Lagerfeuer
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Lf. Nr. 27 Matsuyama, Sonntag, den 30. Juli 1916
Zwei Jahre Krieg.
Zwei Jahre sind heute vergangen, seit Deutschland uns zu den Waffen rief. Es ist etwas Eigenes am Jahrestage. Sie bedeuten nicht das Ende irgend eines wesentlichen Abschnittes in den Ereignissen. Gerade heute sehen wir auf allen Kriegsschauplätzen ein Hin- und Herwogen, überall erwarten wir Entscheidungen in naher Zeit. Mitten hinein in diese Kämpfe fällt der zweite Jahrestag des Krieges gleichsam unorganisch, fremd, ein Maß, daß nicht von den Dingen genommen ist. Wie der Schlag einer Uhr uns aufblicken läßt von der Arbeit und uns erinnert, daß unabhängig von unserm persönlichen Leben und Wirken die unpersönliche Zeit einen der Schritte vorwärts getan hat, nach denen wir uns sie zu messen gewöhnt haben, so klingt die Wiederkehr des Jahrestages, mit dem der Krieg begann, hinein zwischen die Tageskämpfe und läßt uns aufschauen: Schon zwei Jahre! Der Gedanke lenkt uns ab von der Spannung des Augenblicks. Im Geiste nehmen wir einen weiteren Abstand von den Tatsachen und blicken über das Heute hinweg auf Vergangenheit und Zukunft.
Schon zwei Jahre! Wir versetzen uns in die ersten Wochen zurück. Nachdem der Geist erst einmal die Tatsache erfaßt hatte, daß wirklich diese ungeheure Maschinerie des europäischen Staatslebens auf ein neues Geleise gestellt war, daß alle Kräfte herausgerissen waren aus ihrer Friedensarbeit und zusammengeschlossen wurden zu einer Gesamtwirkung von überwältigender Größe; nachdem man sich darüber klar geworden war, daß der so oft mühsam überklebte Riß zwischen Deutschland und seinen Neidern nun wirklich unheilbar klaffte, da war wohl
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eine der nächsten Fragen die; wie soll dieser Kampf zu einem Ergebnis führen? Wie ist ein Friede danach wieder denkbar? Wir hatten das Urteil von Männern des Wirtschaftslebens gehört, daß die Völker bei dem heutigen verwickelten Austausch verschiedenster Werte sich gegenseitig gar nicht auf längere Zeit entbehren könnten; durch ungeheure Opfer an Vermögen würden sie das in wenigen Wochen so hart fühlen, daß sie notgedrungen zum Frieden kommen würden. Und eben aus diesem Gedanken heraus hatte die deutsche Politik den Krieg immer und immer wieder zu vermeiden gesucht. - Wochen vergingen, Monate, heute liegen zwei Jahre beispielloser Kämpfe hinter uns, und wir müssen sagen, daß das Ende jetzt gewiß nicht näher liegt als die meisten es im Herbst 1914 wähnten. Denkt heute im Ernst noch jemand, die Rücksicht auf wirtschaftliche Opfer könne einen der Kriegführenden veranlassen, den Kampf aufzugeben? Oder fühlen wir nicht alle, daß nur das Bewußtsein der Aussichtslosigkeit weiterer Kämpfe einen der beiden Teile zum Nachgeben zwingen könnte? Das Bild der Nation, die „ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre“, ist nicht mehr ein im Stillen belächelter Wahn veralteter Dichter, sondern ist selbstverständliche Wirklichkeit. So lange überhaupt ein Sieg noch möglich scheint, wird keinem der Gegner ein Opfer zu groß sein. Darin dürfen wir uns auch nicht täuschen lassen durch die Nachrichten von dem uns so kleinlich anmutenden Widerstande, den der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht in England findet. Man hat in einem großen Teile des englischen Volkes eben noch nicht die Überzeugung gewonnen, daß dies Opfer nötig geworden sei, und auf der anderen Seite müssen wir in Betracht ziehen, daß England im Verhältnis zu seiner Volkszahl kaum weniger Truppen aufgestellt hat
