Lagerfeuer

1-31-01 (2-099)

Lf. No.31 Matsuyama,Sonntag, den 27. August 1916

Zur Kriegsliteratur: Ein Kapitel Goethe

An Kriegsliteratur ist in Deutschland kein Mangel. Der Krieg, der die Empfindungen undEntschließungen von Millionen bis in den Grund erregt hat, hat als natürliche Folgeeine unübersehbare Menge dichterischer Äußerungen in gebundener und ungebundener Form, Lieder, Balladen, Erzählungen, Beschreibungen u.s.f. hervorgerufen.
Wie steht es aber um die Aufnahme dieser Literatur? Verfolgt man diesbezügliche Berichte von der Front, so ist die Aufnahmefähigkeit groß; Zeit und Lust zum Lesen sind reichlich vorhanden. Frägt man, was denn gelesen werde, so findet man, vielleicht mit einigem Befremden, daß die Kriegsbücher nicht die begehrtesten sind. „So lange mir Gott das große Glück schenkte, draußen mitzumachen, sagt der Dichter Börries von Münchhausen, habe ich immer lieber etwas Friedliches in der Satteltasche mitgeschleppt als Kriegsgeschichten.“ Demgemäß, fährt er fort, habe er auch in seiner „Auswahl fürs Feld“ gehandelt; denn wie ihm werde es vielen gehen. Hundert ähnliche Zeugnisse ließen sich anführen. Werke, von deren man es nicht vermutet, finden zahlreiche Leser: Geschichtliche, volkswirtschaftliche, botanische, zoologische, kurz Bücher aus jedem Zweige der strengen Wissenschaft. Das wird niemand befremden, der die Wirkung des ernsten Studierens kennt und der weiß, daß es ein echter Zug deutschen Wesens ist, von den grellen, wirren, andrängenden Eindrücken einer ungewöhnlichen Wirklichkeit sich loszulösen, zu versuchen sie zu ordnen, zu entwirren und die einige Freiheit und Selbständigkeit ihnen gegenüber zu behaupten. Nicht daß man sich der Aufgabe entziehen will, man wird ihr gerade auf diese Weise gefaßter

1-31-02 (2-100)

und fester, mit gesammelter Kraft begegnen. Es gibt gewiß manches in diesem Sinne willkommenes Buch, das in höherer Bedeutung ein Kriegsbuch ist. Daß gerade die hohe Kunst, inder die Gestaltung bis in die letzte äußere Form mit großer Gesetz-mäßigkeit sich auswirkt, hier viel bieten kann, ist einleuchtend. Aber auch dem Gehalte nach wird man manches zu ihr gehörige Werk neu erleben. Jede Dichtung muß ja erlebt sein; der Dichter muß sie erlebt haben; das ist das eine. Das andere, aber seltenere ist; Das Publikum muß sie erlebt haben. Arndt mußte sich bitter beklagen, als man einige Jahrzehnte nach den Freiheitskriegen ihn schon nicht mehr verstand. Schiller besonders scheint im Verlaufe der Zeit das Nacherlebnis von Seitender vielen zu fehlen. Größerem Verständnisse begegnet Goethe; aber wer ihn auch nur etwas kennt, weiß, daß gerade das das Große an ihm ist, daß bis ins Letzte seine Werke Erfahrung und Erlebnis widerspiegeln. Da ist kein Wort nur Wort ohne Gehalt, kein Satz ist Füllung; überall Dichtung aus der Hand der Wahrheit.
Geht man nun die Goetheschen Werke durch, so scheinen sie wenig Beziehung zum Kriege zu haben. Immerhin ist bedeutsam, daß das erste große nationale Werk, das Goethe schuf, einen Götz von Berlichingen zeigt, der so wacker das Schwert führt, einen freien Ritter, dessen Menschsein Kampf ist. Freilich mutet der „Götz“ wie eine freundliche Volkssage an und entspricht vielleicht allzu sehr der Geotheschen Forderung, daß die Dichtung leicht wie ein Luftballon von der Wirklichkeit sich erheben müßte. Ernster ist „Egmont“, viel mühsamer losgerungen von der Mühe und Schwere des Erdendaseins, wie ja auch zur selben Zeit Goethes Mephisto ein anderer wurde und der Faust ins Große wuchs. Wenn der „Egmont“ etwa unseren Kameraden an der Front dargestellt wird, werden sie denselben vielleicht neu erleben,

1-31-03 (2-101)

anders als zuvor: Diesen Helden, dessen Sturmfreude mit Überlegung und Klugsein innerlich abgeschlossen hat und der in jener Meisterszene dem männlich bedacht-samen besten Freunde letztlich den Vorwurf der Feigheit macht. „Leb ich nur, um aufs Leben zu denken?“ „Wenn ihr das Leben gar zu ernsthaft nehmt, was ist denn dran? Wenn uns der Morgen nicht zu neuen Freuden ruft, am Abend ums keine Lust zu hoffen übrig bleibt; ist’s wohl des Anziehens und des Ausziehens wert? Scheint nur die Sonne heut, um das zu überlegen, was gestern war? Und um zu raten, zu verbinden, was nicht zu erraten, nicht zu verbinden ist, das Schicksal eines kommenden Tages. . . . . Ich habe nie verschmäht, mit meinem guten Kriegsgesellen um kleinen Gewinst das blutige Los zu werfen; und sollt’ ich knickern, wenn’s um den ganzen freien Wert des Lebens geht?“
Und da es derzeit so viele Gefangene gibt, wird man vielleicht, was man lange nicht mehr gewußt hat, wissen, was es um ein Gefangenendasein ist. Man wird Egmont anders verstehen, der nun wie Baldur den finsteren Übermächten erliegt und sich von engen Wänden umschlossen sieht. Sagt uns nicht mehr als früher jener hymnische Monolog, der in der deutschen Dichtung seinesgleichen sieht und den vielleicht in seiner Schönheit der einzige Novalis wieder erreicht hat; „Alter Freund! immer getreuer Schlaf, fliehst du mich auch wie die übrigen Freunde? Wie willig senktest du dich auf mein freies Haupt herunter und kühltest, wie ein Myrtenkranz der Liebe meine Schläfe! Mitten unter Waffen, auf der Woge des Lebens, ruft’ ich leicht atmend . . . in deinen Armen! usw. . . . Seit wann begegnet der Tod dir fürchterlich? Mit dessen wechselnden Bildern, wie mit den übrigen Gestalten der gewohnten Erde, du gelassen lebtest. – Auch ist er’s nicht, der rasche Feind, dem die gesunde Brust wetteifernd

1-31-04 (2-102)

sich entgegensehnt; der Kerker ist’s, des Grabes Vorbild, dem Helden wie dem Feigen widerlich. Unleidlich ward mir’s schon auf meinem gepolsterten Stühle, wenn in stattlicher Versammlung die Fürsten, was leicht zu entscheiden war, mit wiederkehrenden Gesprächen überlegten. . .

