Lagerfeuer

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LF. No. 32 Matsuyama, Sonntag, 3. Septempter 1916.

Matsuyama.

Im folgenden gelangt unter obigem Titel die kurze Zusammenstellung einiger Beobachtungen und Studien in fünf Teilen in kurzen Zwischenräumen zur Veröffentlichung. Um die berührten Gebiete richtig würdigen zu können, war es notwendig, dieselben im Rahmen unserer weiteren Umgebung bezw. in Verbindung mit Japan überhaupt zu behandeln. Hervorheben möchte ich noch, daß die Arbeit nur dadurch ermöglicht wurde, daß zahlreiche japanische Quellen durch Herrn Hauptmann Stecher übersetzt wurden, und daß mehrere Freunde unseres Leserkreises, wie insbesondere Herr Leutnant d.Rs. Müller mir ihre Hilfe zuteil werden ließen, wofür ich ihnen an dieser Stelle meinen besten Dank ausspreche. Der Verfasser des zweiten Teiles ist Seesoldat Klautke.
Buttersack.
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Hauptsächlich benutzte Quellen.

1. Palzow Das Kaiserreich Japan
2. Chamberlain Allerlei Japanisches
3. Haushofer Dai Nihon
4. Bürgermeisteramt Matsuyama Chronik
5. Hackmann Buddhismus
6. Pischel Leben und Lehre des Buddha
7. Rathgen Staat und Kultur der Japaner
8.   〃Die Japaner u. ihre wirtsch. Entwicklg.
9. Schiller Schinto
10. Saito Geschichte Japans
11. Journal of a Russ. Pris.wifeAs the Hague Ordains
12. Rein Japan, II. Band
13. Takenobe The Japan Years Book 1915
14. Murray AHandbookfortravellersi.Jap.
15. Munzinger JapanunddieJapaner.
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Einleitung.

„Matsuyama, stille, alte Hauptstadt der Provinz Iyo der Insel Schikoku, sehr sauber, 37 840 Einwohner. Mitten in der Stadt erhebt sich eine alte Daimyo-Burg, 1603 erbaut, herrliche Aussicht usw.“ - so liest der Fremde in Meyers Weltreise die Beschreibung des Platzes, an dem wir nun schon bald seit vollen zwei Jahren zu leben gezwungen sind. In wenigen Stunden wird er die Sehenswürdigkeiten dieses Orts kennen gelernt haben, vielleicht noch einen kleinen Abstecher nach Dogo machen, dann aber nicht lange zögern, schöneren und interessanteren Gegenden seine Besuch abzustatten. Bei gründlicher Vorbereitung und genügend Zeit ist es dem Weltreisenden ein Leichtes, sich eine Anschauung von Land und Leuten dieses Inselreiches zu bilden.
Was wir von dem „Lande der aufgehenden Sonne“, - wie die

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aus dem Chinesischen stammende Bezeichnung Japan (jap. Nihon oder Nippon) in freier Übersetzung lautet - kennen gelernt haben, ist verhältnismäßig recht gering.
Auf unserem Transporte sahen wir in der Ferne Korea (jap. Chosen) das Land der Morgenröte“, welches die Japaner im Jahre 1910 ihrem Kolonialbesitze hinzugefügt haben. Dann passierten wir Tsushima, jene Insel in der Koreastraße, bei welcher der japanische Admiral Togo am 27. Mai 1905 die russische Flotte unter Rojestwenskij vernichtete und damit Japan mit einem Schlage zur vorherrschenden Macht Ostasiens erhob. Nach etwa 2½ tägiger Fahrt sichteten wir das erste Land „Altjapans“. Zur Linken Hondo oder Honshiu (das „Hauptland“), zur Rechten Kiushiu (d.h. „Neunländer“). An zahlreichen, zum Teil recht malerisch gelegenen Inselgruppen vorbei, bog dann unser