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als Rußland, das die allgemeinen Wehrpflicht besitzt. England ist noch nirgends im eigenen Lande angegriffen, und doch ist sein ganzes Wirtschaftsleben schon umgewühlt wie nie im Laufe seiner Geschichte. Und was für Opfer haben die anderen Kämpfer gebracht! Wer unter uns kann heute noch abschätzen, wie viele Millionen Russen kampfunfähig gemacht sind und welche Verlust Frankreich, der verarmte Bankier von Europa, an seinem nicht sprichwörtlichem Reichtum erlitten hat! Auch uns hat der Krieg viel gekostet an Gut und Menschen, "doch immer zirkuliert ein frisches Blut". Wenn Deutschland in irgend etwas einig ist, dann wohl in dem Bewußtsein, daß wir die Verteidigung gegen unsere Feinde beliebig lange aushalten, daß der Gedanke der Aussichtslosigkeit weiterer Kämpfe für uns niemals eintreten kann. Wenn jemals wieder Friede wird, dann zwingen wir den Gegner dazu, nicht er uns. Die schwersten Zeiten liegen hinter uns. Innerlich haben wir gelernt, uns den veränderten Verhältnissen anzupassen, haben gelernt, mit unsere Rohstoffen hauszuhalten und für die fehlenden Ersatz zu finden. Äußerlich haben wir uns erkämpft, was wir wirtschaftlich brauchen; den freien Weg nach dem Orient und die freien Fahrt, wenn nicht auf, so unter dem Meere. Wir haben den Kampf so weit hinübergetragen in Feindes Land, daß an ein Zurückfluten bis in die Heimatgrenzen nicht mehr zu denken ist. Wir haben Heldentaten Einzelner und Meisterschläge genialer Führer miterlebt in so überwältigender Fülle, daß wir unwillkürlich fragen; Sind es wirklich nur zwei Jahre, in denen das alles geschehen ist?
Erst zwei Jahre! Wenn wir bedenken, welche Umbeugung aller Hauptlinien aus der Friedenszeit in dieser Zeit
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erfolgt ist, dann erscheint uns die Zeit im Grunde genommen recht kurz. Erst zwei Jahre! Und schon liegt der Friede hinter uns fast wie ein Traum. Der Krieg erscheint uns nicht mehr als eine krankhafte Störung des gesunden feindlichen Zustandes, sondern als sein gleichwertiges Gegenstück. Wie Clausewitz einst den Krieg als eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln bezeichnete, so fühlen wir: der Krieg auch wird im kommenden Frieden nur mit anderen Mitteln fortgesetzt werden. Jenen Frieden, den wir vor 1914 zuweilen als Zukunftssehnsucht träumten, wird es nie geben, und wer diese Sehnsucht nicht überwinden kann, der - und nicht der Krieg - ist eine krankhafte Erscheinung.
Der Kampf wird nicht vorüber sein mit dem Frieden. Für uns Gefangene ist das ein Trost, der uns über die Demütigungen der Zwischenzeit hinweghelfen wird. Wenn der Krieg in uns wieder etwas von dem alten Germanengeiste geweckt hat, der es als Schande empfand, nicht auf dem Schlachtfeld zu fallen, so können wir mit ruhiger Gewißheit sagen; Diese Schande braucht keiner von uns zu fürchten. Nur das Schlachtfeld wird ein anderes sein, auf dem es zu fallen gilt. So wie heute auch alle diejenigen ihren vollen Anteil zur deutschen Wehrkraft stellen, die nicht im Schützengraben liegen, sondern daheim die mancherlei Waffen schmieden und das Korn bauen, so werden auch diejenigen vollwertige Krieger für das deutsche Vaterland sein, die ihm den Weg bahnen helfen durch das Gestrüpp, das unsere Feinde uns im Frieden reichlich zwischen die Beine werfen werden.
Das Leben, wie es uns der Krieg zurücklassen wird, wird ein anderes, wacheres sein als das der Friedenszeit, der wir zu unserem Heile entronnen sind. Wohl wird mancher wieder einschlafen.
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Das ist menschlich, und die größte Zeit kann durch ein kleines Geschlecht langsam herabgezogen werden, erstickt in den Kleinlichkeiten des Alltags. Alles Erbgut ist vergänglich, wenn es nicht gemehrt und gepflegt wird, so auch das herrliche Erbgut, das dieser Krieg uns hinterlassen wird. Schwere und schöne Pflichten erlegt es uns auf. Das Leben hat einen neuen Sinn bekommen. Es wird eine stolze Freude sein, ein vollbewußtes Glied des kampfgeläuterten deutschen Volkes zu sein.
