Lagerfeuer

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Lf. Nr. 37 Matsuyama, Sonntag, den 8. Okt. 1916

Die Frau mit den zwei Männern.

Auch in diesem Sommer tauchte wieder zur Gurkenzeit in den heimischen Zeitungen – zwar nicht wie in Friedenszeiten die etwas abgenutzte Seeschlange – aber, wie voriges Jahr, die Kriegerfrau mit den zwei Männern auf.
Sie hat vom Regiment ihres Mannes die Nachricht erhalten, daß dieser gefallen sei und denkt mit ihrer Gesinnungsschwester Martha Schwertlein im Faust: „ . . . tot! – Oh Pein! – Hätt’ ich nur einen Totenschein!“ – – Die Nachricht wird dann noch weiter ausgeschmückt durch allerlei unwesentliche Zusätze: Übersendung des kaiserlichen Gedenkblatts, Lesen kirchlicher Messen, Auszahlung von Sterbegeldern und Renten usw. – – Nun, Frau Martha tröstet sich bald, bezw. läßt sich trösten durch einen andern Mann, dem sie nur in Ermangelung des alten, ewige Treue schwört. Doch schon naht sich das Unheil und in die schönsten Flitterwochen platzt eine Karte aus Sibirien (natürlich!), in welcher der Verflossen sich noch als am Leben meldet. – Und dann versetzt die Zeitung ihren erstaunten Lesern als die Moral von der Geschicht’ ihre juristischen Kenntnisse, die dann manchmal, namentlich bei kleineren Provinzblättern etwas eigenartig wirken. Und zwar kann man es an den Knöpfen abzählen: die eine Zeitung läßt die erste, die andere die zweite Ehe gültig sein. Neuerdings scheinen sich die kleineren Blätter mehr der letzteren Entscheidung zuzuneigen, und führen dazu, um dies unglaubliche Ergebnis ihren Lesen schmackhafter zu machen, noch ein paar gänzlich mißverstandene Paragraphen des B.G.B. an.
Sehen wir uns den Fall einmal näher an: – Die zweite Ehe kann natürlich nur gültig sein, wenn als sie geschlossen wurde, die erste aufgelöst war; denn eine Doppelehe ist nach unserem Rechte schlechterdings unmöglich. Es handelt sich also nur um die Frage: war die erste Ehe aufgelöst? – Wodurch kann nun eine Ehe überhaupt aufgelöst werden? Ehescheidung,

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Nichtigkeit und Anfechtbarkeit kommen hier nicht in Frage. Also läßt uns das Gesetz nur noch zwei Möglichkeiten: Tod eines Ehegatten oder Wiederverheiratung des einen Ehegatten nach der Todeserklärung des anderen.
Der erste Fall kann bei uns nicht zutreffen; denn hier müßte der Mann wirklich tot sein, und das hat er bereits durch seine Karte aus Sibirien widerlegt. Durch die Mitteilung des Truppenteils allein stirbt man noch nicht.
Es bliebe also nur noch der letzte Fall. Der sieht ja nun auch – wenigstens auf den ersten Blick – gerade so aus, als ob er auf unseren Fall gemünzt sei, und darauf sind dann auch die nichtjuristischen Herren von den erwähnten Lokalblättern hereingefallen.
Was heißt denn das: „eine Todeserklärung“? Doch nicht etwa die Mitteilung eines beliebigen Menschen, ein anderer sei tot! Nein, eine Todeserklärung ist ein amtlicher Ausspruch einer dazu gesetzlich zuständigen Stelle, daß ein Verschollener, von dem seit einer bestimmten gesetzlich vorgeschriebenen Anzahl von Jahren keine Nachricht mehr vorliegt, als tot behandelt werden soll, da alle Nachforschungen und amtliche Aufrufe vergebens waren. Da eine solche Erklärung von äußerst schwerwiegender Bedeutung ist, so ist natürlich das Verfahren genau geregelt und mit allen gesetzlichen Sicherheiten versehen, um nach Möglichkeit eine der Tatsachen widersprechende Entscheidung zu verhüten. Dies ganze Verfahren liegt in den Händen des Gerichtes, das dann auch die Todeserklärung erläßt. Ein Truppenführer wäre zu einer solchen Erklärung gar nicht ermächtigt, hätte ja bei weitem auch nicht die Hilfsmittel zur Erforschung des Tatbestandes und könnte nicht die nötige Sicherheit bieten für ein richtiges Ergebnis. Aber jener Truppenführer hat ja auch gar nicht eine solche Erklärung abgeben wollen oder abgegeben! Seine Mitteilung, der Mann sei gestorben, ist etwas ganz anderes als die gerichtliche Feststellung, ein Verschollener solle von einem bestimmten Zeitpunkte an als tot betrachtet werden!
Wir kommen also zu dem Ergebnis, daß in unserem Falle von

