Lagerfeuer
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Lf. Nr. 29 Matsuyama, Sonntag, den 6. August 1916
Eisenbahnfahrt mit Hindernissen.
Haben Sie schon einmal eine Eisenbahnfahrt auf einer sibirischen Strecke mitgemacht? Nicht im Expreß, oh nein! sondern auf einer Linie, die zwar auf dem Papier fertig ist, die demzufolge auch dem Verkehre übergeben worden ist, deren Flußbrücken aber noch nicht stehen und deren Schienen stellenweise über trügerisches Eis gelegt sind?
Nun, so sehr Sie auch abgeneigt sein mögen gegen den Besuch von Versicherungsonkeln und redegewandten Herren mit freundlichem Lächeln auf dem Gesicht, mit dem Zylinderhute in der Hand und dem Füllfederhalter zum Unterschreiben in der Tasche, so freudig werden Sie sich doch einem solchen Manne in die Arme stürzen, in dem Sie die Absicht haben, sich für 24 Stunden einem Wagen einer der skizzierten Strecke anzuvertrauen.
Versichern Sie sich und all die Ihrigen. Auch Ihren Hund! Denn auch der kann unter die Räder kommen! Unterschreiben Sie mit fester Hand, selbst auf die Gefahr hin, einen Klecks zu machen. Große Geschehnisse ereignen sich selten makellos. – –
Am dritten Weihnachtsfeiertage 1913 abends gegen 7 Uhr fuhren wir, ungefähr 12 Personen nach dem Bahnhofe von Blagowestschensk. In Droschken. Herrgott, war das eine lange Fahrt! Wir hatte wohl gehört, daß der Bahnhof weit draußen vor der Stadt läge, aber so weit hatten wir ihn denn doch nicht geglaubt. Stadtviertel, in denen wir noch nie gewesen, durchkreuzten wir, dann fuhren wir über Land, lange, endlos lange. Uns kam unwillkürlich der Gedanke, daß die sibirische Eisenbahnverwaltung mit den Droschkenkutschern einen Vertrag geschlossen habe, denn die sibirische Bahnhöfe liegen fast ausnahmslos eine gute Stunde von den Ortszentren entfernt. Die Droschkenfahrt ist immer teuerer als die Eisenbahnfahrt. – – –
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Die Strecke der Mittelamurbahn von Tschita bis Blagowestschensk war recht vor kurzem dem Verkehr übergeben worden. Bei der Bestimmung des Eröffnungstermins hatte man wohl den ungünstigen Verhältnissen des Terrains und des Klimas Rechnung getragen und den Termin möglichst weit hinausgeschoben. Trotzdem verzögerte sich die Fertigstellung der Linie um ungefähr 9 Monate. Mit einem Defizit von kleinen 50 Millionen Rubel. Fertig war die Bahn aber immer noch nicht. – – –
Täglich kam ein Zug in Blagowestschensk von Tschita an; täglich ging ein Zug von Blagowestschensk nach Tschita ab. Die Wagen waren stets überfüllt, und die Züge verspäteten sich außerordentlich. – –
Nun, wir erreichten den Bahnhof, nachdem wir inzwischen eine Stunde älter geworden waren. Unser Reiseziel waren ein paar kleine Filialen unseres Blagowestschensk Hauses. Wir sollten die Strapazen der Feiertage (Deutsch-Weihnachten, Deutsch-Neujahr und Russisch-Weihnachten) mit den Annehmlichkeiten einer Inventur vertauschen. – (Wenn Sie einmal nach Blagowestschensk kommen sollten, so empfehle ich Ihnen folgendes Rezept für die Weihnachtsbesuche: „Sie beginnen mit den Besuchen gegen Mittag und hören abends beim letzten Gastgeber damit auf. Bei diesen übernachten Sie. Den Kutscher, den Sie sich gemietet haben, bringen Sie immer gut in der Küche unter. Am zweiten Tage wie am ersten usw. usw. – – –. “)
Nun, wir waren trotz der gehabten Strapazen noch recht munter und kamen in dem Trubel des Wartesaales nicht zum Einschlafen. Wir machten, um uns die Zeit zu vertreiben, noch eine Flasche Kognak auf.