Wir werden in den Frieden - mögen seine Bestimmungen im einzelnen ausfallen, wie sie wollen - hinübertreten mit dem Bewußtsein, daß die oft bespöttelte Unüberwindlichkeit des Deutschen kein Wahn ist, daß das ererbte Germanenblut und die Züchtung durch einen schwere, prüfungsreiche Geschichte uns wirklich an den Platz eines Kernvolkes der Kulturmenschheit berufen hat, den wir selbst uns in kleinmütiger Bescheidenheit oft nicht eingestehen wollen. Es ist wirklich, wie Thomas Carlyle 1871 schrieb; Deutschland ist zur Leitung Europas berufen, und es scheint, daß sie ihm wieder für einige Zeit übertragen werden soll.
Die große Aufgabe verlangt klaren Blick; so wenig, wie man Panzer mit Begeisterung allein stürmt, so wenig genügt schwärmende Hingabe an einen unklaren deutschen Gedanken für das Werk, das unser im Frieden harrt. Sie würden rasch verfliegen gegenüber der kalten Logik der Tatsachen. Aller Fanatismus widerstrebt dem deutschen Volke. Es will allen Stimmen seines Innern lauschen, nicht sie von einer einzigen überschreien lassen. Es ist das Vorrecht des wirklich Starken, daß er das darf. Aber es ist auch eine schwere Gefahr, wenn die Stärke nicht genügt. Wir siegen im Kriege, weil wir einig sind, weil wir alle Kräfte des Körpers, des Geistes und der Seele auf das eine Ziel
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richten: das Vaterland erhalten. Diese Einigkeit wird im Frieden nicht vorhanden sein. Es wäre sinnlos, das zu erwarten. Die Gefahr von inneren Kämpfen, wie sie Deutschland nach den Freiheitskämpfen, lauern auch an unserm künftigen Wege. Das Problem der 40er Jahre wird in seinen Grundzügen wiederkehren: Viele in unserem Volk werden zu stark betonen, nun müsse die Freiheit die sie miterkämpft hätten, und viele werden allzu stark darauf pochen, man müsse nun im Frieden die Lehre des Krieges beherzigen, daß straffe Disziplin und einheitliche Leistung allein den Erfolg verbürgen. Beides wird falsch sein. Wir brauchen eine straffe Zusammenfassung auch im Frieden, die die Freiheit des einzelnen notwendig beschränken muß, aber wir dürfen die Arbeit des Volkes nicht in dem Maße binden wie im Kriege. Diejenigen Kräfte der Wissenschaft und Technik, die jetzt für den Staat haben angewendet werden können, wären nie entwickelt werden, wenn sie von jeher ihre Aufgabe vom Staate empfangen hätten und nicht aus einem freieren Spiele der Kräfte.
So wird uns der Friede wieder ein gerüttelt Maß deutscher Uneinigkeit bringen. Wir sind uneinig mit Naturnotwendigkeit, sobald jeder sich selbst sein Ziel sucht und es uns nicht gemeinsam durch die Umstände aufgezwungen wird. Daraus erwächst auch einer unserer deutschen Vorzüge, unsere Vielseitigkeit. Wir müssen uns nur bewußt bleiben, daß unsere inneren Meinungsverschiedenheiten unsere äußere Kampffront nicht schwächen dürfen.