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einer „Todeserklärung“ gar keine Rede ist, und daher auch die alte Ehe nicht durch „Wiederverheiratung im Falle der Todeserklärung“ aufgelöst sein kann. Sie besteht also noch, und die neue Ehe ist tatsächlich eine Doppelehe und daher ganz und gar von vornherein nichtig gewesen. (Das kann allerdings erst geltend gemacht werden, nachdem die Ehe durch Urteil für nichtig erklärt ist. Aber jeder Beteiligte, namentlich der alte Ehemann, jeder rechtlich irgendwie Interessierte, selbst der Staatsanwalt kann jeder Zeit diese Klage auf Nichtigkeitserklärung erheben.) Natürlich können die beiden Ehegatten der neuen Ehe nicht etwa wegen Doppelehe bestraft werden, da sie ja, wie wir wohl annehmen dürfen, von dem Tode des wahren Ehegatten überzeugt waren und also nicht schuldhaft gehandelt haben.
Ganz anders hätte der Fall gelegen, wenn der Truppenteil richtiger der Frau mitgeteilt hätte: man habe gesehen, wie ihr Mann getroffen und zu Boden gestürzt sei, daß er dann regungslos dagelegen habe; man vermute, daß er tot sei, habe es aber nicht feststellen können, da sein Körper dem Feinde in die Hände gefallen sei. Auf Grund dieser Nachricht und der Tatsache, daß kein Lebenszeichen von dem Manne mehr einläuft, würde nunmehr seine „Verschollenheit“ beginnen. Wie lange muß diese nun laufen, damit eine Todeserklärung stattfinden kann? Im allgemeinen 10 Jahre (bei Menschen von mehr als 70 Jahren: 5 Jahre, bei Minderjährigen bis zum Ablauf des 31. Lebensjahres). Das wäre immerhin ein bißchen viel. Aber für unseren Fall war schon eine besondere Bestimmung vorgesehen: Kriegsteilnehmer konnten drei Jahre nach Friedensschluß (oder nach Ablauf des Jahres, in dem der Krieg tatsächlich aufgehört hat) für tot erklärt werden. Auch diese Bestimmung half also unsere Witwe nichts, sie hätte noch recht lange warten müssen. Eher hätte sie schon ihr Ziel erreicht, wenn ihr Mann bei der Marine gewesen wäre: Hier gilt nämlich die besondere Vorschrift, daß, wer sich auf einem untergegangenen Schiffe befinden hat, schon ein Jahr darauf für tot erklärt werden kann, wenn solange von ihm keine Nachricht eintrifft. Aber schließlich hat nun doch der Gesetzgeber mit Frau

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Marthens Nöten ein Einsehen gehabt: Der Bundesrat hat in diesem Jahre die Vorschriften über Kriegsverschollenheit geändert, da sie auf eine derartige Länge des Krieges nicht berechnet waren. Nach der neuen Verordnung vom 18. April kann ein Kriegsteilnehmer schon für tot erklärt werden, wenn er ein Jahr lang verschollen ist, d.h. wenn seit dieser Zeit keine Nachricht mehr von ihm vorliegt. So schnell geht es denn aber doch noch nicht mit dem neuen Heiraten. Zwar braucht das Aufgebot (des Verschollenen, nicht das der neuen Eheleute: das ist wieder eine andere Sache) statt sonst sechs Wochen nur wenigstens einen Monat an der Gerichtstafel (oder auch Ortstafel der Heimatsgemeinde) angeheftet zu werden, ehe die Todeserklärung erfolgen kann; aber als Zeitpunkt des Todes gilt dann erst der Tag, an dem diese Erklärung zulässig war, an dem also seit einem Jahre keine Nachricht mehr vorlag; und heiraten darf die Witwe erst zehn Monate nach diesem Todestage, „es sei denn, daß sie inzwischen geboren hat“, was in diesem Falle gar nicht recht von ihr wäre, und wir deshalb zu ihrer Ehre nicht annehmen wollen. Aber wir wollen sie nicht zu lange hinhalten. Für ihren Fall hat der Gesetzgeber wieder einmal eine besondere Ausnahme geschaffen. Wenn nämlich ein bestimmter Unglücksfall vorliegt, von dem an die Verschollenheit zählt (Sprengung, Gefecht, Fliegerabsturz), so wird schon dieser Tag als der Tag des Todes festgestellt. Aber auch wenn dies nicht so läge, so kann doch noch immer von jener Wartefrist Befreiung bewilligt werden; und das wird hier, entsprechend dem Sinne der Vorschrift, der Amtsrichter auch sicher tun.
Was macht aber unser glücklich und rechtmäßig vereintes Pärchen nun, wenn trotz ihrer schönen amtlichen Todeserklärung, trotz allen Nachforschungen, die dabei unternommen waren; der Ehemalige durchaus nicht tot sein will, sondern nunmehr die bekannte Karte aus Sibirien schickt? In jedem Falle wird es ihnen recht unangenehm sein. Oft wird wohl auch die Frau nun der Ansicht sein, daß sie jetzt eigentlich zu ihrem ersten Mann gehöre, oder ihr jetziger Mann wird meinen, daß es besser