Der Zug fuhr gegen 11 Uhr mit über zwei Stunden Verspätung und mit uns ab. Da die Wagen sehr mangelhaft geheizt waren und im Freien eine Temperatur von 35° Reaumur herrschte, so
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erwärmten wir uns durch rege Unterhaltung und allerlei feuergefährliche Flüssigkeiten. –
Gegen 2 Uhr nachts erreichten wir bei Bjelagora die Seja, die ca. 2 km breit ist. Nun versetzen Sie sich in unsere Lage: Im aufgetauten Zustande (trotz der Kälte) kletterten wir aus dem Wagen heraus. Sibirische Filzstiefel, die bis über die Knien reichen und die wie Kanonenofen heizen an den Beinen, eingemummt in Schafpelze. Der Kopf steckt ganz in molligem Pelzwerk. Nur die Nasenspitze guckt verstohlen heraus. Aber sie schämt sich ihrer Neugier und wird ganz rot. Schneidend kalter Wind fegt über flimmerndes Eis. Bogenlampen summen und werfen helle bläulich-weiße Kreise in die Nacht. Blitzend verlaufen die Schienen im Dunkeln. Streichhölzer flammen auf und erlöschen. Papyrosqualm mischt sich mit dem warmen Dampfe ausgeatmeter Luft. Kräftige und doch im Russischen eigenartig melodisch klingende Kommandos. Schreien, Kreischen, Lachen, Fluchen. Das Geräusch abgekuppelter Wagen. Rechts von uns ein Chaos. Schwarze kantige Ungeheuer starren drohend aus dem Eise, die zertrümmerten Überreste eines Zuges. Da war vor drei Wochen einer Lokomotive das Eis zu schwach gewesen. Vielleicht war ein nun entsprungener heißer Quell, deren es hier viele gibt, an dem Unglück schuld. Kurz, die Lokomotive brach ein und zog ein paar Wagen mit sich in die Tiefe. Lustige, plaudernde Menschen erstarrten und ertranken in eisiger Flut. –
Dieses Unfalles wegen mußten wir die Wagen verlassen und die zwei Kilometer über das Eis laufen. Mit Gepäck, was, da es hier keine Schlitten gab, in unserer bärenmäßigen Verpackung recht heiter war. Die langen Wagenreihen fuhren leer, ohne Lokomotive nach dem jenseitigen Ufer hinüber. –
Unterwegs, auf dem Eise frischte sich die Bekanntschaft eines alten Freundes auf, eines Rechtsanwaltes aus S. Ich habe nie
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einen solchen Panslavisten getroffen, wie er einer war. Er war ein äußerst liebenswürdig im persönlichen Verkehr. Nur nicht politisieren durfte man mit ihm. Da brannte er lichterloh, denn er war mit Deutschenhaß aufgefüllt bis zum Überlaufen. Übrigens gehörte dieser Mann der Minderheit an, die leider mächtiger ist als die Mehrheit der gebildeten und gemäßigten Russen.
Der Rechtsanwalt lud mich für die weitere Fahrt zu sich ein in sein Abteil. Da er heißen Tee und einen guten Sakuska bei sich hatte, so folgte ich gerne seiner Einladung. Wir unterhielten uns großartig. Und als wir nahe der ersten Etappe unserer Inventurfahrt nach Alexandrowskaje kamen, hatte mein Freund unser armes Deutschland mit seiner schneidigen Zunge meisterhaft tranchiert und verteilt. Großmütig, wie er nun einmal war, versprach er mir den Posten eines russischen Zivilbeamten in einem kleinen Orte Thüringens. Ich hüllte mich in Schweigen und hörte ihm begeistert zu. Die unglaublichen Forderungen, die sein Mund hervorsprudelte, glich ich gewissermaßen dadurch aus, daß ich ihm seine wirklich vorzügliche Sakuska aufaß. Ich nahm an, daß die Sakuska das gewaltige russische Reich sei, erklärte ihr kurzerhand den Krieg und fiel derartig über sie her, daß der verbleibende Rest mit dem Ganzen verglichen ungefähr die Größe und Öde Kamtschatkas hatte. Das ließ ich dem Freunde übrig. Als ich mich empfahl, übersetzte ich ihm unser schönes Wort: "Die Nürnberger hängen keinen, bevor sie ihn denn hätten."