Da eilt’ ich fort, so bald es möglich war
und rasch aufs Pferd, mit tiefem Atemzuge.
Und frisch hinaus, da wo wir hingehören!
Ins Feld,
wo aus der Erde dampfend jede nächste Wohltat der Natur
und durch die Himmel wehend alle Segen der Gestirne
uns umwittern . . .
wo wir die Menschheit ganz
und menschliche Begier in unsern Adern fühlen!

wo das Verlangen vorzudringen, zu besiegen, zu erhaschen, seine Faust zu brauchen, zu besitzen, zu erobern, durch die Seele . . . glüht!“
Ist es nicht, als habe der Schauspieler bisher zumeist jene Umwandlung Egmonts im Gefängnisse nicht darzustellen vermocht oder alt gebrauchte Formen nur verwandt, als habe der volle Nachhall im Publikum gefehlt, so besonders bei dem Schlusse des Stückes, da Egmont auf die spanischen Schergen deutet, die ihn zum Tode abführen; „Ihr schreckt mich nicht! Ich bin gewohnt, vor Speeren gegen Speere zu stehen, und rings umgeben von dem drohenden Tod, das mutige Leben doppelt rasch zu fühlen.“ . . . „Freunde, höhern Mut! Im Rücken habt ihr Eltern, Weiber, Kinder.“ . . . „Schützt eure Güter! Und euer Liebstes zu erretten, sterbt freudig, wie ich euch ein Beispiel gebe!“
Wenn man so oft von dem kategorischen Imperativ Kants, der Zusammenfassung der großen Ethik, sagt, sie

1-31-05 (2-103)

sei aus dem Geiste Friedrichs geboren und beruhe auf der Gestalt des großen Kämpfers von 1756-63, so muß man „Götz“ und „Egmont“ als Nacherlebnis gleicher Art fassen, zu welchem Stoffbereich man auch noch die meisterlich komponierte Novelle Goethes „Aus der Franzosenzeit“ (Dichtung und Wahrheit, drittes Buch), ein wahres Kriegs- und Friedensbuch aus Großvaters Zeiten, zählen mag.
Gehen wir nun von der ruhigen Epoche, da Egmont und Tasso entstand, zu jener über, die mit den Revolutionskriegen beginnt und mit den Freiheitskriegen endet! An einem der Revolutionskriege nahm Goethe selbst teil. In unseren Tagen, da der Sieger von Longwy mit seiner Armen Verdun bedroht, mag man einmal wieder in Goehtes Bericht „Kampagne in Frankreich“ nachlesen, wie es Goethe und dem Heere vor Longwy ging, wie die Batterien bei Verdun spielten, wobei wir den Dichter mit dem Fürsten von Reuß die Naht hindurch ins Gespräch vertieft finden, in eine Unterhaltung, deren Thema bezeichnenderweise nicht Verdun, sondern Goethes naturwissenschaftliche Forschung ist. – Verdun ergibt sich übrigens bald, und der brave Kommandant zieht vor versammelten Rate, nachdem er seine Zustimmung zur Übergabe erteilt hat, sein Pistol heraus und erschießt sich, wofür er späterhin ein Grabmal im Pantheon erhält. – Es sei uns erlassen, auf jedes einzelne Werk dieser Periode einzugehen, die für den Erlebenden einen stetige Steigerung der Eindrücke bedeutete. Wenn wir uns diese Kriegerfüllten Jahrzehnte in den Sinn rufen, mögen wir Heutigen schon begreifen, wenn Goethe einmal (4. Dezember 1808 nach der Erfurter Fürstenversammlung) in launiger Weise an die Witwe des Fürsten Reuß schreibt, „daß gegenwärtig der Gescheuteste sich bloß dadurch von dem Albernen unterscheidet, daß er weiß, nach so Kapitalseltsamer Begebenheiten sei er etwas weniger verrückt als die übrigen. Untersucht man die Grade der Verrücktheit,

1-31-06 (2-104)

fährt der Dichter fort, so findet man die für die Tollsten, die sich einbilden, sie hätten wirklich eine Art von Urteil über das, was sie gesehen haben. Wer jedoch alles gesehen hätten, was auch nur öffentlich in diesen Zeiträumen bei uns sich ereignet, der könnte schon sagen, daß ihm das Bunteste und Wunderlichste vor den Augen vorübergegangen wäre. Ich selbst war nicht so glücklich; denn da ich mich körperlich und geistig zu menagieren Ursache habe, so könnte ich in diesen Tagen eigentlich nur gegenwärtig sein, wo ich gefordert war und wo ich etwas zu leisten hatte.“ –
Der Dichter hatte alle Ursache, sich von der verwirrenden Fülle anstürmender Eindrücke in gewissem Maße zu lösen und fern zu halten, nicht um sich der Aufgabe, der er und die Volksgenossen mit ihm gegenüberstanden, zu entziehen, sondern um die Kräfte gesammelt zu halten und die Aufgabe als Dichter zu erfüllen. Es würde zu weit führen, das schon vielfach behandelte Thema der Stellung Goethes zu dem Freiheitskampfe der Nation auch hier zu behandeln. Nur auf ein kleines Werk sei im folgenden hingewiesen, das diesen Kriegszeiten entstammt, und das in echt Goethescher – von Schillerscher, Kleist’scher und anderer so verschiedener – Weise erzählt, was der Dichter selbst und mit ihm viele erlebt. Dies kleine Kapitel Goethe ist seine Achilleis.
Gestaltet der Dichter, was viele bewegt und woran viele teilhaben, so kann er es auch mancherlei Weise tun: er kann den geringsten der Teilnehmer nehmen und in seiner Gestalt aussprechen, was allen gemeinsam ist; er kann den Höchststehenden wählen, Könige, Fürsten, Heerführer. Aber wie er auch wählt, immer wird sein Held, wie Hebbel oft ausgeführt hat, mehr sein als eine individualistische Person, Himmel und Erde werden so zu sagen auf ihn herabschauen. Das ist freilich etwas, was auch heute mancher einsame Wachtposten in schwerer Dienstleistung vor dem Feinde

