Lagerfeuer

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Lf. Nr. 35 Matsuyama, Sonntag, den 24. Sept. 1916

Deutsche Rechtsprechung im Kriege.

In alle Gebiete des Wirtschaftslebens hat die rauhe Hand des Krieges eingegriffen. Ganz besonders heftige Erschütterungen hat das Mietwesen ertragen müssen. Der Krieg kam zu unerwartet. Vor der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand dachte man im deutschen Volke nicht im entferntesten an einen baldigen Krieg, und die Mietverträge waren wie immer auf lange Dauer geschlossen worden. Wenn trotzdem die Zahl der von unseren höchsten Gerichten auf diesen Gebieten ergangene Entscheidungen gering ist, so mag dies einmal seinen Grund darin haben, daß offenbar hier die bestehende Rechtsordnung im wesentlichen den veränderten Verhältnissen gerecht geworden ist, andererseits darin, daß auf Grund der in der Reichstagssitzung von 4. August 1914 erfolgten rechtlichen Mobilmachung die Abwicklung der bestehenden Mietverhältnisse durch Verordnung des Bundesrats erleichtert worden ist (Verordnungen über die gerichtliche Bewilligung von Zahlungsfristen und über die Folgen der nicht rechtzeitigen Zahlung einer Geldforderung von 7. August, 18. August 1914 und 20. Mai 1915).
Auch für das Mietrecht gilt der Grundsatz, daß der Kriegsausbruch als solcher die Mietverträge unberührt läßt. Erst wenn besondere Umstände hinzutreten, die einem der Vertragsteile die Erfüllung seiner Verpflichtungen aus dem Mietkontrakte unmöglich macht, können die Vorbedingungen zu einer vorzeitigen Lösung des Vertrages gegeben sein.
In weitgehendem Maße trifft es allerdings für alle einberufenen Mieter zu, denen die besondere Vorschrift des Par. 570 B.G.B. zugute kommt, wonach „Militär-personen . . . . im Falle ihrer Versetzung nach einem andern Orte das Mietverhältnis in Ansehung der Räume, welche sie für sich oder ihre Familie an dem bisherigen Wohnort gemietet haben unter Einhaltung der gesetzlichen Frist kündigen können“. Eine „Versetzung“ liegt hier zwar nicht vor. Der Gesetzgeber hat eben hier wie überall nur

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den Friedenszustand regeln wollen. Aber was für die Versetzung im Frieden gilt, muß entsprechend für die Einberufung im Kriege gelten, denn der de Gesetzes-bestimmung zu Grunde liegende Gedanke ist, denjenigen Personen, denen infolge ihrer Stellung in öffentlichen Diensten die freie Bestimmung ihres Aufenthaltsortes nicht zusteht, einen besonderen Rechtsschutz zu gewähren. Dieser Gedanke führt auch weiter zu der von der Rechtssprechung in Friedenszeiten bereits anerkannten Folgerung, daß der Rechtsschutz des Par. 570 B.G.B. zu gewähren ist, ohne Rücksicht darauf, ob die Eigenschaft des Mieters als Militärperson, Beamter und dergl. bei Vertragsabschluß schon bestanden hat, oder ob diese Eigenschaft wie in unserem Falle erst im Laufe des Vertrages erworben worden ist. Der zu den Fahnen einberufene Mieter kann also unter Einhaltung der gesetzlichen Frist das Mietverhältnis kündigen. Diese gesetzliche Frist ist bei Jahresmieten ein Vierteljahr, und zwar hat die Kündigung spätestens am dritten Werktage eines Kalendervierteljahres für den Schluß desselben zu erfolgen; bei Monatsmieten muß spätestens am 15. zum Schluß des Kalendermonats gekündigt werden. Gegenüber der Kündigung des einberufenen, verheirateten Mieters ließe sich nun allerdings einwenden, daß bei der Einberufung, im Gegensatz zur Versetzung, für die Familie des Mieters regelmäßig nicht die Notwendigkeit, die Wohnung aufzugeben, eintritt. Dem ist zunächst entgegenzuhalten, daß, nach dem Wortlaute des Gesetzes, es nur auf die Person des Mieters selbst ankommt, dann aber auch, daß es dem Sinne des Gesetzes sicherlich entspricht, dem einberufenen Mieter die Möglichkeit wenigstens zu geben, den auf die Friedenszeit berechneten Mietvertrag zu lösen, um sich den durch den Krieg eingetretenen wirtschaftlichen Veränderungen besser anpassen zu können. Einen Mißbrauch steht schon die Bestimmung des Gesetzes entgegen, daß die Kündigung nur für den ersten Termin erfolgen kann, an dem sie zulässig ist, daß sie also nur alsbald nach erfolgter Einberufung geschehen kann.

