fallen gelassen und der Tempel Guganji für die Ausstellung gewählt. Licht und Raumverhältnisse in diesem Tempel sind gut. Die Ausstellung ist in sechs Gruppen geteilt:
Gruppe 1mehrfarbige Originale (Entwürfe, Naturstudien usw.)
Gruppe 2mehrfarbige Kopien
Gruppe 3einfarbige Originale
Gruppe 4.einfarbige Kopien.
Die Wahl der Manier bleibt dem Aussteller überlassen. Da sich herausstellte, daß die Vergrößerung von Photographien eine Sonderarbeit einiger Kameraden ist, wurde hierfür eine besondere Gruppe eingerichtet:
Gruppe 5Photographien und Vergrößerungen, ferner
Gruppe 6Handfertigkeitsarbeiten wie Schiffs- und andere Modelle, Musikinstrument, Holzschitzereien, Dreharbeiten, Scherenschnitte usw.
Die durch Stiftungen eingegangen Mittel erlauben, für jede Gruppe sicher einen ersten und zweiten Preis, voraussichtlich auch noch dritte Preise zu beschaffen. Ehrenpreise sind gestiftet worden: Einer für das beste Gedenkblatt an die Tsing-taugefallenen, sofern überhaupt ein des Preises würdiges Stück eingeliefert wird, ferner zwei Ludwig Richter-Wappen, endlich ein Preis gestiftet vom alten „Lagerfeuer“ für die beste Schwarz-Weiß-Zeichnung in Strichmanier.
Der Preisrichterausschuß setzt sich zusammen aus MajorKleemann, Hauptm. Maurer, Leutn. Rumpf, Leutn. Müller und Uoffz. Henze. Jedes ausgestellte Stück wird einen Vermerk tragen über den Namen des Verfertigers und darüber, ob es Orginal oder Kopie ist, ob preisgekrönt (I., II., III.), ob außer Wettbewerb oder verkäuflich. Falls der Verkäufer den Erlös

1-40-34 (2-312)

zu wohltätigen Zwecken bestimmt, wird dies ebenfalls vermerkt.
Jeder Aussteller erhält zum Gedenken ein hierfür geschaffenes Erinnerungsblatt. - - - - - - - - - - - - - - -
Zum Schlusse eine Notiz aus einer japanischen Zeitung:
„Ausstellung der Gefangenen. Violine von sechs Fuß Länge.“
Im Gefangenenlager Matsuyama, Provinz Ehime, ist man jetzt bei den Vorbereitungen zur Eröffnung einer Kunstausstellung, in der Sachen ausgestellt werden sollen, die aus den Händen der Gefangenen hervorgegangen sind. Der Zweck ist, sie ein wenig in ihrem eintönigen Leben aufzuheitern. Augenblicklich sind sie alle eifrig bei ihren Arbeiten. Wie man hört, soll es unter ihnen so gut wie gar keine geben, die nicht imstande sind, künstlerische Bilder zu zeichnen. Unter ihnen sind manche, die so prächtige Sachen machen, daß man kaum glauben mag, daß es Amateure sind. Voraussichtlich wird es in den letzten Tagen des November so weit sein, daß die Ausstellung im Lager Yamagoe eröffnet werden kann. Ferner planen im Gefangenenlager Matsuyama zwei bis drei Gefangene seit langem schon die Herstellung einer außerordentlich großen Violine. Von ihren Landsleuten in Shanghai haben sie sich nach und nach das Zubehör kommen lassen. Nachdem nun alle Vorbereitungen beendet sich, haben sie am 28 letzten Monats sich an die Herstellung des Instruments gemacht, welches noch länger ist als ihre eigene Körpergröße, nämlich 6 Shaku 6 Sun.

-----------------------