Gerade jetzt, da die Fahrt angenehmer zu werden versprach dank der guten Unterhaltung und der besserwerdenen Heizung des Zuges, gerade jetzt mußten wir die Wagen verlassen. Wir zwölf fanden uns ächzend und frostdurchschüttelt auf dem öden Bahnsteige zusammen. Höhnisch glotzen uns die Lichter
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des entschwindenden Zuges an. Ja, da im Zuge war es wirklich gemütlich jetzt! Hier in der verwünschten Kälte kamen wir beinahe um.
Wir wünschten wirklich, augenblicklich in Thüringen zu sein, wenn auch als russische Tschinowniki.
Vor Jahresfrist, als die Strecke noch nicht eröffnet war, waren wir hier auch einmal im Morgendämmern mit dem Schlitten angekommen. Nach der kältesten Nacht, die wir je erlebten: -44° Reaumur. Damals sind wir trotz Filz, Pelz und Strohschutz beinahe erfroren. Selbst der Wodka war in der Flasche zum Eisklumpen geworden. Aber wir kamen seiner Zeit bergab gefahren und begrüßten freudig das im Grunde liegend Dörfchen. Lustig kündete das Klingeln des Dreigespanns unsere Ankunft an. Heute aber war alles anders. Kalt, unerträglich kalt; öde und finster. Vergeblich schauten wir nach einem Wagen aus. Der Kutscher, der abholen sollte, war sich längst nach Hause gefahren. Es war ja auch bereits 4 Uhr morgens und um 2 Uhr sollten wir hier ankommen. Was war da zu tun? Nach langem Hin- und Herreden beschlossen wir, daß drei von uns hier bleiben sollten um das gesamte Gepäck zu bewachen. Die Übrigen sollten nach unserem Haus gehen und einen Wagen schicken. – –
Wir losten also aus, wer hier bleiben sollte, wobei auch ich hereinfiel. Freudig trotteten die neun Glücklichen ab, froh der Bewegung, die sie sich machen konnten, froh in der Erwartung des warmen Zimmers, der Sakuska und eines hießen Glases Tee. – –
Unglücklich schauten sich unser drei zurückgebliebenen Nasenspitzen an. Der Wind fegte über den verschneiten Bahnsteig und drang uns durch Pelz und Wolle bis auf die Knochen. Was für ein Pechvogel war ich doch! Immer wenn gelost wird, falle ich herein. Ich weiß, wenn Sie mit mir einmal in einem überfüllten Wagen fahren und losen aus, wer stehen soll, dann falle ich herein. Glauben Sie mir, ich stehe, bis mir die Füße zum
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Kopf herauskommen und Sie sitzen da und sagen einen Grand mit Vieren nach dem andern an! Womöglich Schneider! Dabei fiel mir übrigens auch ein, daß das mit dem Auslosen schon in meiner Lehre so war, das Hereinfallen nämlich. Das ging so zu. Unsere Packer losten manchmal eine Runde Bier aus. Irgendwo im Packhaus; mit Streichhölzern. Alle Streichhölzer sind lang, nur dem einen fehlt die Kuppe. Wer nun das ohne Kuppe zieht, der darf das Bier bezahlen. Und ich zog es immer! Mit geradezu nachtwandlerischer Sicherheit (womit ich aber nicht sagen will, daß ich im Geschäft geschlafen habe). Na, die Sache ging denn solange, bis ich eines schönen Tages dahinter kam, daß allen Streichhölzer die Kuppen fehlten. Was bei meinem Begriffsvermögen immerhin ziemlich lange dauerte. –
Nun für jede fünf Minuten, die ich weniger auf dem Bahnsteige zu bleiben gezwungen wäre, würde ich gerne eine Runde verlieren. Das verwünschte Gepäck, das uns zwang hier auszuharren!