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Abgesehen von dieser besonderen Vorschrift des Par. 570 B.G.B. hat es auf das Mietverhältnis keinen Einfluß, wenn „der Mieter durch einen in seiner Person liegenden Grund an der Ausübung des ihm zustehenden Gebrauchsrechts verhindert wird“ (Par. 552 B.G.B.). Ob dieser Grund vom Mieter verschuldet ist oder nicht, ist gleichgültig, so lange der Vermieter alle seine Vertragspflichten erfüllt. Durch den Krieg und seine Folgen wird der Mieter, abgesehen von dem besprochenen Fall seiner Einberufung, noch in zahlreichen Fällen an der Ausübung des vertragsmäßigen Gebrauchs der gemieteten Sache ganz oder zum Teil gehindert worden sein: Mancher Bankier mußte plötzlich seine auf Wochen hinaus gemietete Sommerwohnung verlassen, um in der kritischen Zeit seinem Geschäfte vorstehen zu können. Manche Pensionsmutter hatte mit Kriegsausbruch ihre große, für Pensionszwecke gemietete Wohnung leer stehen, da alle ihre Pensionäre nach Hause geeilt waren, und mancher Geschäftsinhaber hatte für die kommende Herbstsaison noch einige Läden hinzugemietet, für die er bei der durch den Kriegsausbrauch gelähmten Kauflust des Publikums nun keine Verwendung mehr hatte. Sie alle sind an ihren Vertrag gebunden und müssen dem Vermieter den Mietzins entrichten, ohne Rücksicht darauf, daß sie selbst aus dem Vertrage keinen Nutzen mehr ziehen können. Sie sind in keiner Weise anders gestellt als der Sommerfrischler, der seine auf bestimmte Zeit fest gemietete Hotelwohnung plötzlich aufgibt, weil unerwarteterweise ein Wetterumschlag eingetreten ist. Die Gefahr, daß der Mieter infolge veränderter Konjunktur seine Rechte nicht auszunutzen vermag, kann unmöglich den Vermieter treffen. Das Reichsgericht hat diesem Gedanken in einer Entscheidung vom 5. Mai 1915 Ausdruck gegeben:
Der Mieter eines Zirkusgebäudes erscheint zur fristlosen Kündigung nicht aus dem Grunde berechtigt, weil er den Zirkusbetrieb wegen schlechten Besuchs infolge des Krieges nicht eröffnen oder nicht fortführen kann. (D. Jur. Zeitg. XXI

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Spruchsammlung Seite 17).
Voraussetzung für die genannten Fälle ist natürlich, daß auch der Vermieter seinen Verpflichtungen aus dem Vertrage nachkommt. Der Krieg kann nun aber auf der Vermieterseite hemmend in den Vertrag eingreifen. Am deutlichsten zeigen sich solche Hemmungen naturgemäß in den Gegenden, über die der Kriegsgott selbst mit eherner Gewalt hinweggeschritten ist. Mit der Gewährung des Gebrauches einer von Granaten oder Flugzeugbomben zerstörten Wohnung kommt der Vermieter seinen Vertragspflichten nicht nach und hat infolgedessen auch keinen Anspruch auf Mietszins. Entsprechendes gilt, wenn die Gewährung des Mietgebrauchs dadurch unmöglich wird, daß das Land vom Feinde besetzt ist und der Mieter infolgedessen zu der Wohnung nicht gelangen kann. So kann z.B. der chinesische Hausbesitzer in Tsingtau von seinem deutschen Mieter von dem Augenblicke an, wo dieser ausgewiesen oder in Kriegsgefangenschaft abgeführt wird, keinen Mietzins mehr fordern (es sei denn, daß der Mieter für seine Familie das Mietverhältnis aufrechterhalten will). Ähnlich ist der Fall, der dem Oberlandesgericht Celle vorgelegen hat (Entscheidung vom 6. Mai 1915):
Ein Kurgast in einem Nordseebad, der infolge militärischer Anordnung den Ort verlassen muß, weil ihn alle dort nicht Beheimateten zu räumen haben, wird von der Zahlung des Mietzinses für seine Sommerwohnung frei.
Die gleichen Grundsätze gelten im wesentlichen auch für Pachtverträge. Der rechtliche Unterschied zwischen Pacht und Miete liegt lediglich darin, daß Gegenstand der Miete nur eine körperliche Sache, Gegenstand der Pacht auch ein Recht sein kann, und daß der Verpächter verpflichtet ist, nicht nur den Gebrauch des Pachtgegenstandes, sondern auch den Genuß der Früchte zu gewähren.
Das Recht des einberufenen Mieters unter Einhaltung der gesetzlichen Frist zu kündigen, steht dem einberufenen Pächter allerdings