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sei, mit einer Frau, deren eigentlicher Mann noch lebt, nicht verheiratet zu sein. Beiden kann geholfen werden: Denn jeder für sich (aber kein Fremder) kann, auch gegen den Willen des anderen, innerhalb eines Zeitraumes von sechs Monaten seit Eintreffen des Lebenszeichens, die neue Ehe mit Klage anfechten, worauf sie dann gerichtlich für nichtig erklärt wird, d.h. so zerrissen wird, als ob sie nie bestanden habe. Damit lebt dann aber auch gleichzeitig die frühere Ehe so auf, als wenn sie nie aufgelöst gewesen wäre.
Wenn aber die neue Ehegatten mit ihrem Dasein ganz zufrieden sind, hat dann der arme Kriegsgefangene in Sibirien kein Möglichkeit, diese Ehe aufzulösen und seine älteren Rechte geltend zu machen? Nein. Er ist nun einmal unter Anwendung aller gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmen für tot erklärt, und wenn man auch nicht von ihm verlangt, daß er nun wirklich tot sein solle, im Gegenteil ihm sogar sein Vermögen usw. wieder zuspricht, so kann er doch gegen die inzwischen rechtsmäßig entstandene neue Rechtslage nichts ausrichten; das ist nun mal sein Pech. – Ja, auch im anderen Falle, wenn nun einer der Eheleute durch Anfechtung die Ehe aufgelöst hat, muß er seine Gattin trotz des Zwischenspiels wieder als die seine anerkennen, auch wenn es ihm nach allem Vorhergegangenen nicht lieb sein sollte. Auch eine Scheidung wird im allgemeinen nicht möglich sein, da er ja seiner Frau keine Schuld vorwerfen kann; er wird sich also fügen müssen.
Nun wäre noch eine Frage: Was wird aus Karl und Ilse, dem Zwillingspärchen, das Frau Martha ihrem zweiten Eheliebsten geboren hat oder es wenigstens demnächst tun wird? – Auch hier sind natürlich die beiden Fälle zu unterscheiden: War die Ehe auf Grund einer rechtmäßigen Todeserklärung geschlossen und hatte keiner die Ehegatten angefochten, so ist und bleibt sie ja gültig, und die Kinder sind ehelich wie jedes andere auch. – War dagegen die Ehe von vornherein nichtig, weil sie ohne Todeserklärung auf die falsche Nachricht hin geschlossen

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war, oder wurde sie nichtig durch Anfechtung eines Ehegatten, so sind die Kinder nicht in gültiger Ehe erzeugt, also eigentlich unehelich. Das wäre in diesem Falle recht hart, ja, wie die Sachen nun einmal liegen, die rechtliche und gesellschaftliche Stellung der Unehelichen sehr schlecht ist, und hier doch keine Schuld vorliegt. Darum hat das Gesetz für diesen Fall vorgesehen, daß die Kinder die Rechte ehelicher haben sollen, wenn nicht beide Gatten bösgläubig waren. Sie haben also gegen ihre Erzeuger alle Rechte solcher Kinder gegen ihre Eltern, führen den Namen des Vaters usw. – Wäre einer der Gatten bösgläubig gewesen, so hätte er seine Rechte gegenüber den Kindern verloren, nicht aber seine Pflichten. Da aber beide gutgläubig waren, so ist zu handeln, als ob die Ehe durch Scheidung aufgelöst und beide Gatten für schuldig erklärt worden wären, d.h. der Vater hat weiterhin die Vertretung der Kinder und die Sorge für ihr Vermögen, während der Mutter die Sorge für die Person zusteht. Diese schließt in sich das Recht, den Aufenthalt zu bestimmen und die Erziehung zu leiten. Wenn Karl aber 6 Jahre alt ist, hat der Vater auch die persönliche Sorge für ihn. Auch dem Ehegatten, der die persönliche Sorge jeweils nicht hat, steht doch immer der persönliche Verkehr mit dem Kinde zu. Auch kann, wenn die Verhältnisse es erfordern, das Vormundschaftsgericht eine andere Regelung der persönlichen Sorge treffen.