Wir warteten eine halbe Stunde und hielten dann einen Kriegsrat. Denn wir hatten durchaus nicht die Absicht, hier 1 bis 2 Stunden in dem eisigen Zuge zu stehen und zu warten; die Blutwärme heruntergehen zu lassen und Nase und Füße zu erfrieren. –
Wir faßten einen heroischen Entschluß. Wir beschlossen in den Wartesaal einzudringen und den Wirt zu wecken. –
Dazu gehörten der Mut und die Entschlossenheit eines Sturmangriffs. Vor allem die größte Rücksichtslosigkeit. Und die hatten wir. Zuerst versuchten wir es mit Rufen und Schreien. Dann warfen wir mit Schnee und Steinen ein paar Fensterscheiben ein. Schließlich schossen wir unsere Revolver ab. Und als auch das nichts half, spielten wir Old Shatterhand und Lederstrumpf. Unser Wolfsgeheul war geradezu grammophonaufnahmefähig. –
Zwei Kosaken, durch diese verschiedenen Geräusche angelockt,
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erschienen auf dem Kampfplatze. Sie machten Anstalten uns nach dem Spritzenhause von A. abzuführen. Wir hätten die beiden in unserem Tatendrange beinahe verprügelt. Aber wir taten etwas besseres. Wir luden die Leute freundlichst ein, mit uns einen Wodka oder mehrere zu trinken. Im Wartesaale natürlich. Das machte uns den Wackeren sympathisch. Ja die Kosaken standen uns jetzt sogar bei. Und sie imponierten uns. Denn sie faßten die Sache gleich ganz anders an! Wir schleppten unter ihrer Leitung und mit ihnen zusammen mit großer Mühe eine Bahnschwelle heran, die wir wiederholt mit aller Wucht gegen die Türe des Wartesaales stießen. Und dieses Mittel half dann auch endlich.
Der Wirt des Lokales begrüßte uns mit einer Schrotflinte, die er durch eines der Fenster steckte. Wir überhäuften ihn mit Brehm'schen Tiernamen. (Sie glauben gar nicht, wie groß das russische Tierreich ist). Unsere Bekanntschaft war somit gemacht. –
Eine Viertelstunde später saßen wir fünf friedlich mit dem Wirt zusammen in dem Wartesaal bei heißem Tee und anderen herzstärkenden Flüssigkeiten. Der Mann gefiel uns; er verstand sein Geschäft. –
Ein grauer Wintermorgen stahl sich durch die Scheiben, als man uns endlich abholte.
Weihnachten war vorüber und die Inventur begann. –
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Wir arbeiteten in Alexandrowskoje eine Woche lang. Man muß um eine solche Inventur mitmachen zu können, schon recht gut akklimatisiert sein. Hier in diesem öden Neste, wo Zentralheizung ein unbekannter Begriff ist, klaubten wir die an der Wand festgefrorenen Pakete aus dem Fächern. Wir arbeiten da im Laden bei +2° in Pelzmütze, Filzstiefeln und Handschuhen. Da wir aber die Sache alle mehr oder weniger schon vom Vorjahre kannten, überstanden
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wir alles gut. Auch wurde der Temperatur entsprechend gegessen und getrunken. Da es in der Umgebung dieses Ortes noch zahlreiche Bären gab, so hatten wir täglich ausgezeichneten Bärenschinken bei der Sakuska. –
Trotzdem waren wir froh, von hier wieder wegzukommen. An einem Januarabend fuhren wir weiter nach Alexewsk Curaschewska. Man stopfte uns in ein Abteil dritter Klasse, die zweiter war überfüllt. Bei Wedinowka erreichten wir am folgenden Morgen wieder die Seja. Wir mußten auch hier wieder den Zug verlassen und über das Eis laufen. Schlitten standen bereit, die das Gepäck hinüberfuhren. Es war ein unbeschreiblich schöner Morgen. Die strahlende Sonne und das flimmernde Eis blendeten uns. Das schwarze Eisengerüst der noch unvollendeten Eisenbahnbrücke stieg aus dem reinen Weiß des Eises und Schnees empor und hob sich wundervoll von dem klaren Blau des Himmels ab. Es war windstill, und doch hatten wir -37° Reaumur.