Die deutsche Uneinigkeit wird gefährlich erst da, wo sie von einer allzu großen Überschätzung der eigenen Persönlichkeit herrührt, von der Unfähigkeit, persönliche Opfer zu
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bringen zu Gunsten der Gesamtheit. Daß auch dieser unsaubere Geist noch in unseren Reihen spukt, zeigen leider die Fleischhinterziehungsskandale zu Hause. Kein Volk kann hindern, daß auch räudige Schafe in seiner Herde sind. Sie dürfen nur keine Bedeutung gewinnen. Das harte Ringen des Erwerbslebens wird immer in die Versuchnung führen, daß der einzelne die Vermehrung seines persönlichen Gutes als die eigentliche Aufgabe seines Lebens ansieht. Da mag die Erinnerung an die große Kriegszeit jedem immer wieder vor Augen halten, „was der armselige Mensch ist ohne sein Volk“, und daß es nicht nur Dinge gibt, die teuer oder billig, angenehm oder lästig sind, sondern vor allem Dinge, die heilig sind, die man nicht einem kleinen Werkeltagsgelüste opfern darf. Wenn wir nicht nur sagen werden, daß in Geschäftsfragen die Gemütlichkeit aufhöre, sondern auch, daß in vaterländischen Dingen das Geschäft aufhören müsse; wenn wir nicht fragen, was wir für einen Nutzen davon haben, Deutsche zu sein, sondern was Deutschland davon hat, daß wir seine Söhne sind; wenn wir die Selbstsucht und die Sorge für die eigene Person veredeln zur Sorge um das eigene Volk, und wenn wir über die Annehmlichkeiten des Augenblickes hinweg die Zukunft der kommenden Geschlechter im Auge behalten, dann wird uns das Erbe dieses Krieges nie entrissen werden.
Noch ist uns dies Erbe nicht zugefallen. Die nächsten Schritte führen noch durch Ströme von Blut. Aber doch wissen wir schon heute: Dieser Krieg kann für uns nicht mehr verloren gehen. Diejenigen werden über das Ziel hinausschießen, die nach dem Frieden Deutschland schon als Diktator von Europa sehen. Es mag sogar dahingestellt bleiben, ob der Friede uns unmittelbar eine große Erweiterung unserer äußeren
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Macht bringen wird; aber er wird uns ein Übergewicht geben, das die Wage langsam und sicher zu unserem Gunsten senken wird, und finden dereinst wir uns wieder über den Trümmern der Welt, dann sind wir erneute Geschöpfe, umgebildet und frei und unabhängig vom Schicksal. Denn was fesselte den, der solche Tage erlebt hat!
S.
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Von der Größe der Zeit
Von Anton Fendrich.
(Aus der Frankfurter Zeitung vom 2. April 16. mit Kürzungen)
Es ist mir nur um eines angst. Nicht nur bei den andern, auch bei mir. Nämlich darum, wir könnten die Größe unserer Zeit nicht ganz erfassen. Man sieht so wenig mehr von diesem Geist auf den Stirnen und in den Augen. Man spürt nicht von der verhaltenen Stille im Land, die ehrfürchtig wartet, was die Zeit Großes zu bären sich anschickt. Man begegnet so selten dem Glauben, daß alles ja schon festliegt über den Kriegsverlauf und seinen Ausgang. Denn das Maß der körperlichen und geistigen Gewalten, die seit zwei Jahren im Weltkrieg aufeinander prallen, ist gegeben und kann nicht in der Schnelligkeit verändert werden. Es muß nur noch alles durchgemacht werden, bis es vollbracht ist. Wir stecken zwischen drehenden Mühlsteinen und müssen hindurch. Aber das Korn, das dabei gemahlen werden sollte, ist lebendig geworden, ist aufgegangen und hat die quetschenden Gewalten selbst gesprengt, anstatt unter ihrem Druck zerrieben zu werden. Das wissen wir. Aber es geht uns zu langsam. Wir werden ungeduldig.
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Und da faßt einen oft der heiße Wunsch an, es möchte uns allen schlechter, viel schlechter, noch schlechter gehen, etwa in Wirklichkeit so, wie es unsere Feinde sich vorstellen. Nur damit die Not nicht zu klein ist, die allein uns der Zeiten Größe inne werden lassen kann.
Da höre ich einige Herren von der borstigen Sentimentalität aufschreien über die Frivolität solcher Wünsche. Nun - vor einigen Tagen saß ich im Schnellzug mit zwei aus dem Feld in Urlaub fahrenden Offizieren zusammen. Sie sahen immer wieder mit seltsamem Staunen durchs Fenster hinaus in das blühende Land und auf die im Morgentau blinkenden Dächer und Dörfer und Städtchen. Da plötzlich sagte der eine kopfschüttelnd zum Kameraden: „Komisch! Ist das nicht zum Schießen? Alles hier ist ganz, gar nichts kaput! Wie die Menschen dabei noch klagen können.“ Nur wer auch schon draußen war, wo „nichts mehr ganz und alles kaput ist“, begreift diesen tragikomischen Gefühlsausbruch.