1-31-07 (2-105)

erfährt; und wir haben ergreifende Gedichte aus diesem Kriege, die dieses Gefühl, bezw. diese Art Anschauung widerspiegeln. Morgenrot und frühe letzte Sonne, Wald, Bäume, Erde und Sterne sind dem Krieger nichts Fremdes. Handelt es sich aber für den Dichter um Gestaltung dieses Kosmischen, so lockt ihn immer wieder die von keinem andern Volke so hoch und menschengemäß erreichte Gestaltung, die ihr die Griechen gegeben haben. Goethe, der in seinem Werke uralten Stoff aufnimmt, wird ihr unmittelbar zugeführt. Uns ist diese Mythologie fremd geworden; doch ihrer Schönheit wird man sich nicht verschließen.
Die Achilleis ist nur ein Fragment; der Dichter hat den Plan des Ganzen seinem Freunde Schiller mündlich oft entwickelt. Schiller äußert sich erstaunt, daß Goethe nicht zur Ausführung schreite. Aber ist es auch nur ein Fragment, so gehört es zum Schönsten, das Goethe geschrieben. Homers Einfluß herrscht vor. Die Versform ist der Hexameter Homers. Manchen, der Hexameter liest, mag man auf den Begründer unserer neueren Dichtung hinweisen, dem die sinngemäß gelesene und betonte Sprache das erste, die Versform mit ihren Füßen, Einschnitten und Absätzen immer erst das zweite war.
Im Folgenden sei der Gang des Achilleisfragmentes kurz skizziert. Die großgearteten vom Dichter geschauten Situationen, die leichten, glücklichen szenischen Übergänge, vor allem aber die plastische Klarheit der Gestalten und der tiefe Sinn, der in ihren personifizierten Gedanken, die fein abgewogene Symmetrie, derzufolge jede der Gestalten wie in einem Gemälde Bellinis oder Raffaels Raum um sich hat und doch zu den anderen Gestalten hinleitet, ihnen entspricht oder sie kontrastiert; die Gestalt der Mutter und die ihres großen Sohnes – kurz die Schönheit der Komposition wird die Skizze, hoffe ich, wenigstens andeutungsweise zeigen;

1-31-08 (2-106)

die volle Schönheit freilich zeigt erst eine Lektüre des Fragments selbst. Der Inhalt ist kurz folgender:
Hektor, der große Troer, ist von Achilles Hand gefallen. Nun wird er von den Seinen bestattet. Es ist tiefe Nacht. Hoch schlagen die Flammen des Scheiterhaufens gegen den nachtdunklen Himmel. Ilions Mauern leuchten vom Widerscheine der Glut. Krachend stürzen die Scheite. Die Funken prasseln.
Drüben bei seinem Gezelte sitzt Achilles in der Finsternis. Stumm starrt er in die Lohe hinüber. Langsam rinnt Stunde auf Stunde der Nacht dahin; aber Achilles wendet das Auge nicht ab. Unablässig starrt er in die Flammen, tief im Herzen noch Zorn und Haß gegen den Toten, „der ihm den Freund erschlug und der nun bestattet dahinsank.“ Die zehrende Wut des Feuers läßt nach. Morgenwolken tauchen auf. Da wendet endlich der Pelide sich ab; „tief bewegt und sanft“ spricht er zu Antilochos: Gewißheit ist ihm geworden: Nun endet der Krieg; bald wird auch Trojaauflodern, und von den Trümmern der Stadt sich Rauch und Qualm erheben, See und Gebirge verdunkeln. „Aber ich werd’ ihn nicht sehen!“ Des Helden Geschick ist erfüllt; er ist dem Tod geweiht. „Sei es! Gedenken wir um des Nötigen, das noch zu tun ist!“ Ein würdiges Grabmal soll ihm am Gestade aufgeschichtet werden. Die Myrmidönen, Achilles Scharen werden dazu entboten. Sie machen sich schweigend ans Werk und „aller tätige Stille ehrte das ernste Geschäft und ihres Königs Schmerzen.“ Wie sie den Dünenrand erreichen, geht überm Meere die Sonne auf: Heftig eröffnen die Horen die Tore des Himmels. Helios’ wildes Gespann ehebt sich brausend.
Aufwärts hebt sich der Blick. In dem hellen Morgenglanz schweben die Horen zu Zeus Kronions Himmelsburg. Auf der Schwelle begegnet ihm der Gott des vulka-nischen Feuers, des geschmiedeten Eisens, der Hüter der Industrie, Hephaestus. Arbeit nur regt

1-31-09 (2-107)

dem Gott das Herz; er preist den Horen der Hände schweres Werk, der Hämmer und Gerätekunst, die den metallenen Himmelspalast geschaffen. „Doch alles ist leblos!
Euch allein ist gegeben, den Charisinnen und auch nur,
über das tote Gebild des Lebens Reize zu streuen.“
Und die beweglichen Göttinnen lächeln über den funkenden Alten und gießen über sein Werk verschwenderisch Leben und Licht aus, „daß kein Mensch es ertrüg’ und daß es die Götter entrücke.“
Indes tritt mit Pallas Athen Here hinzu: Sie macht dem Sohne Vorhaltungen, daß er Waffen liefern jedem, der ihn nur bitte. So liefern er Waffen für Achill, der doch dem Tode geweiht sei. Hephaestus läßt auf seine Waffen keinen Tadel kommen; er verteidigt sie und sich; ich schmiede die Waffen . . . Das Weitere geht mich wenig an. Mürrisch bricht er ab: Wer Waffen schmiedet, bereitet Krieg und muß davon der Zither Klang nicht erwarten.
So geht er murrend davon. Die Göttinnen lachen. Sie betreten den Saal der Götterversammlung. Gottheit auf Gottheit sehen wir nun eintreten, eine Gestalt leuchtender denn die andere. Dann dringt sanftes Licht durch die Hallen her, „Wehen des Äthers dringt aus den Weiten hervor“; Kronion naht; die Charisinnen eilen herzu, spenden den Göttertrank. Licht und Schönheit erfüllt den Himmel. Und still genießen die Fülle der Seligkeit alle.
Da naht Achills Mutter, die göttliche Thetis, „vollgestaltet und groß“, trauernden Blickes, ein Bild des mütterlichen Schmerzes. Sie weiß keinen Ausweg in ihrer Qual: sie muß ihr Weh hinausrufen in diese Lust und Seligkeit, „ob in der olympischen Höheirgend sie lindern möchte die jammervolle Beängstung.“ „Denn der Sohn ruft sie nicht mehr an; er steht am Ufer, stumm, ihrer vergessend“, nur des Freundes sehnlich gedenkend . . . ,