Dr. Kn.
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Hände hoch!

Jekaterina Pawlowna, die Gattin Jakowa Alexandrowitsch’, hat uns heute besucht. Es ist ein trübes Januarsonntag. Nachmittag gegen 3 Uhr. Wir sitzen gemütlich am Teetische unseres Hauses in S. Kapiton Kapitonowitsch, der Chef, Nikolaj Michailowitsch und dessen Frau Alexandra Iljinitschna, ferner Metrofan Mironowitsch und ich.

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Alexandra Iljinitschna macht die Wirtin. Immer wieder und wieder füllt sie unsere Gläser mit Tee und Wasser aus dem freundlich blinkenden Samowar. Wie anheimelnd wirkt doch ein solcher im Kreise geselliger Russen! Das Wasser in ihm siedet vor Vergnügen und der Samowar spricht zu uns: „Sehet auch mich! Ich bin der Mittelpunkt hier. Ruhig und gewichtig stehe ich da. Auf mir ruhen eure Blicke aus, mein Summen beruhigt euch, der matte Glanz meines metallenen Rumpfes stimmt euch heiter. Ihr alle kennt mich von klein auf, denn ich fehle in keinem russischen Hause. Ihr kommt zu mir, wenn euch dürstet und wenn euch friert, ihr sammelt euch um mich, wenn ihr gesellig und mit Freunden unter euch sein wollt.“ – – –
Es ist allmählich draußen dunkel geworden. Schatten wachsen im Zimmer, der Lampe freundlicher Schein verscheucht sie und erhellt den weißen Tisch, den blinkenden Samowar, das Geschirr, unsere Gesichter. Schnee beginnt im Freien zu fallen, in feinen rieselnden Flocken. Bitter kalt ist es draußen. Die Damen singen eines der melancholischen Volkslieder, die so traurig, so ergeben klingen. Langgezogenes Heulen der halb tollen Hofhunde klingt verworren zu uns. Die Uhr tickt durch die Stille des heimlichen Zimmers. Wir sehen dem Rauche unserer Papyros nach und träumen.
JekaterinaPawlowna steht plötzlich auf. Die Uhr zeigt bereits auf 6. Es ist die höchste Zeit, nach Hause zu fahren. Wir versichern umsonst, daß sie ihr Gatte abholen werden. Wir müssen anspannen lassen. –-
Weit ist es wahrlich nicht bis zur Wohnung unseres Gastes, nur knapp drei Werst. Aber diese kurze Strecke ist berüchtigt durch ständige Überfälle und unsicher durch das Raubgesindel der W.=Brückenarbeiter. Der Weg ist unbeleuchtet, es geht Hügel auf, Hügel ab, – querfeldein. Kenntlich ist er nur durch die dunklen Schlittenspuren, die sich aus dem Weiß des Schnees hervorheben. –
Wir fahren in zwei Schlitten. Auf alle Fälle. Im ersten sitzen Kapiton Kapitonowitsch und Jekaterina Pawlowna. Im zweiten die mutige Alexandra Iljinitschna, die ihre Freundin unbedingt begleiten muß, und ich.