Wir leben in seltsamen Tagen.
Der Geist des Krieges ist von vielen von uns gewichen. Der Geist des Krieges ist der Glaube, daß dieser Krieg nicht von uns gesucht, uns aber notwendig war, und daß die ewigen Hintergründe des Weltgeschichte etwas von uns wollen. Wir waren Volk geworden durch den Kriegsausbruch. Er war die Taufe, die Feuertaufe nach unserer nationalen Geburt von 1870. Aber Ähnliches hatten auch unsere Feinde erlebt. Auch bei ihnen hob sich aus der Chaos der Parteiwirren die Nation wie eine neugeborenen Gestalt von mehr als menschlichen Maßen. Der homo religiosus kann sich denken, daß der Genius der Geschichte nur mit solchen Persönlichkeit gewordenen Nationen rechnet. Angehalten hat das neue Wesen aber bei unseren Feinden nicht
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lange. England würgte sich mitten im Krieg mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ab; in Frankreich reden schon längst strategische Rechtsanwälte in die Kriegführung hinein, und Italien zermürbt sich seit Kriegsanfang im inneren Streite. Wir allein waren einig. Das Vertrauen grünte. Ein Erkennen ging durchs Land. Die Achtung vor den andern regte sich. Die Einsicht stieg auf, daß die Ziele eines Volkes von seinen Gliedern immer nur im Vormarsch auf verschiedenen, manchmal sogar entgegengesetzten Wegen erreicht werden, daß aber das große Menschentum eines rechtschaffenen Herzens unter gar verschiedenen Röcken schlagen kann und sich nur offenbart in Zeiten der Not. Die Nation - in Friedenszeiten ein dürrer, staatswissenschaftlicher Begriff - hatte, zu einem Wesen aus Fleisch und Blut geworden, uns an ihr stürmisch pochendes Herz gerissen. Und unter dem Vernehmen dieses großen mütterlichen Pulsschlages wurden wir es inne, daß soziale Gegensätze nur die Uniform verschiedener Waffengattungen zur Erkämpfung der oft gegensätzlich erscheinenden Aufgaben des gleichen Volkes sind. Der Krieg hob die Schleier so wie der Tod oder das dem Kriege noch verwandtere Leben. Freilich, daß einer das Leben finden kann just in dem Augenblick, wo er im Sturmangriff sein Dasein dem Feind entgegenwirft, ja daß er sich zum erstenmal in seiner unvergänglichen Wirklichkeit schaut gerade zur Stunde, wo ihm die Augen verlöschen, das mag vielen eine harte Rede dünken. Und doch ist es das Wesentliche. Um dieses Lebens willen wird letzten Endes der Krieg geführt.
Dieser starke Glaube der ersten großen Zeit beginnt, hektische Wangen zu bekommen. Sentimentaler Individualismus auf der einen und überspanntes Kraftbewußtsein auf der anderen Seite setzen ihm schwer zu. Aber Ungeduld ist Schwäche. Dieser Kriegs ist aus seinem
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ganzen Wurzelgrunde so schwerstämmig herausgewachsen, daß das Reifen seiner Früchte viele Zeit braucht. Hier geht es um mehr als um billige Brüsseler Spitzen und belgische Kohlen, um mehr als gutes serbisches Kupfer und reichliches russisches Holz. Mit dem häßlichen Wort vom Kampf um die Futterplätze ist lange nicht alles erklärt. Es ist ein Geisterkampf, der jetzt tobt. Der Gespensterkrieg über den katalaunischen Gefilden ist ein durch die Wirklichkeit weit überholtes Symbol. Oder ist das Ringen vor Verdun nicht der riesenhafteste Kampf geistiger Elementargewalten, den die Welt je gesehen? Die Berge von Granaten, die Wälder von Stacheldraht, der Strichregen der Maschinengewehre, das alles ist hier nur mitentscheidend. Entscheidend aber in letzter Linie ist der eiserne Bestand der höchsten seelischen Unerschütterlichkeit, die allerletzte, zu Stahl gewordene Geduld, die höchst stille Glut des Ausharrens bei Freund und Feind, die Seele und der Geist.