1-31-10 (2-108)

dem er sich nach hin zu den Schatten bestrebet“. – Heftig und ohne weibliche Anmut entgegnet ihr Herr, die eine Änderung des Ausganges der Krieges fürchtet; sie zeiht Thetis trügerischer Worte; sie schilt auf Achill, das Ungeheuer, das alles Verderben heraufgeschworen haben; sie schmäht auch Thetis Vermählung. Schmerzerfüllt antwortet Thetis; „Grausame . . . nicht verschonst du der Mutter Schmerz, den schrecklichsten aller.“ Nun bringt ihr der Schmerz und der{=die} Erinnerung jeden Augenblick aus dem Leben des Sohnes zurück. Sie denkt der Vermählung. Ihr wird die Stunde gegenwärtig, da ihr Achill verheißen wird. Sie erkennt die Wahl, die sein Leben bestimmen wird. Sie muß alsbald, wie er wählen wird. Sie steckt ihn in ein Mädchengewand. „Was half mir die Kunst und die List? Was das weibliche Kleid? Den Edelsten rissen zum Kriege unbegrenzte Begier nach Ruhm und die Bande des Schicksals . . .“
Sie verstummt. Der Schmerz überwältig sie. Wortlos wird ihr Klagen.
Da wendet Kronion „ernst und mild sein göttliches Antlitz gegen die Klagende hin“. Wie väterlich weiß Kronion zu trösten! Wie olympisch – heiter sind seine Worte! „Selber sprichst du dem Sohne das Leben ab, töricht verzweifelnd.“ Wer miß denn die Schranken des Geschehens aus! Gewann doch Admetos die Gemahlin aus der Welt der Toten zurück. Stieg doch Protesilaos wieder herauf. Wie willst du verzweifeln, da Achill noch lebt. Ist nicht das Leben selbst höher als Geschick und Vorverordnung? – Und ob auch nun Here, um den Ausgang des Krieges besorgt, in weiblicher Eifersucht dem Gemahl erwidert – Zeus weist die Gattin heiter und mit überlegenen Worten zurück. Das Leben entscheide. Der Kampf bringe Sieg oder Untergang. Damit erhebt er sich. Die Götter folgen.
Auf denn zum Kriege! Ares, der Kriegsgott, tritt nun hervor. Er ist die Personifikation jener Seelenmächte, die den Krieg nicht zum wenigsten bedingen, ein Gegenbild des Hephaestus, (auch das

1-31-11 (2-109)

Achilles, auf den von allen Seiten das Licht der Dichtung fällt). Here redet Ares an:

Sohn! was sinnest du, des ungebändigte Willkür
diesen und jenen begünstigt, den einen bald und den andern
mit dem wechselnden Glück der schrecklichen Waffen erfreuet.
Dir liegt immer das Ziel im Sinn, wohin es gesteckt sei;
augenblickliche Kraft nur und Mut und unendlicher Jammer.
Bald werde er, so mutet Here ihm zu, selbst im Handgemenge stehen und den Achill fällen. Ares wehrt ab. Ginge doch so der Krieg zu Ende. Den Krieg zu enden, zieht Ares nicht.
„Mein ist, sie aufzuregen, aus ferner friedlicher Wohnung,
wo sie unbedrängt die herrlichen Tage genießen,
sich um die Gaben der Ceres, der Nährerin emsig bemühend.
Aber ich mahne sie auf . . . . ; der fernen
Schlachten Getümmel erklingt vor ihren Ohren, es sauset
schon der Sturm des Gefechts um sie her und erregt die Gemütern
grenzenlos; nichts hält sie zurück und in mutigem Drange
schreiten sie lechzend heran, der Todesgefahren begierig.
Drum ist es an diesen Völkerschaften um Troja nicht genug. Die fernsten Völker müssen in diesen Krieg verwickelt werden; neutral oder unneutral gilt mir gleich, die frommen Äthiopier rufe ich jetzt; soll nicht auch die Frau am Kampfe sich beteiligen? Die Amazonen reize ich auf!“
Da mischt sich die kyprische Göttin, Venus, ins Gespräch. Kampf und Schlacht sind ihr verhaßt; kämpfende Frauen sind ihr ein Greuel. Den Amazonen wünscht sie den Untergang. Aber die Äthiopier möge Ares doch in ihrem Frieden belassen, sie, „die den Göttern so oft die frommsten Feste bekränzen“ . . . „ich gab die schönsten Gaben dem Guten, ewigen Liebesgenuß und unendlicher Kinder Umgebung.“ Aber enteilt; die Liebesgöttin späht nach anderen

1-31-12 (2-110)

Göttern aus und entschwindet.
In Begleitung der Here tritt Pallas Äthene vor unsern Blick. Sie, die in blendender Rüstung aus Zeus’ Haupt Entsprungenen, die Göttin der blanken Waffe, des freien, hellen, scharfen Gedankens, darum die Hüterin der Wissenschaft und Kunst, sie ist von Thetris Worten im Innersten getroffen. „Ach, der Krieg verschlingt die Besten!“ Den Tapfern trifft vor allen andern das Geschick. Wie wird er der Erde fehlen, „die breit und weit am Gemeinen sich freuet.“ „Ach und daß er sich nicht, der Jüngling, zum Manne bilden soll!“

Ein fürstlicher Mann ist so nötig auf Erden,
. . . . Daß die jüngere Wut, des milden Zerstörens Begierde,
sich als mächtiger Sinn, als schaffender endlich beweise,
der die Ordnung bestimmt, nach welcher sich Tausende richten!
Nicht mehr gleicht der Vollendete dann dem stürmenden Ares,
dem die Schlacht nur genügt, die Männer tötende; nein! er
gleicht dem Kroniden selbst, von dem aus gehet die Wohlfahrt.
Städte zerstört er nicht mehr. Er baut sie. Fernem Gestade
führt er den Überfluß der Bürger zu Küsten und Syrten
wimmeln von neuem Volk. . .
Aber Achilles baut nur sein Grab. – Doch die Göttin findet sich auch darein. Sei es, wenn er denn dem Tode ins Antlitz blickt! Das ist es auch nicht mehr, was sie heftig und schmerzlich beweg. Was sie, die Göttin sieghafter Freiheit nicht mit ansehen kann, ist, daß Achill wie ein niederer Knecht dem Kriegsgeschick zu erliegen scheint, unfrei und unfroh. Stirbt er, so sterbe er frei und im Vollgefühl seiner Tat. Darum will sie zu ihm hinab, sein Herz „mit göttlichem Leben zu füllen“,