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Es geht sehr langsam vorwärts auf diesem miserablen Wege. Hügel auf, Hügel ab, - querfeldein. Die Kälte faßt uns hart an. Links und rechts sind hohe Stöße Brennholz aufgeschichtet. Kaum 1 Werst sind wir vom Hause weg, da schreit eine heisere Stimme: „Rukiwerch!“ (Hände hoch!) – – –
Wegelager! Seltsam, mit welcher Ruhe wir das feststellen. Merkwürdig, wie schnell die Revolver aus der Tasche gezogen sind. Wie scharf der Blick wird. Urinstinkte erwachen in uns. Du oder ich, sagt eine innere Stimme. Eine Ruhe in uns wie unter blauem Sternenhimmel in stiller Nacht. –
Da die beiden Schlitten durch die Unebenheit des Weges etwas, vielleicht 30 Schritt, auseinander geraten waren, so hatten die Wegelagerer nur den ersten Schlitten, den K. K.’s bemerkt. Die Burschen erstaunten wohl sehr, als plötzlich aus der Versenkung noch ein weiteres Gefährt auftauchte. Damit hatten sie nicht gerechnet.
K. K. befahl zu halten und blieb ruhig im Schlitten sitzen, bis wir mit dem unsrigen dicht an den seinen herangefahren waren. Dann stieg er gemächlich ab. Fiel ihm gar nicht ein, die Hände hoch zu heben. Er lebte nicht umsonst über 1 Jahr in diesem schlimmen Orte und kannte seine Pappenheimer! Das Gesindel schien zu glauben, daß er sich ihnen auf Gnade und Ungnade ausliefern wollte. Aber weit gefehlt! – –
K. K., der immerhin etwas deutsch sprach, rief mir blitzschnell: „Nicht schießen! Sitzenbleiben!“ – und hielt in demselben Augenblicken dem auf ihn zukommenden Burschen einen Revolver unter die Nase. Einen Revolver, der mit dem Schießeisen des Angreifers verglichen ein Kruppsches Schnellfeuergeschütz gegen eine Feldschlangen war. –
„Dummkopf
was willst du von uns?“ hauchte er den überraschten Burschen an. „Geld?“ Komme morgen in mein Geschäft, damit ich die Hunde auf dich hetzen kann, Sohn einer Hündin! In dem Augenblicke, wo du deinen Revolver hebst, bist du eine Leiche. Wir sind sechs mit den Kutschern, ihr nur drei. Pascholl! Schert euch dahin, wohin selbst der Rabe die Knochen nicht hinschleppt!“

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So ungefähr sagte der wackere K. K. Es zuckte mir und sicherlich auch ihm in den Fingern, auf die elenden Jammergestalten loszuknallen, man wartet in Sibirien nicht lange damit. Aber die Folgen? –
Zwei Damen fuhren mit uns, für die wir die volle Verantwortung trugen, zwei Damen, die Gattinnen anderer und zudem Mütter waren. Und kam es zum Schießen, so wurden sie zuerst getroffen, denn sie saßen rechts im Schlitten und deckten uns gleichsam gegen die 2 Kumpane des mit K. K. verhandelnden Anführers. Die standen, stumm, drohend, die Schießeisen in der Hand 15 m rechts von den Schlitten. Wir hielten sie mit unseren Waffen in Schach. Eine unerträgliche Lage, der aber ein Ende gemacht werden mußte _
Wie vernünftig von K. K., daß er angehalten hatte! Wären wir auf den Anruf der schlimmen Gesellen weiter gefahren, so hätten diese dies als Feigheit unsererseits angesehen und gefeuert. Trotz alledem konnte die Sache recht fatal werden, wenn die Burschen Zuwachs bekamen. – – –
Aber die Kerle waren vernünftig und vollständig überrascht. Jedenfalls auch erstaunt, daß wir uns ihnen gegenüber so anständig benahmen, waren wir doch in der Übermacht. Kurz und gut, sie empfahlen sich schleunigst, vorsichtig sichernd. Einer unserer Kutsche schoß dennoch vor Grimm dem Gesindel nach, ohne indes zu treffen. –
15 Minuten später waren wir in W. –
Wir saßen lange zusammen und erholten uns von dem Schrecken durch eine ausgiebige Sakuska. Unvergeßlich bleibt mir die Rückfahrt von W. nach S. Gegen Mitternacht brachen wir auf. Wir fuhren auf Unwegen nach Hause. JakowAlexandrowitsch ließ es sich nicht nehmen, uns zu begleiten. Er fuhr in seinem Schlitten mit. Unsere drei Gefährte rasten eine Strecke von 6 bis 7 Werst über das matt schimmernde Eis der gewaltige Seja. Ein unbegreifliches Glück, da die Pferde nicht stürzten, ein noch größeres Glück, daß wir nicht in eines der hier zu Dutzenden in das Eis geschlagenen Wasserlöcher gerieten. Aber ungefährdet erreichten

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wir unser Haus.