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Mitte Januar fuhren wir zurück nach Blagowestschensk. Der Zug sollte gegen 11 Uhr mittag von Alexeewsk abfahren. Wir hätten aber erst in Ruhe bei der Firma mittagessen und Tee trinken sollen. Denn der Zug kam nicht. Wir bestellten gegen 1 Uhr im Wartesaal unser Mittagsbrot und aßen es hastig in Erwartung des Zuges. Der Wirt lächelte mitleidig ob unserer Unerfahrenheit. Er offerierte uns ein annehmbares Bier und als uns das Getränk schmeckte, fragte er höflich und bescheiden, ob er uns ein paar Eimer dieses Stoffes warm stellen dürfte. (Gerade umgekehrt wie hier, wo man das Bier liebevoll in die Eiskiste legt.{)} Wir hörten ihn erstaunt an, ein hinzukommender alter Herr aber, ein Deutsch-Russe, riet uns dringend den Vorschlag anzunehmen. Er wisse aus Erfahrung, daß der Zug immer erst gegen 3 Uhr hier
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ankäme. Nun, wir mußten jetzt wenigstens, weshalb uns Capitan Capitanowitsch, unser Chef, so dringend und energisch zur Bahn geschickt hatte. Er hatte nämlich nur noch fünf Flaschen von einer dreimal raffinierten Qualität des besten russischen Wodkas. Und die hätten wir ihm natürlich ausgetrunken, wenn wir noch geblieben wären.
Wir bestellten also einen Eimer Bier und warteten und saßen und obwohl es nicht an den Ufern des Rheines war, so tranken wir doch immer noch eins und immer noch eins. Der Zug fuhr auch gar richtig, wie der Deutsch-Russe gesagt hatte, gegen ½ 4 Uhr ein und entführte uns dem Bahnhofswirte. – Gegen 1 Uhr des Nachts erreichten wir ohne besonderen Aufenthalt Bjaelagora, den Ort, an dem sich vor nunmehr fünf Wochen das Unglück mit dem im Eis eingebrochenen Zuge ereignet hatte. Hier aber gab es die letzte Unterbrechung unserer Inventurfahrt. Wir selbst dürften zwar im Wagen bleiben, aber die Waggons würden ein jeder einzeln für sich abgekoppelt und von Pferden über das Eis der Seja gezogen. –
Wir traten fest verpackt auf den Perron unseres Wagens hinaus und beschauten das seltsame Bild. Rechts und links galoppierten die von Kosaken berittenen kleinen Gäule munter über das Eis, angefeuert durch Zurufe ihrer verwegenen Reiter. Straff spannten sich die Seile. Dem Ganzen voraus ritt ein weiterer Kosak, der unaufhörlich Warnungsrufe ausstieß. Denn die Seile, die Wagen und Pferde verbanden, bildeten die Schenkel eines spitzen Winkels, die vom Vorderteile des Wagens auslief. Und der Unvorsichtige, der in diese ihm entgegeneilende Sackgasse hineinlief, verlor den Kopf, bildlich und buchstäblich. –
Morgens gegen 6 Uhr erreichten wir Blagowestschensk mit neunstündiger Verspätung. Schlaftrunken taumelten wir in die Droschke und gegen 7 Uhr müde wie alte Erbtanten in sämtliche Betten.
K. Bähr.
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Die deutsche Post in China und im Schutzgebiet Kiautschou.
Bis gegen das Ende des 19. Jahrhunderts gab es in China keine staatliche Post für Private, sondern Postunternehmer hatten die Briefbeförderung in Händen. Die Unsicherheit dieser Posten und das Verlangen nach einem geregelten Postdienst mit der Heimat veranlaßten England und Frankreich als erste, eigene Postanstalten in den Vertragshäfen einzurichten. Um dem deutschen Handel die Vorteile einer eigenen Post gleichfalls zu gewähren, folgte Deutschland diesem Beispiel.
Im Jahre 1886 wurde in Shanghai das erste deutsche Postamt eingerichtet. Im Laufe der Jahre folgte die Einrichtung weiterer Postanstalten, sodaß vor Kriegsausbruch 1914 in Peking, Tientsin, Tschifu, Tsinanfu, Weihsien, Hankau, Tschinkian, Nanking, Schanghai, Swatau, Futschau, Amoy und Kanton deutsche Postanstalten bestanden. Die Postämter in Peking und Tientsin verdanken ihre Entstehung der dort während der Boxerwirren eingerichteten Feldpoststationen, die in Postämter umgewandelt wurden. Die Feldpoststationen in Schanheikwan, Niutschwang und Pautingfu wurden nach Beendigung der Expedition wieder eingezogen.