1-31-13 (2-111)

damit er vor allen sterblichen Menschen
heute der Glücklichste sei, des künftigen Ruhmes gedenkend
und ihm der Stunde Hand die Fülle des Ewigen reiche.
So schwebt sie zu ihm durch alle Höhen des Himmels herab. Das Meer taucht auf. Die Skamandrische Höhe zeigt sich. Ilion erschein hier; dort um die Lagerzelt. Achilles aber steht, als sei er schon bald leibhaftig begraben, in dem engen Trichter seines Erdgrabhügels. Da führt ihn Pallas, die Antilochos Gestalt angenommen auf die Höhe des Walls, wo das Meer sich unermeßlich vor den Blicken dehnt. Sie redet „versuchende freundliche Worte“; sie stellt scheinbar gleichgültige Frage. „Welche Segler sind das, die draußen weit auf der See liegen? Wohin streben sie?“ Zögernd scheint Achill sich in die Unterredung einzulassen. Aber Pallas fährt fort, von dem Meere zu sprechen, von den Schiffen, die von überallher hier vorbeifahren müssen; von allen Enden des Okeanos ziehen sie hier vorbei, schauen das Denkmal und messen an der Größe und Höhe des selben die Bedeutung dessen, der darin bestattet liegt. Achilles, froh gestimmt durch das Lob des Werkes, dem seine letzte Sorge gibt, dank der Worte Athenes die Gedanken schon schweifen lassen über die tätigkeitsfrohe Welt und über die See, diesen schönsten Spiegel der Fülle des Kosmos, froh nun auf sein eigenes kurzes tatenreiches Leben zurückblickend, antwortet zögernd, versonnen, stolz und bescheiden; „Ja . . . da wird wohl einmal mancher die blaue Woge durchschneiden und das Mal schauen.“ Dann wird er zu den Ruderern sprechen; „Hier, . . . . liegt keineswegs der Achainer Geringster begraben . . .“ Nein! fällt Pallas enthusiastisch ein, nie wird er vom „Geringsten“ sprechen; den herrlichsten Namen wird er dir geben.
sich dein herrlicher Ruhm und alle Völker verehren

1-31-14 (2-112)

deine treffende Wahl des kurzen rühmlichen Lebens.
Denn wer jung fällt, der bleibt und erschein ewig jung;
Stirbt mein Vater dereinst, der graue reisige Nestor,
wer beklagt ihn als dann? und selbst vom Auge des Sohnes
wälzet die Träne sich kaum, die gelinde Völlig vollendet
liegt der ruhende Greis . . .
Aber der Jüngling fallend, erregt unendliche Sehnsucht
allen Künftigen auf, und jedem stirbt er aus neue . . .
Aber Achill stimmt nicht unmittelbar in diesen Enthusiasmus mit ein. Hart errungen ist seine rühmlicher Wahl. Was er zu vollbringen hat, ist schwer, erfordert Nüchternheit, Entsagung, Willenskraft. Seltsam – paradox erscheint ihm die menschliche Wertschätzung.
Ja, so schätzt der Mensch das Leben, als heiliges Kleinod,
daß er jenen am meisten verehrt, der es trotzig verschmähet.
Manche Tugenden mag es geben. Aber keine wird so verehrt von sämtlichen Men-schen, als der festen Sinn, der dem Tode nicht weicht. Wer viel aufgibt, antwortet Pallas, gewinnt auch viel. Den herrlichsten Ruhm verheißt sie darum Achill. Wo immer sich Männer versammeln werden und von großen Taten berichten, wo immer Männer ihre Kräfte im Wettkampfe messen und der Sänger dann vom Helden erzählt, da wird, sagt Pallas, Achills Namen als der erste und herrlichste genannt werden. Allen erhebt er dann das Herz. Doch „ernst“ und „lebhaft“ entgegnet Achill: Wohl! wohl! so redet der Jüngling; gut gemeint ist, was du sagst; man kann es sogar verständig nennen. Das mag in der Tat einmal den Mann reizen, seinetwegen die Menge versammelt zu sehen. Es mag ihm Spaß machen zu denken, daß einmal der Sänger von seinen Taten berichte. Aber: das ist die Summe des Lebens nicht. Das lockte mich nicht zur Tat. Sondern das ist’s:

1-31-15 (2-113)

sich nahverwandter Gesinnung
edler Männer zu freuen, im Leben sowie im Tode,
denn mir ward auf der Erde nichts Köstlicheres jemals gegeben,
als wenn mir Ajax die Hand der Telamonier, schüttelt,
abends nach geendigter Schlacht und gewaltiger Mühe,
sich des Sieges erfreuend.
Und im übrigen, mag dies auch so sein und mögt ihr mich für alle Zeiten als den größten Helden der Schlacht und des Krieges feiern, so ist doch dieser Krieg als Zweck für sich Unheil, Moira genug, unsinnig – notwendig . . . Aber dergestalt ist nun einmal die Wirklichkeit:
Denn im Busen des Menschen ist stets des unendlichen Haders
Quelle zu fließen geneigt, des ruhigsten Hauses Verderber.
Die Welt ist übrigens letztlich unbegreiflich nicht nur im Kriege; sie ist im Frieden nicht anders. Überall lauert dämonische Tücke und elementarer Widerstand. Darum ist dies der Weisheit letzter Schluß:
„Also sag’ ich dir dies; Der glücklichste denket zum Streite
immer gerüstet zu sein, und jeder gleiche dem Krieger,
der von Helios Blick zu scheiden immer bereit sei.“ –
Ein kurzes tiefes Schweigen folgt. Man fühlt, das Letzte und Beste ist gesorgt. – Rasch schließt das Stück mit frischer Realistik: Unsere Mannschaft ist wohl beim Graben und Schaufeln hungrig und durstig geworden; sollten sie nicht rasten, an Speise und Trunk sich gütlich zu tun? –
H. B.
---------------------

1-31-16 (2-114)

Baltimore.

Wenige Monate sind es her, da hatte es den Anschein, als sei der Riss zwischen Deutschland und der Großmacht der Neuen Welt unheilbar. Hüben und drüben scheinen die Völker selbst die Kriegsfackel entzünden zu wollen. Aber in den Kabi-netten in Berlin und in Washington blieb man ruhig. In Berlin siegt die nüchterne Erwägung, daß es besser sei, das beleidigte Gerechtigkeitsgefühl zu beherrschen, als ein 90 Millionenvolk mit unermeßlichen Hilfsquellen endgültig in die Reihe der Feinde zu drängen, bevor die anderen mächtigen Gegner völlig niedergeworfen sind; in Washington aber mußten sich die Staatlenker sage, daß es für die politische Stellung Amerikas viel vorteilhafter sei, weiterhin die Rolle des „Neutralen“ arbitermundi zu spielen, als durch Eingreifen in den Krieg als Vasall Englands zu erscheinen, umsosehr, als auch der wirtschaftliche Nutzen des Landes im ersteren Falle weit größer blieb. So wurde, während in beiden Ländern auf die Wogen der öffentlichen Meinung Öl gegossen wurde in der Form von mit Bedingungen, Verwahrungen und dergleichen ausgestatteten Erklärungen, von den Staatsmännern die Fäden diplo-matischer Beziehungen sorgsam gehütet. Die Stimmen des Unwillens über diese Wendung der Dinge, die diesseits und jenseits des Großen Teichs, besonders aber diesseits, laut geworden waren, waren kaum verstummt, als plötzlich alle Welt durch die Nachricht überrascht wurde, daß zwischen Deutschland und Amerika ein neues Band gelegt worden sei. Der neue Weg führte nicht über die golden, etwas brüchig gewordene Brücke der Rassenverwandtschaft, der traditionellen Freundschaft, der Waffenbrüderschaft und der gemeinschaftlichen Ideale, sondern über eine „goldene“ Brücke im eigentlichen Sinne des Wortes, eine Brücke, die gestützt wird von den schmucklosen, aber kräftiger Pfeilern: Geben und