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nicht zu, denn die wirtschaftliche Stellung des Pächters ist regelmäßig eine ganz andere als die des Mieters. Die Miete ist in der Mehrzahl der Fälle eine Lebens-notwendigkeit, die Pacht ein Gewerbe. Für den in Par. 570 B.G.B. genannten Personenkreis kommen ja überhaupt Pachtverträge kaum in Frage: der Offizier, der Beamte, der Lehrer in öffentlichen Diensten wird selten Gelegenheit haben Pächter zu sein. Schließt er jedoch einen Pachtvertrag – er pachtet z.B. eine Jagd -, so tut er das auf eigene Gefahr, und es liegt keine Veranlassung vor, ihn eine bessere rechtliche Stellung zu geben als dem Verpächter.
Im übrigen sind die Pachtverträge im Kriege rechtlich nicht anders als die Mietverträge zu behandeln. Der Pächter eines Hotelbetriebes wird, entsprechend den obigen Ausführungen über die Rechte des Mieters nicht etwa deshalb die Zahlung des Pachtzinses verweigern oder die Aufhebung des Vertrages verlangen können, weil infolge des Kriegsausbruchs nur ganz wenige Fremde die Sommer-frische aufgesucht haben. Hingegen wird er dann von seiner Verpflichtung zu zahlen frei, wenn es dem Verpächter wie in dem erwähnten Fall in dem Nordseebad infolge des militärischen Räumungsbefehls unmöglich ist, dem Pächter den Genuß der Früchte, nämlich einen nutzbringenden Hotelbetrieb zu unterhalten, zu gewähren. Im gleichen Sinne hat das Reichsgericht in einer Entscheidung vom 9. November 1915 ausgesprochen, daß der Pächter eines Tanzetablissements, dem durch das Tanzverbot die Möglichkeit genommen ist, die vertragsmäßigen Nutzungen zu ziehen, zur Verweigerung oder Minderung des Pachtzinses berechtigt ist. Ebenso führt das Oberlandesgericht Colmar (Urteil vom 21. Februar 1916) aus, daß der Jagdpächter für die Zeit, während welcher durch behördliche Anordnung in der vom Feinde gefährdeten Gegend das Tragen von Waffen und die Ausübung der Jagd verboten war, von der Entrichtung des Pachtzinses befreit ist.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß auf dem Gebiete des Mietwesens das bestehende Recht zwar manches ausgleichen, aber wirtschaftliche

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Mißstände doch nicht verhindern konnte. Der plötzlich ausbleibende Verdienst hinderte den Mieter, seine Mietzins zu zahlen, die ausbleibenden Mieter hinderten den Vermieter, seine Hypothekenzinsen zu begleichen und der geschädigte Hypothekengläubiger drohte mit Zwangsversteigerung. Hier schafften die zu Beginn erwähnten Bundesratsverordnungen Hilfe, die zwar kein allgemeines Moratorium, aber die wirtschaftlich viel gesundere, allmähliche Abwicklung der vor Kriegsbeginn entstandenen Schulden ermöglichen. Sie gaben es dem Richter in die Hand, dem säumigen Schuldner eine Zahlungsfrist bis zu drei Monaten (bei Rückzahlung von Hypotheken bis zu sechs Monaten) zu bewilligen, falls es seine Lager rechtfertigte, und ebenso die Durchführung von den Schuldner allzu hart treffenden Vertragsbestimmung (Verpflichtung zur Räumung wegen Nichtzahlung des Mietszinses, Fälligkeit des Hypothekenkapitals wegen Nichtzahlung von Zinsen usw.) zu hindern. Die Maßnahmen haben sich, wie es scheint, sehr bewährt.
-dt.