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Schiff in die Straße von Shimonoseki ein, an deren nördlichen Ufer die Stadt gleichen Namens liegt. Ein kleiner Tempel zeigt noch heute die Stätte, wo am 17. April 1895 der Friede zwischen China und Japan unterzeichnet wurde. Unmittelbar gegenüber dieser Stadt liegt das stark in Rauch gehüllte Moji, einer der Hauptkohlenausfuhrhäfen Japans. Zahlreiche Schiffe aller Art, ein reges Leben und Treiben an beiden Gestaden und auf dem Wasser lassen auf einen umfangreichen Handel schließen, der durch mehrere Bahnanschlüsse nach Nord und Süd begünstigt wird. Von der Reede von Moji aus beschoß 1864 die Flotte der verbünd. Engländer, Amerikaner, Franzosen und Niederländer verschiedene Küstenplätze zur Strafe für die jeder Zivilisation hohnsprechende Zerstörung eines amerikanischen Handelsschiffes. Unter den Kanonen zahlreicher Strandbatterien entlang, welche jederzeit die Fahrstraße für feindliche Schiffe sperren können, gelangten wir dann in die Binnensee, und am Nachmittage des 4. Reisetages erreichten wir über Takahama unseren Bestimmungsort.
Seitdem haben sich viele von uns eingehend mit „DaiNihon“ beschäftigt, viele haben sogar seine Sprache studiert, manche aber haben sich recht ablehnend verhalten gegen alles, was irgendwie mit dem Lande zusammenhängt, dem wir all die Leiden und Trübsale der Gefangenschaft verdanken.
Trotz alledem dürfte es für jeden von uns doch ganz zweckmäßig sein, sich einmal ein Bild von der geographischen Lage, der Geschichte und der Kultur desjenigen Ortes zu machen, in dem wir so lange zu leben gezwungen waren. Im Folgenden möchte ich versuchen, alles das zu einem Aufsatz zusammenzufassen, was mir angesichts des geringen Gesichtskreises und der geringen Fühlung mit der Bevölkerung möglich war, an allgemein Interessierendem in Erfahrung zu bringen. Das Material

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erscheint in vieler Hinsicht um so wertvoller, als es viele Schlüsse auf das übrige Japan zuläßt und zum Studium des einen oder anderen Gebietes anregt.
Wenn wir also auch nicht mit den Augen des Weltreisenden Land und Leute kennen lernen können, so ist doch der aufmerksame Beobachter sehr wohl in der Lage, sich ein Bild von diesem Lande zu machen und so seinen Gesichtskreis im Rahmen seiner früheren Erlebnisse und Erfahrungen zu erweitern. Mögen die folgenden Ausführungen, die naturgemäß nur ganz allgemein gehalten sind und keinerlei Anspruch auf eine erschöpfende oder gar wissenschaftliche Darstellung machen, dazu beitragen, diesen Ziele näher zu kommen.

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I. Teil
(Geographie - Klima -Stadt und Umgegend)
1. Geographie.

Werfen wir zunächst einen Blick auf die geographische Lage des ganzen Landes, in dessen südlicher Hälfte Matsuyama(d.h. Kiefernberg) gelegen ist. Das sich aus etwa 600 größeren Inseln zusammensetzende Gebiet erstreckt sich vom 51. bis 22. Grade nördlicher Breite. Wollten wir die entsprechende Ausdehnung auf die westliche Halbkugel übertragen, so wäre Japans Nordgrenze etwa bei Erfurt, seine Südgrenze ungefähr bei Wadi-Halfa am oberen Nil anzunehmen.
Die Japaner selbst rechnen allerdings das im Norden gelegene Sachalin (Karafuto) und das im Süden bis über den Wendekreis hinaus reichende Formosa (Taiwan) nicht mehr zum „eigentlichen Japan“, welches ohne seine Nebenländer rund 340 000 qkm umfaßt und damit das englische Mutterland mit 315 000 qkm recht erheblich an Größe

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übertrifft. Rechnen wir hingegen die Nebengebiete, zu denen in erster Linie Chosen mit 218 000 qkm gehört, hinzu, so erhalten wir die Größe des gesamten japanischen Areals mit 670 000 qkm (Deutschland 540 000 qkm).
(Skizze2) Das uns in diesem ganzen Inselgebiet am meisten interessierende Eiland ist Shikoku (die „Vierlande“), unweit dessen Nordwestküste unsere Stadt gelegen ist. Mit Hondo und Kiushiu zusammen bildet Schikoku das „alte Japan“, zu dem natürlich noch eine große Zahl kleinerer Inseln gehört. Wenn auch Shikoku mit seinen ihn angegliederten 74 kleineren, aber bewohnten Inseln eine Flächen-ausdehnung von rund 18 000 qkm besitzt, womit es der Größe des Königreichs Württemberg (19500qkm) nahe kommt, so bildet es doch nur 2,72 % des gesamten japanischen Reiches.
Von den 43 Ken oder Präfekturen, welche Japan (ausschließlich Hokkaido, Sachalin, Formosa usw.) für seine innere Verwaltung eingeteilt ist, und die wir bezüglich ihrer Größe unseren heimischen Regierungsbezirken gleichsetzen können, entfallen 4 auf unser Inselgebiet: Ehime (d.h. „lieblich Prinzessin“), Kochi, Tokushima und Kagawa.
Im Gegensatz zum übrigen Japan, wo wir streng zwischen diesen „Ken“ und den rein historischen „Provinzen“ unterscheiden müssen, decken sich die Grenzen dieser beiden Einteilungen auf Shikoku vollkommen, so daß für die oben genannten Präfekturen ebenso gut d. Provinznamen Iyo, Tosa, Awa und Sanuki setzen können, denen aber keine praktische Bedeutung mehr zukommt. Jeder dieser Ken zerfällt wieder in mehrere Gun oder Kreise, von denen Ehime 12 aufzuweisen hat (siehe Skizze 4).
Matsuyama ist die Hauptstadt des Ehime-Ken und somit gleichzeitig der Provinz Iyo, die mit 5200 qkm etwa dem Jagstkreis oder der Pfalz an Größe gleichkommt. Durch seine Lage