1-31-17 (2-115)

Nehmen. Das Erstaunen der Welt galt zunächst allerdings weniger der Herstellung dieser Verbindung, deren Bedeutung für das Einvernehmen beider Staaten wohl erst nach Monaten zu erkennen sein wird, sondern der Art, wie diese Verbindung he-rgestellt wurde. Die neue „goldene Brücke“ führt nicht übers Wasser, sondern unterm Wasser hin. Am 9. Juli 1916 legte das erste deutsche Handelsunterseeboot „Deutschland“ „unter betäubenden Jubel“ in Baltimore an. Wenige Tage später hörte man, daß der Bürgermeister von Baltimore dem Kapitän der „Deutschland“ ein Festmahl gegeben habe. In diesen Kundgebungen in Baltimore darf man wohl weniger politische Sympathie als die allen Amerikanern eigene klare Erkenntnis und ehrliche Begeisterung für geniale Leistungen erblicken, vor allem aber auch ein gutes Stück Lokalpatriotismus. Bei der Vorliebe der Amerikaner für Superlative ist es sicher, daß die ehrenwerten Bürger Baltimores von nun an für alle Zeiten mit Stolz von sich behaupten werden, daß Baltimore die erste Stadt Amerikas gewesen sei, die eine transatlantische Unterseebootsverbindung besessen habe. Ein bißchen Reklame kann aber der guten Stadt Baltimorenur recht sein, denn sonst muß sie doch immer hinter ihrer glänzenden Schwester NewYork zurückstehen. Ein paar Worte über den „Brückenkopf“ an der jenseitigen Küste mögen heute am Platze sein.
Baltimoreliegt inmitten älterer englischer Kolonialer Ansiedlungen, die ums Jahr 1634 Lord Baltimoreim heutigen Staat Maryland an der Chesapeake-Bucht anlegte. Der tief ins Land einschneidende Meeresarm bildete in diesem und im folgenden Jahrhundert das Haupteinfallstor englischer Kolonisation. Die nach Lord Baltimorebenannte Stadt wurde im Jahre 1729 an der sogen. Fall-Linie gegründet. Diese die ganzen atlantischen Südstaaten durchziehende Linie, an welcher die dem Appalachen-Gebirge

1-31-18 (2-116)

(Allegeny-Mountains) vorgelagerte Hügellandschaft scharf zur Küstenniederung abfällt, hat überall das Emporblühen von bedeutenden Industriestädten begünstigt, da die kraftspendenden Wasserfälle oberhalb und die schiffbaren Flüsse unterhalb der Linie die denkbar günstigsten Vorbedingungen bildeten. In ganz besonderem Maße gilt dies für den nördlichen Teil der Fall-Linie, wo Gebirge und Meeresbuchten die Küstenniederung zu einem schmalen Streifen einschnüren. Dort, wo der Patapsco mit seinen kleinen Nebenflüssen JonesFallCreek und GwynnsFallsCreek zur Niederung herabstürzt, um sich alsbald buchtartig zu der knapp 28 km entfernten Chesapeake-Bay hin zu verbreitern, wurde Baltimoregegründet. Auf 328 km langer sicherer Wasserstraße konnten von hier aus die Produkte des Landes zum Ozean getragen werden.
Die geographische Lage Baltimoreszwischen dem 39. und 40. Grad nördlicher Breite entspricht etwa denjenigen von Tientsin und von Valencia in Spanien. Der erstere Stadt ähneln auch die klimatischen Verhältnisse. Im Sommer steigt das Quecksilber bis etwa +26° Celsius, während es im Winter bis an -38 Grad Celsius fällt, so daß oft die Flotten der Austernfischer in der Bucht von schwerer Eisgang festgehalten werden.
Im Jahr 1776 zählte die Stadt erst 600 Häuser. Mit dem Ende der amerikanischen Befreiungskriege begann ihr Aufschwung, eingeleitet durch starke Zuwanderung aus Haiti vertriebener französischer Kolonisten im Jahre 1793. Ende des Jahrhunderts betrug die Einwohnerzahl 30 000. Im Jare 1850 schon 210 000; im Jahre 1910 war Baltimoremit 558 000 Einwohnern die siebtgrößte Stadt der Union. 16 % der Bevölkerung sind Farbige. die John-Hopkins-Universität hat hier ihren Sitz und im Erzbischof von Baltimoresehen die zwanzig Millionen Katholiken der Staaten nächst dem Papsten ihr kirchliches Oberhaupt.
Dem Auge des Beschauers bietet die heutige Stadt Baltimore

1-31-19 (2-117)