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Sakùska.

Wohl ein jedes Volk hat Sitte, Charaktereigenschaften, hat Speisen usw., die ein anderes Volk nicht in dem Maße oder überhaupt nicht besitzt. Für die jeweilige Sitte, Eigenschaft oder was es sonst sein mag, hat die Sprache einen besonderen treffenden Ausdruck geschaffen, der sich oft gar nicht im Wortschatze eines anderen Volkes vorfindet, der mitunter schwer zu übersetzen ist und meist als Fremdwort in den Sprachschatz aufgenommen wird.
So hat der Franzose z.B. keinen passenden Ausdruck für unser Wort „Pflicht“, der dieses Wort unmittelbar in dem Sinne wiedergibt, in dem wir es auffassen, wohl aus dem Grunde, weil das Gefühl der Pflicht in unserem Volke stärker ausgedrückt ist als im französischen. Ebenso läßt

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sich das französische „Chauvinisme“ nicht glatt in das deutsche übersetzten. Der Chauvinismus, wie wir so schön dafür sagen, ist eben wohl eine bei den Franzosen besonders häufige und besonders entwickelte Charaktereigenschaft. Und der englische „Spleen“? Nun, wir haben keinen Ausdruck in unserer Sprache für diesen hervorragenden englischen Charakterzug. Möge der Spleen weitergedeihen und sich entwickeln bei ihnen, bei den Herren Engländern! –
Ein solches Wort wie die soeben aufgeführten ist auch das russische Wort „Sakuska“.
Es ist nicht seinem Sinne gemäß zu übersetzen. Man gibt es oft durch Imbiß wieder. Aber ein Imbiß ohne Getränke ist keine Sakuska. Der Russe bezeichnet unseren Imbiß mit „Buterbròt“. Auch Vorspeise und Zuspeise sind nicht ganz richtig. Gewiß kann die Sakuska eine Vorspeise sein, aber wenn sie vor Mittag bis Mitternacht oder umgekehrt dauert, so wird auch dieser Begriff hinfällig.
Der eine oder der andere von Ihnen hat gewiß schon einmal an einer Sakuska teilgenommen. Und viele von Ihnen werden aus Erfahrung wissen, daß der Russe ganz besonders gut ißt und trinkt. Und zwar beides zusammen: Essen und trinken! Nur allein zu essen ohne dazu zu trinken, das ist wohl nicht nur dem Russen unsympathisch, sondern auch uns. Aber der Russe trinkt auch nicht gern etwas, ohne dazu zu essen. Auch hier bestätigen die Ausnahmen nur die Regeln. Der Russe kann deshalb auch schwer verstehen, wie wir große Mengen Bier trinken können, ohne dazu zu essen.
Aus diesem Grunde sind auch am Ausschanke einer jeden russischen Wirtschaft verschiedene Platten kalter Speisen, Schwarz- und Weißbrot aufgestellt, von denen man nach Belieben nehmen kann, wenn man nur ein Schnäpschen trinkt. –
Deshalb ist auch unsere Meinung, daß der Russe ein Wodkasäufer ist, grund-falsch. Es gibt überall schwarze Schafe, so auch unter den Russen. Aber der