Das ist nicht anders zu Wasser als zu Lande. Wer uns vorreden will, er könne in zwei Monaten England aushungern, der scheint uns dem Ringer zu gleichen, der im Gefühl der herannahenden Erschöpfung sich zu einem über seine Kräfte gehenden Angriff hinreißen läßt den der ruhiger bleibende Gegner in eine Niederlage verwandelt.
Deutschland braucht jetzt Männer, die zwischen lähmender Ungeduld und täuschender Kraftüberspannung aufrecht hindurchgehen und nicht aus der ungesuchten Not, unter deren Druck wir groß geworden sind, in eine gesuchte Gefahr hineintaumeln, in der wir umkommen. Denn England überwinden wir nicht dadurch, daß wir selber verengländern. Ein Sieg, der die Übel des Feindes auf die Überwinder vererbt, ist trotz des höchsten Freudentaumels eine Niederlage. Wir sind England noch nicht genügend innerlich gewachsen, um es äußerlich so schlagen zu dürfen, wie es für beide Teile wünschenswert wäre. Auf zu vielen Gesichtern liegt noch etwas von dem fassungslosen
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Erstaunen, das uns fast alle überfiel, als Albion dem Michel den Krieg erklärte. Und die das überwunden haben, sind zu entrüstet gegen England. Entrüstung aber ist der Zorn des Dilettanten des Lebens. Das Rätsel der englischen Seele ist auch jetzt noch den wenigsten Deutschen klar geworden. Wie es möglich ist, in aller Ehrlichkeit sich selbst für ehrlich zu halten und dabei als einzelner Mensch wie als Nation ein Leben der frivolsten Unwahrheit zu führen, das haben zwar der alte Charles Dickens und der neue Bernhard Shaw ihren Landsleuten zur Genüge vor Augen geführt, aber die biederen Deutschen begreifen es immer noch nicht. Auch jetzt haben sich viele ehrliche Deutsche noch nicht frei machen können von einer fast mystischen Ehrfurcht vor der Selbstsicherheit der englischen Demokratie. Die verschämte, ja neidische Hochachtung vor der überlegenen Art, in der England und seine Bürger auf Schritt und Tritt lächelnd ihre Nützlichkeitsphilosophie handhaben, ist ein warnender Beweis dafür, daß wir alle diese Lebensgrundsätze, mit denen England unterliegend gesiegt hat, selbst noch nicht überwunden haben. Erst wer das englische Rätsel restlos erkannt und gelöst hat, der hat auch seine Gefahr überstanden. Darum darf das große Ringen mit diesem Feinde erst kommen, wenn wir immun sind gegen die Krankheit, an der erleidet und um deren willen er unser Erzfeind ist in diesem politischen, ökonomischen und metaphysischen Kriege.
Laßt euch nicht verblüffen, Freunde! Unser Teil ist Ausharren in Unerschütterlichkeit mitten in den Machenschaften aller Hektiker und Apoplektiker des Deutschtums. Wir wissen es: während die lebende Kreatur sich draußen im Feld zerfleischt, wächst in den Seelen eine neue Welt heran. Der Franzosen Herzen und Nerven müssen wohl noch mehr zermürbt werden, bis auch sie es spüren. Ob England in sich geht, das wissen wir nicht. Es ganz zu bestreiten, wäre nicht weise. Die Russen werden der Eindringlichkeit
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von Hindenburgs Sprache auf die Dauer nicht widerstehen. Der Feinde Einsicht wächst nur mit der Zahl der Schläge, die sie erhalten. So haben sie selbst es uns gelehrt. Das Siegenmüssen ohne Rücksicht auf die Kriegsdauer ist nicht der Wunsch einiger aus dem Geleise geratener Gewaltmenschen, sondern ein aus allen geistigen inneren und nationalen äußeren Notwendigkeiten herauswachsendes und uns auferlegtes Volkswerk. Dieser Krieg ist Deutschlands größte Schicksalsstunde. Wir dürfen uns nicht um die Stacheln seiner rings gezogenen Drahtverhaue herumdrücken wollen, sondern wir müssen hindurchbrechen. Das Zusammensinken von Kameraden an der inneren Front, die nur in „Erlebnissen“ schwelgen wollen, kann uns nicht entmutigen. Wir wollen nichts, als was die Hintergründe alles Lebens von uns wollen. Und das ist Mut und Wartenkönnen. Im beengenden Zaun gibt es für den Rosenstock nur eines: darüber hinauswachsen und die Blüte über allen Hindernissen entfalten. Warten können, noch ein Jahr, noch länger, wenn es sein muß, und in dieser Not still und stark und stets zusammenstehen! Alle! das ist's. Das Gesetz der Erhaltung der Kraft der Hunderttausende deutscher Brüder, die in der Hingabe für uns auf dem Schlachtfelde gefallen und in diesem unvergeßlichen Tun strahlend aufgefahren sind in andere Welten, die ist nicht erloschen. Deutschland hat den Dreißigjährigen Krieg nicht ohne Gewinn überstanden, wenn es auch unbewußt den dumpfen, entsetzlichen Druck durchlebte. Aber bewußt zu äußeren Siegen den inneren flechten, leidend aufrecht stehen, duldend schaffen, stöhnend siegen, das ist, was uns unsere Brüder vor Verdun vorleben, und das ist die Größe, die ihren Lohn in sich selbst trägt, und die unsere Zeit aus ewigen Händen uns jetzt anbietet.