[ img-131-1 ]
recht wenig. Rauchgeschwärzte kleine Backsteinhäuser und schlecht gepflasterte Straßen geben ihr das Gepräge. Ihren stolzen Beinamen „MonumentalCity“, die Denkmalstadt, verdankt sie lediglich dem im Mittelpunkt der Stadt errichteten Washington-Monument, einer Nachbildung der Vendôme-Säule in Paris. Von dem 55 m hohen Denkmal hat man einen schönen Überblick über die gradlinig angelegten Stadt mit ihren roten Ziegeldächern, über das weite Hafenbecken, über den Wald von Schiffsmasten und hinaus auf die Bucht. Dem Fremden, der in Baltimorenichts verloren hat, ist dringend zu raten, nach Besteigung der Washinton-Säule schleunigst wieder zum Bahnhof zurückzufahren und im ersten besten Zug den Staub Baltimorevon seinen Füßen zu schütteln.
1-31-20 (2-118)
So wird er die Stadt in denkbar bester Erinnerung halten und gerät nicht in Gefahr, vor Langeweile umzukommen. Denn selbst die ausgedehnten Hafenanlagen bieten nichts Besonderes, erst recht nicht, wenn man kurz zuvor den wimmelnden Schiffsverkehr auf dem auf zwei schmale Flußarme zusammengedrängten Hafen NewYorks gesehen hat.
Wenn es mir bei meinem Aufenthalt in Baltimoreim Mai 1914 besser erging, so lag es wohl nur daran, daß gerade damals der Hafen eine auswärtige „Sehenswürdig-keit“ beherbergte. Das englische Verbrecherschiff „Success“ war gerade angelangt auf der Reise von Liverpool nach SanFrancisco. Der alte Segler hatte über die Toppen geflaggt, und er hatte allen Grund dazu: Trotz seines ehrwürdigen Alters von 124 Jahren (er war 1790 erbaut worden) hatte er seine knapp 600 Tonnen glücklich über den Ozean gebracht. In Philadelphia und hier in Baltimorewollte er sich verschnaufen um dann auf dem Wege durch den ihm noch unbekannten Panamakanal noch rechtzeitig zur nächstjährigen Weltausstellung in SanFrancisco zu kommen. Seinen alten unfreund-lichen Beruf hatte „Success“ lange aufgegeben, und seit seinem hundertsten Geburtstage lebte er nur noch dem Vergnügen und fuhr von Ausstellung zu Ausstellung, soweit er dieselben auf dem Wasserwege erreichen konnte. Am golden Gate ist er im Ausstellungsjahr 1915 auch glücklich eingetroffen. Von hier aus ist er sicherlich zur Auffrischung alter Erinnerungen nach Australien gefahren, wohin er in seiner Jugend im Auftrage der britischen Regierung manchen Unglücklichen verschleppt hatte. Hoffentlich macht ihm der Weltkrieg keinen Strich durch seine Reisepläne. WinstonChurchill wollte „Success“ angeblich als Hilfskreuzer einstellen, aber die alte Brigg wandte mit Erfolg ein, daß sie sich bei ihrem Alter an die neumodischen deutschen Unterseeboote noch weniger gewöhnen

1-31-21 (2-119)

könne als ihre jüngeren englischen Schwestern!
Baltimorewird also fortan der Nachbarin NewYork entgegenhalten können, daß so auserlesene und dabei so verschiedenartige Gäste, wie der „Success“ und die „Deutschland“ beide bei ihr eingekehrt sind und das hochmütige NewYork geschnitten haben. Vielleicht, daß dann die Herren von FifthAvenue in sich gehen und nicht mehr wie bisher ihren beißenden Spott über die ehrenwerten Bürger Baltimoresausgießen. So ist es nämlich in den letzten Jahrzehnten geworden: Auf den Variété-Bühnen NewYorks vertritt zum Ergötzen des Publikums der „Besuch aus Baltimore“ die Rolle, die auf den Brettern der leichten Muse Berlins etwa „Onkel Fritz aus Neu-Ruppin“ zu unserer Freude spielt. Und – traurig aber wahr, die NewYorker haben nicht so ganz unrecht. Von der neuesten Zeit ist Baltimoreetwas stiefmütterlich behandelt worden. NewYork und Philadelphia ziehen alles an sich, und in ihrem Schatten kommt Baltimoreseit der Jahrhundertwende nicht mehr so recht vorwärts. Vergebens sucht man in Baltimorenach den himmelstürmenden Betonbauten, den modernen Wolkenkratzern, und der Verkehr auf den Straßen ist im Vergleich zu der Größe der Bevölkerung nicht sehr lebhaft.
Immerhin nimmt Baltimore unter den Industrie- und Handelszentren der Ver-einigten Staaten noch einen beachtenswerte Stelle ein. Nach wie vor ist Baltimoreder Hauptsitz der amerikanischen Konservenfabrikation. Vor allem die Fische der Bucht und die Früchte des Küstenlandes wandern in die Büchsen, von denen jährlich über 50 Millionen in den Fabriken Baltimoresgefüllt werden. Dreiviertel allen amerikanischen Segeltuchs kommt aus BaltimoresSpinnereien. In der Stadt und ihrer Umgebung blühen Stahlwerke und Eisenhämmer, Maschinenfabriken und Backsteinbrennereien, Tabakindustrie und Schlächtereien. Im Jahre 1909 waren

1-31-22 (2-120)

in 2502 Betrieben 83 000 Arbeiter tätig und der Gesamtwert von BaltimoresErzeugnissen betrug 187 Millionen Golddollars (1900: $161 000 000). Einen Vergleich mit den Nachbarstädten kann Baltimoreallerdings nicht aushalten. Der Jahreswert der Erzeugnisse NewYorks stieg in den gleichen Jahren 1900 bis 1909 von $1371 Millionen auf $2030 Millionen, und Philadelphia produzierte im Jahre 1905 bereits für $591 Millionen. Alle diese Zahlen sind im letzten Jahrzehntnoch ganz erheblich gestiegen. Allerdings waren die Jahren vor dem Kriege der amerikanischen Industrie wenig günstig. Im Sommer 1914 hörte ich in den amerikanischen Industriestädten überall das gleiche Klagelied über die schlechten Zeiten, und manches Werk stand still. Der Weltkrieg aber hat die Taschen der amerikanischen Industriellen wieder neu gefüllt, glücklicherweise nur auf Kosten unserer Gegner. Gerade das Gelände zwischen Baltimoreund Philadelphia ist vor allem die Stätte, wo die Waffen geschmiedet werden, die den Engländern in der Picardie, den Franzosen bei Verden, den Italienern an den Alpen und den Russen von der Osten bis zum Schwarzen Meer zum Siege verhelfen sollen. In der Gegner von Wilmington in Staate Delaware stehen heute Arbeiterstädte von 20000, 30000 und mehr Einwohnern, wo noch im Sommer 1914 nur ein paar Holzhütten zu finden waren.
Der Handle und Schiffsverkehr Baltimoreszeigt noch stärker als die Industrie die erdrückende Konkurrenz der Nachbarstädte. Zwar ist Baltimoreimmer noch ein wichtiger Kornmarkt, und als Ausfuhrhafen für Getreide und Mehl, Erzeugnisse der Viehzucht, Baumwolle, Tabak und Kupfer kommt er unmittelbar hinter NewYork, aber der Gesamtwert der Ausfuhr geht seit 1900 ständig zurück:

1-31-23 (2-121)