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Russe wird, wie gesagt, nur dann viel trinken, wenn er viel und gut dazu essen kann. Der einfache Mann wird sich deshalb bei besonderen Gelegenheiten wie bei Familienfesten und an hohen Feiertagen dem Genuß einer Sakuska zu viel hin-geben. Und wir Ausländer, die wir in den Straßen Moskaus oder Petersburgs an den Tagen der Osterwoche oder Butterwoche die zahlreichen Betrunkenen sehen, wir Ausländer sind zu leicht geneigt, daraus falsche Schlüsse zu ziehen, und den Russen als Alkoholsklaven hinzustellen. –
Aber wenn wir einem Russen einen Wodka anbieten, so wird er sich sofort nach dem Zubiß umsehen. Diesen Zubiß zusammen mit dem alkoholischen Getränk bezeichnet der Russe als Sakuska. So bilden ein Gläschen Wodka und ein Stück trocken Brot schon eine Sakuska, ebenso ein Gläschen Rebinoffka (Eberesche-Schnaps) und ein Apfel. Oder ein Glas Kognac und ein paar Süßigkeiten.
Der Russe will die Wirkung seiner fast durchweg kräftigen Branntweine durch Zusichnahme des Zubisses abschwächen. Deshalb wird er einen weniger kräftigen Trankwie Likör ohne Zubiß zu sich nehmen.
Ehe ich weitergehe, möchte ich noch vorausschicken, daß die Erwähnung des Wortes „Sakuska“ auf einen im Auslande lebenden Russen denselben Eindruck macht und in ihm dasselbe Heimweh hervorruft, wenn nicht gar in erhöhter Potenz, wie die Erwähnung des Wortes „Aalsupp“ auf einen Hamburger, die Bemerkung „a Maß und Schweinernes“ auf einen Bayern. Gar nicht davon zu reden, wenn ich einem unserer Ostasiaten „Whisky-Soda“ zurufe.
Nun, wir müssen in unserer jetzigen Lage bescheiden sein und auf die soeben genannten schönen Sachen verzichten. Es ist deshalb auch die reine Quälerei, von der Sakuska zu sprechen. Aber seien wir immer dessen eingedenk, daß der fremde Schwindel, der uns heute umgibt, eines schönen Tages ein Ende haben wird. Wir werden alle wieder einmal nach unserem Geschmacke essen und trinken. Jung sind wir alle noch,

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trotz der ehrwürdigen Vollbärte, die gewohnten sind. Und weil wir jung sind, bewahren wir uns auch unsere Spannkraft, lassen wir den Mut nicht sinken; denn ein bessere Dasein erwartet uns alle noch.
Und mancher von uns wird dereinst bei einer fröhlichen Sakuska erzählen aus den Tagen der Jetztzeit. Seien wir dessen gewiß! –
Es werden nun in der H}aupsache zwei Arten von Sakuska unterschieden: Sakuska als Vorspeise und Sakuska als Hauptmahlzeit.
In letzterer Form ähnelt ihr die bei uns in den letzten Jahren aufgekommene kalte Küche, die bei großen Empfängen gereicht wird. –
Wird die Sakuska als Vorspeise gegeben, so besteht sie aus allerlei, die Eßlust anregenden Speisen: aus Fischkonserven, Kaviar, Mayonaisen, Salaten, kalten Geflügel und Braten, aus Schinken, Pilzgerichten, Käse usw. Dazu trinkt man hauptsächlich Wodka, Rebinoffka, Zubroffka (Grasschnaps), Sliwjanka (Pflaumenschnaps) und wie die schönen russischen Schnäpse alle heißen. Auch wohl Kognac, seltener Bier und Wein. Nach der Sakuska reicht man die Suppe. Der Russe liebt es, zu der Suppe „Piragi“ (Pasteten) zu essen. Oder ein Stück Rindfleisch. Entweder genießt er das Rindfleisch noch als Sakuska, indem er es in kleine Stücke schneidet, scharf würzt und noch eine Rumotschka (Gläschen Branntwein) dazu trinkt, oder er schneidet es in die Suppe. Auch kaltes, gesäuertes Kraut wird vielfach unmittelbar vor der Suppe oder zur Suppe gegessen. Der weitere Gang der Tafel ist wie bei uns.
Vielfach aber wird die Sakuska als Hauptmahlzeit genommen. Als solche vertritt sie die Stelle unseres Frühstücks, auch wohl des Mittagessens und Abendbrotes. Sie kann ganz einfach sein, aus einem Stück Brot, einer Scheibe Schinken oder einer Büchse Sardinen, einer Gurke oder sonst etwas bestehen. Der Branntwein fehlt nie dabei. Sie wird bei einem Armen oder minder Bemittelten einfacher sein als die Vorspeise-Sakuska bei einem Wohlhabenden. Sie kann aber auch zu einem Galaessen werden. –