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Es mochten ungefähr 14 Tage seit dem geschilderten Vorfalle verstrichen sein. Da fuhren wir wieder einmal mitten in der Nacht die gefährliche kuze Strecke von W. nach S. Plötzlich sahen wir uns von einen Dutzend Gestalten umringt, die den Pferden in das Krummholz fielen. Wir waren nur vier Mann stark. Geschwärzte Gesichter, aus denen nur das Weiße der Augen unheimlich hervortrat, leuchteten erschreckend nahe vor den unsrigen auf. Da bewahrte uns ein Ingenieur, welcher mit uns war, vor dem schlimmen Schicksal. Er rief den Straßenräubern ein paar eigentümliche Worte zu, – – – und die unheimlichen Gestalten verschwanden urplötzlich, wie sie gekommen waren. – – –
Der Ingenieur, der selbst bei diesen rauhen Gesellen (es waren ihm unterstellte Arbeiter) sich großer Beliebtheit erfreute, hatte eines Tages einen Zettel auf seinem Platze gefunden. Darauf standen nur ein paar Sätze und die Mahnung, den Inhalt derselben in der Stunde der Gefahr seinen Angreifern zuzurufen. Man würde ihn daran erkennen und ihn in Ruhe lassen. Und so geschah es auch.
Hätte er den Zettel der Polizei übergeben, so hätte er vorher sein Testament machen müssen. Denn die Herrschaft dieser Brückenarbeiter ist schlimmer als die der Maffia in Italien. Sogar die Polizei soll mit ihnen unter einer Decke stecken. –
K. Bähr.
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Aus Tsingtaus Vergangenheit.

Es war noch in der guten alten Zeit, in der Zeit, als die wenigen Kolonisten noch eine große Familie bildeten, in der ein gemeinsames Schicksal und ein enges Zusammenleben sie treu verband, als Frack und ähnliche Verschönerungsstücken der modernen Kultur noch zu den weißen Raben

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gehörten, die zu Joppe und Reitstiefeln der damaligen Zeit nicht paßten, als es noch keine modernen Straßen und keine Straßenbeleuchtung gab, dafür aber in den Gouvernementsbüros weit weniger nervenzerreibende Arbeit und für Kaufleute und Gewerbetreiber eine weit größeren Verdienst, als wir alte Kolonisten noch jung waren, und das Leben brauste und schäumte. – Es war noch die alte goldne Zeit, an die dies älteren Tsingtauer so oft und gern und manchmal mit Wehmut zurückdenken. – Ja, es war damals in mancher Beziehung ideal in unserer schönen Kolonie, es war so frei das Leben und so ungezwungen.
Die kleinen Unbequemlichkeiten in den chinesischen Lehmboden spürte man nicht. Auf der Bierkiste oder dem Zementfaß saß es sich genau so weich und bequem wie später im Klubsessel. Wenn das alte Dach in der Regenzeit nicht dicht hielt und einem das Wasser nachts auf den Leib rieselte, wußte man immer Rat. Man spannte einen chinesischen Papierschirm über das Bett und schlief ruhig weiter.
Warum sollte man sich über Kleinigkeiten aufregen, man war doch nicht der einzige, dem es in die Bude regnete! Und was lag schon daran, wenn der Lehmfußboden naß wurde. Wertvolle Möbel hatten man nicht. Es war ja noch alles im Werden begriffen. Lange hielt man sich meist ohnehin nicht in der Wohnung auf. War der Dienst zu Ende, gings ins Freie. Wenn das Wetter es irgend erlaubte, wurde noch vor dem Abendbrot ein längerer Ritt unternommen.
Ich weiß nicht, ob die Mehrzahl der Kolonisten das auch so machte; ich erzähle von einem kleinen Kreise, in dem ich lebte. Der Reitsport stand zu jener Zeit überhaupt in hoher Blüte. Es gehörte auch nicht viel dazu, Besitzer eines Reitpferdes zu sein. Für meinen ersten Renner bezahlte ich $ 30.-, er war ein Prachttier.
Ein bißchen einsam war es manchmal, namentlich, wenn man einsam und abgelegen wohnte. Hatte man das Bedürfnis nach Aussprache, so mußte man schon in die Kneipe gehen. Dort war der Treffpunkt der