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hart südlich des 34. Breitengrades befindet sich unsere Stadt südlicher als die südlichsten Spitze Europas und als das auf dem 36. Grade gelegene Tsingtau, - etwa auf derselben Höhe wie Fez oder Beyrut.
Skizze 1 zeigt, daß sich unsere Gefangenenlager zumeist in dem südlicheren Japan befinden. Wahrscheinlich ist diese Maßnahme erfolgt mit Rücksicht auf die recht kalten Wintermonate und die diesen wenig Rechnung tragende, uns ungewohnte Art der Unterbringung.

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2.Klima.

Der geographischen Lage Japans entspricht sein Klima, das auf Grund der außergewöhnlich langgezogenen Form des Landes alle Abstufungen vom tropischen Süd-Formosa bis zum gemäßigten nördlichen Gebiete aufzuweisen hat. Im allgemeinen ist Japan nicht so warm wie die etwa in gleicher Breite liegenden Mittelmeerländer. Die Sommerwärme unserer Gegend könnte etwa mit der von Florenz verglichen werden. Für die Wintertemperatur müßte man jedoch einen Platz an der Südküste Englands zum Vergleich wählen.
Die Ursache dieser großen Unterschiede ist in den Monsunen zu suchen, die dem japanischen Klima im Verein mit dem mildernden Meere ihr Gepräge geben. Während der heißen Sommermonate erhitzt sich die Luft über dem asiatischen Kontinent. Die Folge davon ist, daß die sich ausdehnenden territorialen Luftmassen in ihren oberen Regionen nach kühleren Gebieten abströmen, während gleichzeitig die kühleren Luftschichten über dem Meere nach dem Kontinent hindrängen.
Umgekehrt erfahren die Luftmassen über dem asiatischen Erdteil im Winter eine starke Abkühlung, während die über dem Meere

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lagernden Luftschichten noch lange Zeit von den Wassermassen erwärmt werden. Daher tritt während der Wintermonate eine entgegengesetzte Luftströmung, nämlich von Land nach den{=See} in Erscheinung.
Naturgemäß bringen die von See kommenden Winde große Feuchtigkeit mit sich, während die von Land kommenden Strömungen sich im allgemeinen durch Trockenheit auszeichnen. Daher haben wir in Japan während des Sommers mit Niederschlägen, während des Winters hingegen meist mit Trockenheit zu rechnen.
Die beiden feuchtesten Jahreszeiten sind:
Mitte Juni bis Anfang Juli
und von Anfang September bis Anfang Oktober (siehe Tabelle).
Während der zweiten Periode treten häufig große Wirbelstürme, die sogen. Taifune, auf, welche sich, aus der Südsee kommend, über die Philippinen und Formosa bis nach Japan erstrecken.
Matsuyama hat unter diesen Stürmen schon häufig gelitten. Fast alljährlich erreicht der Taifun unsere Gegend und mehrfach hat er verheerenden Schaden angerichtet. Die Chronik unsrer Stadt gibt mehrere Beispiele für große Über-schwemmungen des „Ishitegawa“ und damit verbundenen Zerstörungen von Wohn-häusern und Anpflanzungen. Andererseits hat es sich auch ereignet, daß fast jeglicher Regenfall während des ganzen Jahres ausblieb. Die Folge war dann neben der vollständigen Vernichtung der für den Japaner unentbehrlichen Reisernte eine weitverbreitete Hungersnot.
Charakteristisch für die gesamten Niederschläge ist die Tatsache, daß die Landteile rings um die Binnensee, sowie das Innere der Hauptinsel weit weniger den Regenfällen ausgesetzt sind als die übrigen Küstengebiete. Das hat seine natürliche Ursache in den Steigungsregen, welche an den Randgebirgen der Inseln fallen.
Shikoku gilt von den Inseln Alt-Japans als das heißeste Gebiet. Es zeigt besonders an seinen Ost- und Südküsten in mancher Hinsicht subtropische Charakterzüge, welche durch den warmen Kuroshio(Schwarzer Strom),