Alle deutschen Postanstalten in China wurden der Postdirektion in Schanghai unterstellt.
Zum Verkehr mit der Heimat diente für die Briefpost die sibirische Bahn zwei- bis dreimal wöchentlich. Drucksachen und Zeitungen beförderten die Reichspostdampfer des Norddeutschen Lloyd, die englische und französischen Postdampfer über Suez, in 14 Tagen je ein Dampfer und einmal in vier Wochen über Canada die Dampfer der Canadian Pacific Railway Comp. Wertbriefe und Pakete wurden je nach Verlangen des Absenders über Sibirien
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oder mit deutschen Postdampfern über Suez geleitet.
Den Verkehr der deutschen Postanstalten untereinander vermittelten zu Teil die Eisenbahnen Shanghai-Nanking, Poukou-Tsinanfu-Tientsin-Peking, Peking-Hankau und Tsingtau-Tsinanfu. Vier Reichspostdampfer der Hapag verkehrten planmäßig zwischen Shanghai-Tsingtau-Tschifu-Dairen und Tientsin. Durch Vermittlung der chinesischen Postanstalten beförderten alle Küsten- und Flußdampfer die deutsche Post.
Die deutschen Postanstalten nahmen alle Arten von Postsendungen, solche mit Wertangabe ausgenommen, an. Sendungen mit Wertangabe wurden nur von denjenigen Anstalten angenommen, die sie mit deutschen Dampfern oder mit der Schantungbahn und Tientsin-Peking-Bahn versenden konnten. Alle beim Postzeitungsamt in Berlin eingetragenen Zeitungen, auch ausländische, konnten bei der deutschen Postanstalten zu gleichen Bezugspreisen wie in Deutschland von Deutschen und Fremden bestellt werden. Eine Annehmlichkeit bot auch der Nachnahmedienst, der ebenso wie der Zeitungsdienst bei der englischen Post z.B. nicht eingerichtet war.
Nach der Besitzergreifung von Kiautschou wurde in Tsingtau im alten Yamen das erste deutsche Postamt eingerichtet. Mit dem Anwachsen der Kolonie wurden größere Räumlichkeiten notwendig. Die Reichspostverwaltung mietete daher zunächst das von der Kiautschougesellschaft errichtete Gebäude in der Prinz Heinrich-Ecke Albertstraße. Im Jahre 1910 wurde das ganz Grundstück bis zur Irenestraße von der Reichspostverwaltung käuflich erworben. In der Chinesenstadt Taputau und im Stadtteil „Großer Hafen“ wurden Zweigstellen eingerichtet. Ferner bekamen Taitungtschen, Litsun, Mecklenburghaus, Schatsykou, Tsangkou und Syfang Verkehrsanstalten. Alle Anstalten im Schutzgebiet unterstanden
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dem Postamt in Tsingtau, dem die Postdirektion in Shanghai übergeordnet war.
Im Gegensatz zu den übrigen deutschen Postanstalten in China, die gleiche Marken wie in Deutschland (Germania) mit dem Schwarzaufdruck „China“ ausgaben, verkauften die Postanstalten im Schutzgebiet die Kolonialbriefmarke mit dem Dampfer auf hoher See und dem farbigen Aufdruck „Deutsches Schutzgebiet Kiautschou“.
Nach dem Vertrage über die Abtretung des Schutzgebietes blieb das chinesische Postamt in Tsingtau. Es diente aber nur dem Durchgangsverkehr mit den chinesischen Postanstalten im Inneren. Das chinesische Postamt in Tsingtau hatte keinen Annahme- und Ausgabedienst und verkaufte keine Briefmarken. Die bei ihm eingehende Post für Tsingtau wurde vom deutschen Postamt dem Empfänger zugestellt. Es war dem chinesischen Seezollamt in Tsingtau zugeteilt. Sein Postmeister war stets ein Deutscher.