Wer mag da zögern und klein bleiben?
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Von Freiheit und Vaterland.
Aus Ernst Moritz Arndts Katechismus für den deutschen Wehrmann 1813.
(Wenn wir uns an die Tage erinnern, in denen vor zwei Jahren unser Volk zum Bewußtsein dieses Krieges erwachte, dann stellen wir sie unwillkürlich neben die Erhebung unserer Urgroßväter zum Freiheitskampf, und so mögen hier zum Gedächtnis jener innerlich unserer heutigen Lage so verwandten Zeit Worte folgen, die der Prediger des „Gottes, der Eisen wachsen ließ“ dem deutschen Landwehrmann beim Auszug in den Krieg mitgab.)
Und es sind elende und kalte Klügler aufgestanden in diesen Tagen, die sprechen in der Nichtigkeit ihrer Herzen:
Vaterland und Freiheit, leere Namen ohne Sinn, schöne Klänge, womit man die Einfältigen betört! Wo es dem Mensch wohlgeht, da ist sein Vaterland, wo er am wenigsten geplagt wird, da blüht seine Freiheit.
Diese sind wie die dummen Tiere nur auf den Bauch und auf seine Gelüste gerichtet und vernehmen nichts von dem Wehen des himmlischen Geistes.
Sie grasen wie das Vieh nur die Speise des Tages, und was ihnen Wollust bringt, deucht ihnen das Einziggewisse.
Darum heckt Lüge in ihrem eitlen Geschwätz, und die Strafe der Lüge brütet aus ihrem Lehren.
Auch ein Tier liebet, solche Menschen aber lieben nicht, die Gottes Ebenbild und das Siegel der göttlichen Vernunft nur äußerlich tragen.
Der Mensch aber soll lieben bis in den Tod und von seiner Liebe nimmer lassen noch scheiden.
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Das kann kein Tier, weil es leicht vergisset, und kein tierischer Mensch, weil ihm Genuß nur behagt.
Darum, oh Mensch, hast du ein Vaterland, ein heiliges Land, ein geliebtes Land, eine Erde, wonach deine Sehnsucht ewig dichtet und trachtet.
Wo dir Gottes Sonne zuerst schien, wo dir die Sterne des Himmels zuerst leuchteten, wo seine Blitze dir zuerst seine Allmacht offenbarten, und seine Sturmwinde dir mit heiligem Schrecken durch die Seele brausten, da ist deine Liebe, da ist dein Vaterland.
Wo das erste Menschenauge sich liebend über deine Wiege neigte, wo deine Mutter dich zuerst mit Freuden auf dem Schoße trug, und dein Vater die Lehren der Weisheit und des Christentums dir in Herz grub, da ist deine Liebe, da ist dein Vaterland.
Und seien es kahle Felsen und öde Inseln, und wohne Armut und Mühe dort mit dir, du mußt das Land ewig lieb haben, denn du bist ein Mensch und sollst nicht vergessen, sondern behalten in deinem Herzen.
Auch ist die Freiheit kein leerer Traum und kein wüster Wahn, sondern in ihr lebt dein Mut und dein Stolz und die Gewißheit, daß du vom Himmelt stammest.