1900:115,5 Millionen Dollars
1907: 90,4
1910: 77,4
NewYork hatte dagegen 1900 eine Gesamtausfuhr von 641,2 Millionen Dollars, 1910: 794,6 Millionen Dollars.
Auch der überseeische Schiffsverkehr Baltimores ist im Abnehmen. Er betrug 1910 noch 2,6 Millionen Reg. Ton., während im gleichen Jahren Philadelphia 4,9 Millionen Reg. Ton., Boston 4,5 Mill. Reg. ton., NewYork 25,6 Mill. Reg. Ton. zählte. Dies ist erstaunlich, wenn man in Betracht zieht, daß von der Natur Baltimore ein vorzüglicher Hafen, von Menschenhand das denkbar beste Verkehrsnetz landeinwärts gegeben ist. Von Kap Henry und Kap Charles, der Eingangspforte zur Chesapeake-Bucht, können Seeschiffe bequem in der 40 m tiefen natürlicher Fahrrinne aufwärts fahren, um dann die neun m tiefe Rinne des Patapsco bis Baltimore zu benutzen. Um den Seeschiffen Zugang nach Philadelphia zu verschaffen, mußte in der flachen Delaware-Bay erst eine künstliche Rinne geschaffen werden. Baltimore selbst bindet eine 14 km lange Wasserfront mit guten Landungs-, Ladeplätzen und Dockanlagen. Schienenstränge verbinden die Hafenanlagen unmittelbar mit dem Inland. Über zehn Eisenbahnlinien gehen strahlenförmig von der Stadt aus. In den Besitz dieser Bahnen teilen sich im wesentlichen die PennsylvaniaRailroad, die NewYorkCentral und die Baltimore&Ohio, bezw. die von diesen abhängigen Eisenbahngesellschaften. Schnelle Züge verbinden Baltimore nach Norden hin in zwei Stunden mit Philadelphia, in reichlich vier Stunden mit NewYork; nach Süden zu kann man in einer knappen Stunde die Hauptstadt des Landes erreichen; westwärts über das Gebirge gelangt man in etwa acht Stunden nach Pittsburg in dem gewerbereichen Ohio-Becken und von

1-31-24 (2-122)

dort in einem guten halben Tage nach Chikago.
Eine hervorragende Rolle spielt Baltimore noch in der Küstenschiffahrt. Im Jahre 1910 beherbergte der Hafen Küstenfahrer mit einem Tonnengehalt von 4,7 Millionen Tonnen, deren Haupterwerbszweig die berühmte Austernfischerei in der Chesapeake-Bucht ist.
Wenn wir uns nun zum Schlusse fragen, was wohl die deutsche Admiralität veranlaßt haben mag, die Handelsunterseeboote gerade nach Baltimore zu senden, so lassen sich verschiedene Gründe dafür angeben. Vor allem ist wegen der größeren Wassertiefe das Einfahren in amerikanische Gewässer an der Chesapeake-Bay für die Unterseeboote gefahrloser als bei Sandy-Hook, denn gerade vor Betreten der Dreimeilen-Zone muß das U-Boot jederzeit die Möglichkeit haben, vor dem schnellen englischen Spähern in die rettenden Tiefe zu fliehen. Aber auch innerhalb der amerikanischen Hoheitsgewässer darf das U-Boot mit seiner kostbaren Ladung sich nicht allzu sehr in Sicherheit wiegen; das zeigt das kürzlich gemeldete spukhafte nächtliche Erscheinen eines englischen Kreuzers in der Nähe von Kap Henry innerhalb der Bucht. Hier kann die große Tiefe der Chesapeak-Bay, für den Fall, daß der Schutz des Sternenbanners nicht ausreicht, sehr von Wert sein. Aber nicht nur vor den bewaffneten Feinden muß das wehrlose Handelsunterseeboot auf der Hut sein. Für den Kapitän eines feindlichen Handelsdampfers ist es allzu verlocken, „zufällig“ mit dem im Schutz der amerikanischen Flagge einfahrenden U-Boot zusammenzustoßen und dem empfindsamen Kinde deutschen Geistes ohne eigenes Risiko den Todesstoß zu versetzen. Für eine Handvoll Dollarscheine würde wohl auch mancher amerikanische, norwegische oder griechische Kapitän sich bereit finden, für ein paar Augenblicken seinem Steuerrad eine „wohlwollend neutrale“ Drehung

1-31-25 (2-123)

zu geben. An der Pforte des Welthafens NewYork und erst recht auf dem von Schiffen wimmelnden Hudson wäre für solch einen „Zufall“ reichlich Gelegenheit, und selbst ein wirklich neutrales Gericht könnte den Schuldbeweis nicht leicht führen. In der langgestreckten Chesapeake-Bucht und auf dem breiten ruhigen Patapsco ist die Gefahr solcher heimtückischer Überfälle viel geringer. Endlich müßte am Anlegeplatz in NewYork die Bewachung des U-Bootes gegen verbrecherische Anschläge vom Lande aus noch viel schärfer sein als im stillen Baltimore. Die Nähe der Regierungssitzes Washington bildet einen weiteren Vorzug, der für unsern Admiralität mit bestimmend gewesen sein mag, die Verbindung Baltimores mit dem Hinterland steht aber weder hinter NewYork noch einem andern Hafen der Ostküste zurück.
Noch hat erst ein U-Boot den Weg zur Neuen Welt gefunden. Ein anderes wurde, wenn nicht wie schon so oft bei Meldungen aus dem generischen Lager, lediglich der Wunsch der Vater der Depesche war, nicht vom Feinde, aber von den vom Geiste noch nicht völlig gebändigten Elementen überwunden. Aber ohne Opfer kein Erfolg! Die Opfer werden nur anfeuern, der einmal beschrittenen Weg mit neuer Energie zu verfolgen. Dieser Weg aber, der jetzt nur materiellen Interesse beider Länder zu dienen scheint, er kann weiter führen zum politischen Einvernehmen zwischen Deutschland und Amerika. Bei dem nüchternsten aller Völker gibt es keinen besseren Weg hierzu als den durch die Dollartasche. Eine politische Freundschaft mit den Vereinigten Staaten mag jetzt vielen nicht sympathisch erscheinen{.} Wenn aber in Amerika der starke Mann sich findet (und es sieht fast aus, als sei ein solcher in Aussicht), dem es gelingt, das ganze Land auf rein nationaler Grundlage stramm zusammenzufassen und

1-31-26 (2-124)

einen Teil der gewaltigen Tatkraft im amerikanischen Volke, die bisher nur individuellen Interessen zugute kommt, den nationalen Interessen der Republik dienstbar zu machen, dann werden die Vereinigten Staaten nicht nur eine Großmacht scheinen, sonder{sondern} auch wirklich sein. Nach dem Kriege können uns aber gute Beziehungen mit dem großen Reiche jenseits des Ozeans, dessen Interessen sich nirgends mit den unseren kreuzen nur lieb sein.
-dt.

-----------------------