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Sehr gerne nehmen die Russen in einer Speisenwirtschaft die Sakusa zu sich. Man bestellt dem Kellner einfach „Sakuska“ für zwei, drei, fünf, zehn, fünfund-zwanzig Rubel, je nach den Ansprüchen und den Verhältnissen des einzelnen, je nachdem, ob man die Sakuska als Vorspeise oder Hauptmahlzeit wünscht. Es werden dann verschiedene Platten meist kalter Speisen aufgetragen, sowie eine Karaffe Wodka, die man nach Belieben nachfüllen läßt. (Ich habe übrigens gefunden, daß das Nachfüllen lassen gar nicht so schwer ist.) Mitunter, haupt-sächlich aber dann, wenn Damen an der Sakuska teilnehmen, bestellt man noch eine milderen Trank, meist Robinoffka. Verkehrt man öfter in ein und demselben Lokal, so wird man bald ausgezeichnet bedient. Der Kellner merkt sehr bald, was man besonders gern mag, und wenn man es an dem nötigen Trinkgeld nicht fehlen läßt, wird man bald bedient wie ein Fürst. –
Hat die Sakuska nicht ganz befriedigt, so betrachtet man sie als Vorspeise und ißt nach der Karte weiter. Die russische Küche ist gut, auch in den Wirtschaften.
Bei einer großen Sakuska, die als Hauptmahlzeit gegeben wird, treten zu den bei der Vorspeise-Sakuska aufgeführten Speisen noch bedeutend mehr hinzu. Auch erscheinen warme Gerichte auf der Tafel. Die einzelnen Speisen werden nicht herumgereicht, sondern sie stehen in Schüsseln, Terrinen, auf Platten und in Körben auf den großen, festlich geschmückten Tafeln. Das Rückgrat des Ganzen bilden die bereits erwähnten Getränke, ferner oft Bier und Weine. (Die Russen haben ausgezeichnete Weine aus der Krim und aus dem Kaukasus.) Mitunter auch Champagnerweine. Meist nimmt man diese Sakuska stehend ein.
Die Damen trinken auch bisweilen recht brav mit. Sie vermischen indes den scharfen Wodka meist mit mildernden, dicken, sirupähnlichen Fruchtbranntweinen. Man sollte kaum glauben, in welchen Mengen und in welch verschiedener Gestalt man den Alkohol bei einer großen

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Sakuska zu sich nehmen kann.
Bei einer solchen kommt man auch immer auf seine Kosten. Unter der großen Auswahl der Speisen sind es immer mehrere, die einem besonders zusagen; unter den vielen Getränken findet man immer „seine Sorte“ oder Sorten. Und man wird satt dabei! Das läßt sich von einem, oft noch so guten „Diener“ nicht immer behaupten. Da wird manches gereicht, was einem vielleicht nicht zusagt. Und sich an einem Gerichte zu sättigen, ist zeitraubend, bereitet wenig Genuß und sieht vielleicht auch unschön aus. –
Aber die Sakuska befriedigt alle und jeden. Und das beste an ihr ist die Freiheit der Auswahl, das Fehlen der Reihenfolge der Speisen. Wir können z.B. zehn ver-schiedene Gericht kosten und zehn verschiedenen Getränke probieren und uns dann mit unendlichem Behagen das aussuchen und auf das zurückkommen, was Herz, Magen und Nieren erfreut. Jetzt nehmen wir vielleicht eine Fischkonserven oder etwas Kaviar und einen Wodka (eiskalt muß er sein!), dann trinken wir ein Glas Wein und versenken uns mit Andacht in den Genuß eines Stückes Gansbraten, das wir uns von einer ganzen, knusprig gebratenen Gans selbst abschneiden. Darauf rauchen wir erst einmal eine Papyros. (Es wird viel während der Sakuski geraucht.) Schon macht uns ein Nachbar auf irgend eine Spezialität der Hausfrau aufmerksam, vielleicht auf ein Pilzgericht oder eine Wurst. Wir entscheiden uns für die Wurst, schneiden sie in kleine Stücke und halten sie dann an dünnen Eisenstäbchen über das Feuer, bis das Fett herauströpfelt. Dazu lockeres Weißbrot, Butter und einen herzhaften Zubroffka. Hierauf nähren wir uns liebevoll einer kleinen schüchternen Pastete, die aber einen vorzüglichen Kern besitzt. Ein Glas Krimwein dazu mundet famos. Da sehen wir, wie ein anderer Gast einen echten deutschen Happen zu sich nimmt: ein Schwarzbrot mit Schinken und ein Glas helles Bier. Nun wählen wir weiter und essen und trinken so lange wir Lust haben.