Jeden Morgen fuhr von Tsingtau nach Tsinanfu ein Schnellzug ab, der einen Bahnpostwagen mit sich führte. Dieser Bahnpostwagen hatte zwei Abteile, eines für die deutsche Bahnpost und eines für die chinesische. Beide wurden von einem Bahnpostschaffner begleitet. Mit der deutschen wurde auch die sibirische Post ankommend und abgehend dreimal wächentlich befördert. Die Drucksachenpost beförderten die vier Reichspostdampfer der Hapag nach und von Shangai im Anschluß an die deutschen, englischen und französischen Postdampfer. Nur jeder zweite Reichspostdampfer des Norddeutschen Lloyd brachte oder nahm die Suezpost selbst. Sendungen für oder über Amerika wurden nach Shanghai geleitet. Die über Sibirien zu befördernden Pakete brachten jeden Montag ein Postdampfer der Hapag nach Dairen.
Das der Reichspostverwaltung gehörende Kabel Shanghai-Tsintau-Tschifu hatte in Tschifu und Shanghai Anschluß
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an die große Nordische Telegraphengesellschaft. Außerdem stand das Postamt in Shanghai mit der deutsch-niederländischen Telegraphengesellschaft in Verbindung, deren Diensträume sich im Postgebäude befanden. Die Kabel dieser Gesellschaft gingen über Yap nach Guam, dort Anschluß an das amerikanische Kabel Guam-Amerika und über Yap-Menado nach Niederländisch Indien.
Im Schutzgebiet Kiautschou bestand telegraphische oder Fernsprech-Verbindung mit allen Verkehrsanstalten.
Neben der deutschen Telegraphie befand sich noch ein chinesisches Telegraphenamt in Tsingtau. Dieses besaß eine Überlandleitung nach Tsinanfu und eine nach Tschifu, beide, mit Zwischenämtern. Als Anfang August 1914 unser Kabel von einem englischen Kabeldampfer durchschnitten worden war, leitete das chinesische Telegraphenamt der Besatzung und den Bewohnern Tsingtaus große Dienste. Boten seine Leitungen doch nunmehr für Private die einzige telegraphische Verbindung mit der Außenwelt{.} Nach der vollständigen Einschließung durch die Japaner war aber auch dieser Weg unterbrochen.
Das Ortsfernsprechnetz Tsingtaus umfaßte etwa 400 Anschlüsse und stand mit dem Gouvernementsnetz, das über 100 Anschlüsse hatte, durch mehrere Leitungen in Verbindung. Außerdem war bei der Postanstalt Mecklenburghaus eine Fernsprechvermittlungsstelle mit 5 Anschlüssen – Irenebaude und einige Landhäuser unterhalb des Mecklenburghauses – eingerichtet.
Die Ortsfernsprechnetze von Tschifu und Hankau sind von der Reichspostverwaltung gebaut und, bis sie von der chinesischen Regierung gekauft wurden, in Betrieb gehalten worden. Das von Hankau kaufte die chinesische Regierung im vorigen Jahre.
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Die Funkenstation Tsingtau unterstand dem Gouvernement; sie beförderte aber auch Privattelegramme für Schiffe auf hoher See.
Vor einigen Jahren soll, wie es im Oktober 1914 in der Türkei geschehen ist, die Aufhebung der fremden Postanstalten in China, damit auch der deutschen, nahe bevorgestanden haben. Doch ist wohl vorläufig durch die jetzige innere Lage Chinas unmöglich gemacht. –
K. B.
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Das Fest der Webergöttin
(Tnabata).
Von den oberen Fenstern unseres Kokaido sieht man jenseits der Reisfelder die Rückseite einer recht ärmlichen Straße. Am 4. und 5. August konnte man dort und auch sonst in der Stadt grüne Bambusbäumchen aufgestellt sehen, an deren Blättern allerlei bunte Papierfetzen im Winde flatterten. Am Morgen des 6. August waren all diese Bäumchen wieder verschwunden.
Es tauchte sofort die Frage auf, wem zu Ehren all dieser Bambus aufgeputzt wurde. Aber unsere derzeitigen Nachbarn wissen selbst nicht viel mehr, als daß sie damit das Wohlwollen der Schutzgöttin der Weber Tanabata erwerben wollen. Es geht wie bei vielen alten Gebräuchen, Gedichten, Gebeten und dergl. in Japan. Die uralten Gebräuche blieben; auch der Wortlaut der Verse wurde behalten; aber nur wenige Gebildete verstehen noch die alte Bedeutung.