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Junggesellen, und Junggesellen waren mit verschwindend wenigen Ausnahmen alle in Tsingtau, Tapautau und Umgebung wohnenden Deutschen.
Aber auch zwischen den Lehmhütten des eigenen Heimes hatte Langeweile keine Stätte. Man hatte ja seinen vierbeinigen Freund, den treuen Freund, der einem nicht von der Seite wich, der einen überallhin begleitete, ins Geschäft, beim Ausritt, in die Kneipe und – manchmal weiter. Das war der Hund!
Es gab keinen Europäer, die nicht einen besessen hätte; es gab überhaupt wenige Europäer, die nur einen besaßen. Einen, mindestens einen Hund, hatte jeder, die angehörigen der Tsingtauer Besatzung nicht ausgenommen. Viele hatten ein halbes Dutzend, mein Nachbar hatte neun. Ich selbst besaß zwei Tiere einer unbestimmbaren Rasse, die mir mein liebenswürdiger Chef geschenkt hatte, als Ersatz für eine für mich beantragte, aber von der wenig einsichtigen vorgesetzten Behörde abgeschlagene Gehaltszulage. –
In den Straßen Tsingtaus und Tapautaus und in den alten Truppenlagern der Chinesen, dem Strand-, Artillerie- und Ostlager, die in den ersten Jahren der deutschen Besatzung zur Wohnung dienten, wimmelte es von Hunden verschiedenster Art, Farbe, Form und Größe. Gänzlich neue Arten hatten sich im Laufe weniger Jahre gebildet und täglich begegnete man wieder neuen, einzigartigen und äußerst komplizierten Mischungen. Etwa ein Dutzend deutscher Hunde verschiedener Rasse – nicht mehr – die von Offizieren und Beamten aus der Heimat mitgebracht worden waren, mochten zu Anfang in der Kolonie gewesen sein. Diese gingen mit dem ihrer Gattung eigenen Eifer an die Veredlung und Vervollkommnung ihrer zahlreichen, aber heruntergekommenen und halb verhungerten chinesischen Verwandtschaft. Sie wirkten die Jahre hindurch für Vermehrung und vollständigen Umformung des armseligen und verwahrlosten Chinesenhundes; sie sind die Stammväter der neuen Tsingtauer Hunderassen, wie sie ihresgleichen nicht finden.

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Auch mein Freund besaß einen Hund. Das war ein kluges anhängliches Tier. Er war nicht groß und war nicht klein; er war nicht kurz- aber auch nicht langhaarig. Von Farbe war er eigentlich schwarzbraun. Man konnte aber nicht sagen, daß es die Grundfarbe sei, denn der Kopf hatte wiederum zur Hälfte hellgelbe Farbe, auf der sich die braunroten Flecke von verschiedener Form und Große nicht übel ausnahmen. Gelbe Streifen, manchmal von dunklen Linien unterbrochen, zogen sich vom zierlichen Hals bis zur Schwanzwurzel. Die Rute selbst war bis auf den untern Teil lang behaart. Der etwas zu dick geratene, doggenähnliche Kopf, dessen Nase sogar Ansatz zur Doppelbildung verriet, gab ihm ein grimmiges Aussehen, das in entschiedenen Gegensatze zu seiner vorbildlichen Gutmütigkeit stand. Die Gedrungenheit des Kopfes wurde durch überaus schlanke Linien des Körpers ausgeglichen, der von vier kurzen, aber kräftigen und schwungvoll gebogenen Beinen getragen wurde. Satan hatte ihn sein Herr getauft. Satan war weder Pudel noch Bernhardinerhund, weder Dackel noch Windhund, weder Mops noch Terrier, aber von allen hatte er was, und er war ein schönes Tier, dem viele gute Eigenschaften im Blute saßen, nur musikalisch war er nicht. –
Aber mein Freund war musikalisch, er war geradezu ein musikalisches Genie! Er spielte mehrere Instrument mit Sicherheit und Schneid; Virtuose war er auf der Handharmonika. –
Es war an einem Sommerabend. Tagsüber hatte es wieder einmal in Strömen gegossen, die Rawinenlöcher standen voll Wasser. Aus den Tümpeln drang das gleichförmigen ohrenbetäubende Gequake der Frösche zu mir herüber.
Nun hatte der Regen aufgehört. Die dunklen Wolken hatte der Wind zerrissen, und der Himmel zeigte wieder ein freundliches Gesicht. Ein frischer Südost wehte vom Meere. In meiner Fangse, die ganz in der Nähe des kleinen Hafens lag, fand ich es unbehaglich. Sie lag tief und gestattete den im Sommer vorherrschenden Südostwinden keinen Zutritt. Den scharfen Nordwest, der während des ganzen Winters wehte, erhielt