Da ist Freiheit, wo du leben darfst, wie es dem tapferen Herzen gefällt; wo du in den Sitten und Weisen und Gesetzen der Väter leben darfst; wo dich beglücket, was schon deinen Ureltervater beglückte; wo keine fremden Henker über dich gebieten und keine fremden Treiber dich treiben, wie man das Vieh mit dem Stecken treibt.
Diese Vaterland und diese Freiheit sind das Allerheiligste auf Erden, ein Schatz, der eine unendliche Liebe und Treue in sich verschließt, das edelste Gut, was ein guter Mensch auf Erden besitzt und zu besitzen begehrt.
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Darum auch sind die gemeinen Seelen ein Wahn und eine Torheit allen, die für den Augenblick leben.
Aber die Tapferen heben sich zum Himmel empor und wirken Wunder in den Herzen der Einfältigen.
Auf denn, redlicher Deutscher! Bete täglich zu Gott, daß er dir das Herz mit Stärke fülle und deine Seele entflamme mit Zuversicht und Mut.
Daß keine Liebe dir heiliger sei als die Liebe des Vaterlandes und keine Freude dir süßer als die Freude der Freiheit.
Damit du wieder gewinnest, worum dich Verräter betrogen, und mit Blut erwerbest, was Toren versäumten.
Denn der Sklav ist ein listiges und geiziges Tier, und der Mensch ohne Vaterland der unseligste von allen.
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Jahrestage des Krieges.
August 1914
2. VIII. | Abbruch der diplomatischen Beziehungen Zwischen Deutschland und Rußland. |
3. VIII. | Kriegszustand zwischen Deutschland und Frankreich. |
4. VIII. | Der englische Botschafter in Berlin fordert seine Pässe. |
7. VIII. | General von Emmich erobert Lüttich. |
10. VIII. | Erste siegreiche Schlacht bei Mühlhausen |
11. VIII. | Gefecht bei Lagarde. |
15. VIII. | Japanisches Ultimatum an Deutschland. |
19-21. VIII. | Schlacht bei Saarburg: 12000 Gefangene 200 Geschütze. |
20. VIII. | Die Deutschen rücken in Brüssel ein. |
3. VIII. | Schlacht bei Longwy. |
24. VIII. | Schlacht bei Neuschateau |
25. VIII. | Eroberung von Namur. |
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25. VIII. | Sieg der Österreicher über die Russen bei Krasnik. |
26. VIII. | Eroberung von Longwy.
Niederlage der Engländer nördlich von St. Quentin. |
28. VIII. | Seegefecht norwestl. Helgoland. |
26-29. VIII. | Hindenburg vernichtet in der Schlacht bei Tannenberg die russische Narew-Armee: 90000 Gefangene. |
30. VIII. | Bülow siegt bei St. Quentin über Franzosen und Engländer.
Deutsche Vorposten in Compiègne. |
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August 1915
1. VIII. | Eroberung von Mitau. |
4. VIII. | Die Österreicher erobern Iwangorod. |
5. VIII. | Armee Prinz Leopold rückt in Warschau ein. |
9. VIII. | S.M.S. Meteor wird auf der Rückfahrt vom Kommandanten vernichtet. |
6-7. VIII | . Starke Landungen der Engländer bei Anaforta |
10. VIII. | Armee Scholtz erobert Lomza. |
10.17.21.27. VIII. | Heftige Angriffe der Engländer auf Gallipoli |
18. VIII. | Eroberung von Rowno: 20000 Gefangene und 827 Geschütze |
19. VIII. | Kriegserklärung Italiens an die Türkei |
20. VIII. | Fall von Neo-Georgiewsk: 90000 Gefangene und 1200 Geschütze |
22. VIII. | Die Russen räumen Ossowiec |
25. VIII. | Eroberung von Brest Litowsk |
26. VIII. | Die Russen räumen Olita |
27. VIII. | Die Stellungen der Russen an der Ilota-Lipa werden durchbrochen. |
Augustbeute: 269 839 Gefangen 2200 Geschütze.
Seit Beginn der Offensive am 2. Mai wurden rund 1,100,000 Russen gefangen und 12 Festungen, darunter 4 Große und ganz moderne erobert.