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den japanischen Golfstrom, verursacht werden. So haben wir z.B. in Tosa jährlich zwei Reisernten. Der Kampferbaum, verschiedene Zimmetbaumarten, der Sternanis und viele andere Pflanzen wachsen wild in den immergrünen Wäldern, während sie auf Hondo nur in besonderen Kulturen fortkommen.
Das Klima Matsuyamas entspricht im allgemeinen den für Japan geltenden Angaben. Der feuchte und warme Sommer ist für den Europäer nicht gesund. Besonders Nervöse leiden sehr unter dieser Jahreszeit. Die anliegenden Tabellen des hiesigen Observatorium zeigen weitere Einzelheiten. Gleichzeitig sei aber darauf hingewiesen, daß die Tabellen nur in bedingtem Maße Geltung haben, da sie für den Durchschnitt der letzten zwanzig Jahre gemacht sind. Es mögen also z.B. gerade für die Zeit unseres Hierseins viele Tage oder Zeitperioden weit höhere oder tiefere Temperaturen und weit erheblichere oder geringere Niederschlagsmengen aufzuweisen haben. Die mittlere Jahrestemperatur Matsuyamas beträgt 14,79˚Celsius.
In Deutschland, das über eine durchschnittliche Jahreswärme von 8-9˚ Celsius verfügt, zeigen die Orte der Rheinprovinz bei entsprechender Berechnung 9˚, die von Ostpreußen 6,5˚ Celsius. Wir müssen also die weit südlicher gelegenen Orte an Frankreichs Mittelmeerküste mit 14-15˚ Celsius, oder die Städte Genua mit 15,9 bezw. Florenz mit 14,6 Matsuyama zur Seite stellen.
Der wärmste Monat für unseren Gegend ist der August mit einer Durchschnitts-wärme von 26,2˚ Celsiusund einer Durchschnitts-Tageshöchsttemperatur von 26,9˚ Celsius. Im Gegensatz hierzu ist in Deutschland der Juli der wärmste Monat mit einer Durchschnittswärme von 18-20˚Celsius. Der Februar ist für Shikoku der kälteste Monat. Matsuyams Durchschnittswärme zu dieser Zeit beträgt 4,58˚ Celsius, während das Thermometer am 15. Februar mit +3,2˚ Celsiusseinen tiefsten Tagesdurchschnitt erreicht. Damit übertrifft die hiesige Gegend hinsichtlich ihrer Wintertemperatur ebenfalls unsere

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Skizze 1 Skizze 2
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Skizze3 Skizze4
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Temperaturen
A. Mittlere Tagestemparatur der kältesten und wärmsten Monate
B. Mittlere tägliche Wärmeschwankung

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Wetter in Japan
D. Frosttage in den einzelnen Monaten
E. Tage der Schneefälle in den einzelnen Monaten
F. Regenmengen und Regentag im Durchschnitt von ganz Japan

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Heimatlande, die im Monat Januar in Westdeutschland eine Durchschnittswärme von +2 und östlich der Weichsel eine solche von -2 bis -4½˚ Celsiusbesitzen.
Die Zahl der Frosttage und Schneefälle in Matsuyama ist während der Februar gleichfalls am höchsten.
Hinsichtlich seiner Niederschläge ist Japan eine der regenreichsten Gegenden der Erde.
Die jährliche Regenmenge unserer Gegend beträgt 1326,2 mm. Dies ist im Vergleich zu vielen anderen Gebieten Japans verhältnismäßig gering, aber außergewöhnlich hoch, wenn wir unsere heimatlichen Landesteile in Vergleich stellen. So hat z.B. Berlin nur 540 mm, Nordostdeutschland etwas über 500 mm, Nordwestdeutschland über 600 mm und die Nordseeküste bis zu 800 mm. Nur der Brocken mit 1 700 mm und der Hohe Schwarzwald mit 2 000 mm übersteigen die Regenmengen der hiesigen Gegend.