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Solch eine Sakuska dauert oft recht lange, dank der Liebenswürdigkeit, der Gastfreundschaft und der Ungezwungenheit, die der Russe nun einmal besitzt, Eigenschaften, die man ihm, mag man über ihn sonst denken wie man will, nicht abstreiten kann. Da der Russe für seinen Magen in erster Linie sorgt, so begreift erauch, daß man tüchtig zulangt. Ja, er verlangt es. Die Hausfrau wird den Gast gern bei sich sehen, der einen guten Appetit entwickelt, und der sich gewissermaßen als Glied der Familie fühlt, der sich ungezwungen in ihrem Hause bewegt.
Wie bereits erwähnt, wird viel während der Sakuska geraucht. Man kann aber auch die Tafel verlassen, um mit ein paar anderen Gästen zusammen ein Spielchen zu machen, oder um einen Kaffee zu trinken. Man kann in das Nebenzimmer gehen und ein Tänzchen riskieren, ja man kann sogar die Sakuska verlassen, um einen Besuch abzustatten. Die Sakuska geht ihren Gang ruhig weiter, und man sollte kaum glauben, wie dabei die Zeit vergeht!
Rinmal, ich mußte am nächsten Morgen mit dem Schlitten verreisen, ging ich gegen Mittag zu einer solchen Sakuska. Gegen 3 Uhr des Nachts kehrte ich von ihr zurück, verlief mich in dem ausgedehnten Blagowestschensk, das ganz quadratisch angelegt ist, und kam kurz vor der Abfahrt des Schlittens zu Hause an. Meine Kollegen hatten aus meinem Koffer die Wäsche herausgenommen und schöne Holzscheite dafür hineingepackt. 14 Tage lief ich im Schafpelz und in Filzstiefeln ohne Kragen und Schlips in einem Neste herum, wo man übrigens ganz gut mit dieser Aufmachung auskam. Das bringt eine ausgedehnten Sakuska bisweilen mit sich.
Aber die Sakusa tut es einem an. Die Liebe geht bekanntlich durch den Magen und Fräulein Sakuska habe ich denn auch zum Fressen gern.
Armer Magen! Wann wird dich wieder einmal einer regelrechte Sakuska erfreuen.
K. Bähr.

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Die Insel der Einsamen.

Ich will Euch von meiner Inselzeit erzählen.
Mannhafte Jünglinge und jugendhafte Männer waren sie, die dort lebten in stiller Abgeschlossenheit auf der grünen Insel. Und über sie herrschte der äußere Einfluß, der seine Wächter aufstellte Tag und Nacht, zur treuen Bewachung. Sie hielten fern von ihnen die Regungen der Welt, die Vergnügungen und Versuchungen des Lebens. Und alle dienten sie einem Begriff, der sie die Verbannung tragen half, lebten, aßen Wurzeln und tranken den Aufguß getrockneter, wohlriechender Kräuter, vergaßen die Freude und verbissen den Schmerz. –
Um sich in weiter Ferne sahen sie das Leben fließen und verfolgten seinen Lauf in den Programmen, die man Zeitungen heißt, bis auf diese zu Streifen und Streifchen wurden. Sie lernten den Tagen Inhalt geben, auf daß Untätigkeit nicht zur Untat würde, lasen, studierten und wunderten sich, bis sie gelernt hatten, sich nicht mehr zu wundern. Aber über ihre Vorhaben wachte der äußere Einfluß, nur der Gedanken Purzelbaume konnte er nicht lenken. –
Da lernten sie auch das Scherzen wieder, da bekam jedwedes Ding in ihrer Einsamkeit Bedeutung und Wertung. Vom Kulturzustand kehrten sie zurück zum Kult des Urzustandes. Beim Samenkorn begannen sie. Wie freute sich der eine, wenn ihn eines Morgens die erste Windenblüte anlachte, zu der er die Saat im Frühjahr in den Schoß der Erdenmutter versenkt hatte, der andere, wenn liebliche Gurken am grünenden Stengel schaukelten, oder ihm die Blüten des Rhizinus befreiende Hoffnungen erweckten, und köstliche rote Liebesäpfel ihm den Gaumen und die Erinnerung kitzelten. –
Ein anderer ging hinaus, nur mit einem Feigenblatte aus Baumwollgespinst bekleidet und ließ seine kräftigen Glieder von den sengenden Strahlen der Sonne bescheinen. Warf seine Arme gen Himmel