Die Göttin Tanabata ist die Hauptfigur einer alten Fabel, die uns erzählt, wie die fleißige Göttin nur ein einziges Mal im Jahre über den himmlischen Fluß (ama no gawa) fährt, um ihren Liebsten zu treffen. Chamberlain schreibt darüber
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wie folgt: „Die Fabel, die chinesischen Ursprungs ist, erzählt die Liebe eines Hirten und einer Weberin. Der Hirte ist ein Stern im Bild der Aquila; die Weberin ist der Stern Wega. Sie wohnen an den entgegengesetzten Ufern des „himmlischen Flusses“ oder der Milchstraße und können nicht zusammen kommen, ausgenommen in der siebten Nacht des siebten Mondes. Nach einer Version der Legende wurde das Webermädchen so unausgesetzt damit beschäftigt, Gewänder für den Nachkömmling des Himmelskaisers – Gott in anderen Worten – anzufertigen, daß ihr keine Zeit blieb, an den Schmuck der eigenen Person zu denken. Zuletzt indessen gab ihr Gott, der Mitleid mit ihrer Verlassenheit hatte, den Hirten zur Ehe, der auf dem jenseitigen Ufer des Flusses wohnte. Von der Zeit an aber wurde die Frau in ihrer Arbeit nachlässig. Gott in seinem Zorn zwang sie hierauf wieder, über den Fluß zurückzukehren und verbot gleichzeitig ihrem Mann, sie mehr als einmal im Jahr zu besuchen“.
Der siebte Tag des siebten Mondes, an dem die Göttin ihren Liebsten treffen kann, fiel nun auf den 5. August, und in einer Gegend wie hier, wo fast in jedem Haus ein Webstuhl steht, ist es nur natürlich, daß man den Tag nicht verstreichen ließ, ohne der Schutzgöttin dieser wichtigen Hausindustrie zu huldigen. In Tokyo feiert fast niemand mehr diesen Tag; aber auch in großen Städten wie Nagoya und Kobe wird der Tag noch ebenso eingehalten wie im altmodischen kleinen Matsuyama.
In der Frühe des sechsten Tages des siebten Mondes ziehen die Kinder aufs Feld und sammeln von den Reispflanzen den Morgentau. Mit diesem Tau wird Tusche angerieben. Zeilen eines alten Gedichtes werden auf farbige Papierzettel geschrieben, und diese Zettel an einem Bambus befestigt. Der Bambus wird im Hintergarten oder sonst irgendwo hinter dem Hause
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aufgestellt, sodaß die Zettel in ihren fünf Farben (goshiki no iro) rot, weiß, gelb, violett und indigoblau im Winde flattern. Vor diesem Bambus, meist auf der Veranda (engawa) werden die Opfergaben aufgebaut, die aus siebenerlei Gemüse bestehn: Melonen, Eierpflanzen, Bohne (sandomame), Wassermelone, Reisklöße, Birnen und Kastanien, doch gestattet die Göttin auch eine kleine Abweichung in der Speisezettel. Am Abend des siebten werden die geschmückten Bäumchen fortgenommen und mit ihren bunten beschriebenen Zetteln in den Fluß oder ins Meer geworfen. Dann läßt man sie ihrem unbestimmten Ziele zutreiben.
Das alte Gedicht, dessen Strophen auf die Zettel geschrieben werden, lautet: „Tanabata no towataru fune no kaji no ha ni om-oi-i-shi koto wo kaki - ya nagasan.“ Die Bedeutung ist unklar. „Kaji no ha“ kann das Blatt des Steuers oder das Blatt des Papiermaulbeerbaumes oder vielleicht auch das Eichenblatt heißen. Wahrscheinlich beabsichtige der alte Dichter eine doppelte, symbolisierende Bedeutung. Vielleicht läßt sich der Sinn wie folgt wiedergeben:
Schreibt auf das Blatt, was auch das Herz ersehne
Und laßt es treiben wie der Göttin Kahn.
Sei's wie das Steuer, das durch Himmelsströme
Sie führt die Bahn.
K. M.
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Auflösung der Rätsel in Nr. 24. Gleichklangrätsel
Prise - Priese.
Steuer - Steuer.
Stift - Stift.
Kreis - Kreis.
Ferse - Verse.