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3. Stadt und Umgegend

(Skizze 4)
Das Stadtbild Matsuyams ist typisch japanisch und weist äußerlich keinen besonderen Eigenarten auf. Wir finden hier das selbe Leben und Treiben wie in einer mittelgroßen europäischen Stadt. Beim Durchwandern der Straßen bemerken wir mehreren Schulen, Krankenhäuser, Theater, Kinos, Teehäuser und einen recht ansehnlichen Markt nebst Markthalle, kurz zahlreiche Einrichtungen, die äußerlich unser Interesse nicht weiter erregen. Mit seinen 45000 Einwohnern übertrifft Matsuyama allerdings jede gleicher Größe unserer Heimat in Bezug auf seine Ausdehnung. Das hat seine Ursachen in dem meist einstöckigen Häuserbau, welcher durch die in Japan herrschenden Naturgewalten, wie Erdbeben, Überschwemmungen und Taifun, bedingt wird.

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Die Erdbeben erfordern, daß das Haus federn und schwanken kann und ohne schweres Mauerwerk erbaut wird. Die häufigen Überschwemmungen in Verbindung mit der während eines großen Teils des Jahres vorherrschenden starken Bodenfeuchtigkeit haben die Zweckmäßigkeit gelehrt, jedes Gebäude auf Pfähle zu stellen. Erdbeben und Taifun zusammen dulden nur eine mäßige Höhe der Wohnstätten. Tradition und die über ganz Japan verbreitete Armut der Bevölkerung, die obendrein noch durch eine unverhältnismäßig hohe Steuer belastet wird, geben der Mehrzahl der Häuser auch in unserer Stadt ein einfaches Gepräge. Diese Faktoren in ihrer Gesamtheit haben die Japaner bisher an ihren billigen und zweckmäßigen Holzhäusern festhalten lassen. Die vermeintlichen Steinbauten entpuppen sich meist bei näherer Betrachtung als mit Mörtel überzogene Holzgerüste. Naturgemäß birgt diese Bauweise eine große Feuersgefahr in sich. Wir treffen daher in vielen Straßen sogen. Feuerleitern mit Feuerglocke, die bei Bränden sofort angeschlagen werden, um alle Gefährdeten schnell zu benachrichtigen.
Übrigens wird dem aufmerksamen Beobachter nicht entgangen sein, daß fast jeder Haus der Stadt an seinem Dachgesimse eine Reihe von Rund- und Flach-ziegeln hat, auf denen symbolische Wasserzeichen angebracht sind (drei Wellen- oder Wasserlinien). Sie sollen jede Feuersgefahr abwenden.

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Die Straßen der Stadt verlaufen meist kerzengerade von Norden nach Süden oder von Westen nach Osten und umrahmen die einzige Sehenswürdigkeit dieses Ortes: „Kachi-yama“(Siegesberg) mit seinem in der Tat sehr schönen Daimyo-Schloß.

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Durch den Matsuyama-Koen, den Park gelangt man zwischen hohen Kiefern, die der Stadt ihren Namen gegeben haben, zur Burg. Auf eine Höhe von 132 m erhebt sich ein massives Granitgebäude, das von einem dreistöckigen Oberbau aus Holz und Mörtel gekrönt wird. Drei mächtige Tore führen in das innere Bereich der Burg, deren höchste Spitze 152 m über das Weichbild der Stadt hinausragt. Hat diese äußerlich selbst nichts Besonderes bieten können, was geeignet wäre, unsere Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen, so werden wir hier entschädigt durch einen wirklich prächtigen Ausblick nach allen Himmelsrichtungen. Gleichzeitig sind wir am besten in der Lage, uns die weitere Umgebung etwas genauer anzusehen (Skizze 2).
So erblicken wir in Norden die uns bereits bekannte Binnensee mit ihren unzähligen kleinen Inselchen. In der Ferne taucht das japanische Hauptland dunkel auf. Fast genau uns gegenüber liegt - allerdings unsichtbar - der japanische Flottenstützpunkt Kure mit seiner Werft und Geschützfabrik, deren Kanonendonner trotz der etwa 50 km großen Entfernung oft zu uns deutlich herüberschallt. Zu demselben Befestigungsgebiet gehören Hiroshima, wo zu Beginn des Russisch-Japanischen Krieges das japanische Hauptquartier errichtet wurde, und das malerische Miyashima, jene Tempelinsel, die eine der Hauptsehenswürdigkeiten Japans bildet.
Vom Ostfenster aus erblicken wir im Hintergrunde langgezogene Hügelketten, zwischen denen sich der Ishizuchi-yama, der Steinhammerberg, mit 1981 m stattlich erhebt. Er ist der zweithöchste Berg unserer Insel und wird nur von sechs anderen Bergen im übrigen Japan überragt. Weiter im Vordergrunde, eingerahmt von niederen bewaldeten Hügeln, liegt das kleine Dogo, das älteste japanische Mineralbad. Nächst dem unweit Marugame gelegenen berühmten Kompira, von dem später noch die Rede sein wird, gilt Dogo auf Grund seiner heißen Quellen als der bevorzugteste Platz Schikokus. Hier sollen bereits in mythenhafter Zeit zwei japanische Götter gebadet haben, und dieses Beispiel soll von fünf Kaisern,