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und wieder zur Erde, bis ihm die Perlen des Schweißes die Wohltat der rieselnden Dusche vorgaukelten. Andere sah man Bällen nachlaufen, die sie mit Fäusten und gespannten Schlägern trafen, und den Schlägen gaben sie Zahlen. Zwischen dem prangenden Grün der Bäume und Sträucher lief ein anderer einher mit einem Netz in der Hand und jagte die Sommervögel, die er mit Nadelstichen in gläsernen Kästen zur Schau stellet. Trieb Zuchtwahl und freute sich ob der göttlichen Metamorphose.
Auch Handfertige waren unter ihnen, die nahmen schöne rote Ziegel und schufen einen Bau, dessen Feuerschoße kostbares Brot und liebliche Naschwaren entstiegen. Dann waren Künstler da, die mit Pinsel und Stift der Natur ewige Formen und unvergleichliches Farbenspiel ablauschten; oder sie formten Gebilde aus Holz, die sie mit Drähten und Därmen bespannten und entlockten ihnen herrliche Weisen. Auch zogen sie seltsame Kleider an und ergötzen in Rede und Widerrede die Einsamen, die ihnen lauschten. Über Weltall und Menschheit grübelten andere, suchten die Wahrheit und formten sie auf Bögen aus Holzschliff zu Worten und Sätzen zum Wohl der Gemeinheit. –
Es gab auch Dichter unter ihnen, die schauten hinaus über die Grenzen, welt-vergessen, träumten von Freiheit, Sehnsucht und Liebe. Aber der Dichter Wege sind dunkel und kein anderer hat Einblick in die Regungen ihrer Seele. Und die Freiheitssucher schlichen sich hinaus, zur Nacht, aus unendliche Meer, bis der äußere Einfluß sie mit grausamer Hand zurückbrachte, an einen dunklen Ort, den Ort der Einsamen unter den Einsamen.
Auch gab es Leute, in die war der Teufel gefahren, denen klebten die Karten vom frühen Mogen bis zum späten Abend an den Händen, bis ihr Einsatz sie für die Nacht bis zum nächsten Morgen erlöste. Noch ein anderer Teufel quälte die Einsamen, die Vergessen trinken wollten, und die gläsernen Augen starrten am andern Morgen die gläsernen Kelche an. Den Teufel aber verdammte gar oft der äußere

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Einfluß zur Erholung. –
Erinnerungen trank man aus den Maschinen, die Worte und Weisen wiedergeben, und Bedauernswerte entstanden, deren Hirn zu einem Plattenkasten wurden, – fast konnte man den Armen Nummern geben für die Rede ihres Mundes.
So lebten die Einsamen auf meiner grünen Insel, die Tage, die Monde, die Jahre und warteten, warten noch auf die Erlösung. Bis übers Jahr wieder die Reisfrucht fällt !? –
Fonstaine.

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Jahrestage des Krieges.

September 1914
3. 9.Die Russen besetzen Lemberg.
4. 9. die französischen Regierung flieht nach Bordeaux.
7. 9. Eroberung von Maubeuge: 40 000 Gefangene, 400 Geschütze
9/10. 9. Beginn der Rückwärtsbewegung der deutschen Armeen von der Marne zur Aisne.
10. 9. Hindenburg schlägt die Armee des Generals Rennenkampf bei Angerburg vernichtend. Ostpreußen befreit.
22. 9. Kptlt. Weddigen vernichtet mit U. 9 die englischen Panzerkreuzer „Abukir“, „Cressy“, „Hogue“.
25. 9. Erstürmung von CampdesRomains, bei St.Mihiel.
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September 1915.

1. 9. Luck erobert.
3. 9. Grodno erobert. Erstürmung des Brückenkopfes von Friedrichstadt an der Düna.
9. 9. Dubno erobert.
12. 9. Bahnlinie Wilna-Dünaburg von der Heeresgruppe Hindenburg erreicht.

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16. 9. Heeresgruppe Mackensen nimmt Pinsk.
19. 9. Wilna erobert durch Armee Eichhorn..
22. 9. Bulgarien macht mobil. Unterzeichnung des türkisch-bulgarischen Vertrages..
24. 9. Ergebnis der dritten Kriegsanleihe: 12 Milliarden M..
25. 9. Beginn einer englisch-französischen Offensive in der Champagne und bei Lille..
30. 9. September-Beute der deutschen Truppen im Osten:.
421 Offiziere, 95 464 Mann.

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