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ich dafür aus erster Hand. Ich ging ins Freie. Unwillkürlich zog es mich an die See, woher die frische Brise kam. In Gedanken, ohne eigentliches Ziel, schlenderte ich dem Strande zu. Da wurde ich plötzlich aus meinen Träumen geweckt. Musik ertönte aus einem Hause und ein langgezogener klagender Gesang. Der Wind brachte nur einzelne Töne, nur Bruchstücke von Musik und Gesang zu mir herüber. Ich ging den Tönen nach; ich strebte eiligst dem Hause zu, aus dem ich die Musik zu hören glaubte, aber zu Ohrenshmaus kam ich spät. Das Lied war zu Ende, bevor ich das Haus ereichte; eben verklangen die letzten Töne im Abendwind.
Lange sollte ich jedoch nicht im Ungewissen bleiben. Trotz der herrschenden Dunkelheit konnte ich feststellen, daß das musikalische Gebäude die Wohnung meines Freundes war. Aus dem niedrigen, geöffneten Fenster fiel ein schwacher Lichtschein auf die Straße. Es war hell genug, um mich einen Haufen Chinesen erkennen zu lassen, die in stummer Andacht das Fenster umstanden und durch dasselbe mit gespannter Aufmerksamkeit die Vorgänge im Innern zu verfolgen schienen. Jetzt erscholl, erst leise, dann kraftvoll und sicher, in rauschenden Akkorden, wie sie nur die geübte Künstlerhand dem Instrument zu entlocken vermag, der erste Vers des entzückenden Liedes: „Tausend mal gedenk ich Dein, ja weil ich von Dir scheiden muß.“ Erst zögernd zaghaft, zart und seufzend wie Zephirsäuseln setzte die Stimme ein. Dann, bei der Wiederholung der ersten Strophe, schwoll der Gesang, die Stimme bekam Kraft und Selbstbewußtsein, ohne an Zartheit zu verlieren, um beim Beginn des zweiten Satzes, bei der Stelle: „Ja weil ich von Dir scheiden muß“, plötzlich leiser und leiser werdend, in einem dumpfen Seufzer zu erlöschen. Wie unterdrückter Schmerz aus gequältemHerzen klang es aus dem Liede heraus. Aber machtvoll und ungestüm fiel die Stimme ein bei Beginn des nun folgenden Satzes: „Tausend mal in einer Viertelstunde küß ich meines Liebchens Rosenmunde.“ Ein Jubeln und Jauchzen in tiefen und höchsten Tönen durchzitterte die Luft. Töne, die einen eigenen fremdartigen Klang hatten, aus dem ich Freude

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und Schmerz, Verzückung und Wut zugleich herauszuhören glaubte. In leisen, kaum merkbaren Senkungen war die Stimme, als sich das Lied der bekannten Schlußstrophe näherte, matter geworden; nur noch ein hohles, wie von sterbenden Lippen kommendes Röcheln war vernehmbar, bis sich die letzten Noten in gurgelnde Töne erlöschenden Lebens auflösten.
Stille herrschte unter den Zuhören. Ein Chinese, neben dem ich gestanden hatte, flüsterte mir zu: „Master, schon zwei Stund spielen.“ Ich hörte kaum darauf. Hastig drängte ich mich durch die Menge und blickte durch das Fenster in den kleinen Raum. Da saß in einem niederen Sessel im grün gestreiften Pyjama barfuß und auf Strohsandalen eine Gestalt. Es war mein Freund. Auf den Knieen hielt er die Handharmonika, die Finger noch krampfhaft auf die Klaviatur gedrückt. Mit halb geschlossenen Augen blickte er zur Decke, ein feines seliges Lächeln auf den Lippen. – – und vor ihm saß Satan, der Sänger, sein treuer Freund, matt und zerknirscht mit hängenden Ohren und irreblickenden Augen, aus dem alles Leben erloschen schien. Ich erkannte ihn kaum. – – –
Zu Besuchen schien mir die Stunde nicht geeignet. Ich wanderte schleunigst weiter . . . . . .
Retlaw.

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Logogriph

Ein Kleidungsstück nennt dir das Wort;
Man trägt es stets zu zweien.
Nimmst du am Kopf ein Zeichen fort,
Wird es den Spieler freuen.
Es wird ein wicht’ger Körperteil,
Wenn du aufs neu dann in Eil
den Kopf ihm hast gekürzet.
Und wenn man ihm die Füßen nimmt
Wird es ein „Tropfen“, der bestimmt
Dir manches schon gewürzet.
A. Dt.
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