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welche im Anschluß an diese legendenhafte Zeit regiert haben, befolgt worden sein. Die ausgezeichneten Gasthöfe, die schönen Bäder aller Art und die hübsche Anlagen gewähren die Anforderungen einer Kurortes mittlerer Größe, der zumeist von Hautleidenden und Rheumatikern aufgesucht wird. Die Quellen sind sowohl bezüglich ihrer chemischen Zusammensetzung, als auch hinsichtlich ihrer Wärme verschieden. Als das beste der Bäder gilt „Tama-no-yu“(Edelsteinbad), welchem die größte Heilkraft und die beste Ausstattung zugesprochen wird, während „Ishi-no-yu“ (Steinbad) mit einem Wärmegehalt von 44˚ Celsius die höchste Temperatur aufzuweisen hat. Im allgemeinen sind die Bäder nicht billig. Die Preise der Einzelbäder belaufen sich sogar 2-3 Yen.
Vom Südrande Dogos zieht sich in gewundener Linien nach dem südlichen Teile unserer Stadt eine hohe Allee, welche der uns manchmal durch seine kühlen Wasser erquickenden „Ishite-gawa“, - den Steinhandfluß - einfaßt (Skizze 4).
Auf der Südseite breitet sich das weite Häusermeer Matsuyamas aus, von dem eine gerade Landstraße über Kumamachi nach Kochi, der Hauptstadt der Provinz Tosa, führt. Den Hintergrund bilden wieder zahlreich Berge, deren bedeutendster der Kamanzan, nahe der Stadt Ozu ist. Im Anschluß an ihn zieht sich nach Westen ein langes Vorgebirge hin, welches, ähnlich wie im Osten von Schikoku die Insel Awaji, die japanische Binnensee bis auf eine schmale Zufahrtsstraße nach Süden abschließt.
Die schönste Aussicht vom Turme der Daimyo-Berg gewährt uns zweifellos das westliche Fenster. Einerseits erblicken wir hier einen Teil des Weges, den wir hoffentlich bald mit heimatlichem Kurs einschlagen können, sondern hebt sich vor den Küsten von Suwo die Insel Oshima und die westliche Binnensee besonders malerisch ab. Näher im Vordergrunde sehen wir die uns bereits bekannten Hafenstädte Mitsugahama und Takahama. Unmittelbar hinter dieser Stadt

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befindet sich der auch von unseren Lagern aus sichtbare „kleine Fuji“, wie die Insel Gogoshima im Volksmunde auch vielfach genannt wird.
Rings um Matsuyama herum dehnt sich eine weite Ebene aus, deren reichlichen Anbau wir gelegentlich der Besprechung der Landwirtschaft näher betrachten wollen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Umgebung unserer Stadt recht schön genannt werden kann. Japan ist reich an landschaftlich schönen Gegenden, deren Reiz seine Bewohner zumeist durch stimmungsvolle Tempelanlagen, geschmackvolle Wohnstätten und einen eigenartigen Gartenbau zu erhöhen verstehen. Andererseits aber sei an dieser Stelle hervorgehoben, daß alle diese Vorzüge nur im Vergleich mit dem übrigen Ostasien als solche gelten können.
Unser deutsches Vaterland ist in Bezug auf seine landschaftlichen Schönheiten viel reicher. Wir Europäer sehen zuerst stets das Fremdartige und erfreuen uns an den schönen Blumen, den sinnigen Tempeln und den kleinen Holzhäusern, die wie Kinderspielzeuge anmuten. Aber was ist das alles im Vergleich zu unseren deutschen Eichen, deutschen Domen und deutschen Heimstätten!

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