Nr. 26

Lagerfeuer

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Lf. Nr. 26 Matsuyama, Sonntag, den 23. Juli 1916

Volksbilder aus Marokko.

Die Ursprünge der Völkerschaften, die das heutige Marokko bevölkern, sind schwer zu entwirren. Für die Urbevölkerung werden wohl allgemein die im Rif und Atlas verbreiteten Beberstämme angesehen. Die vielen mit uns verwandten Züge, die wir bei den Bewohnern des Rifs noch heute feststellen können, rühren wohl von einer Blutmischung mit der germanischen Völkerschaft der Vandalen her. Diese setzten sich im Anfange des fünften Jahrhunderts unter ihrem Führer Gaiserich im südlichen Spanien (Andalusien = Vandalusien) und in Nordafrika fest, und ihr Blut lebt auch in den blonden und blauäugigen Andalusiern unverkennbar noch heute fort. Im sechsten Jahrhundert kam dann der mächtige Einbruch der islamitischen Glaubenskämpfer, die vom Roten Meer am Südrande des Mittelmeeres vordringend, bis zu den Pyrenäen den eroberten Ländern ihren Stempel aufdrückten. In den unwirtlichen Gebieten des Atlas erhielten sich aber die freiheitsliebenden Berber noch bis zum heutigen Tage fast ungemischt von Araberblut. Auch die mohammedanische Religion ist mehr ein oberflächlicher Firnis geblieben und kaum eine innerliche Überzeugung geworden. Aber in den Städten haben die mehr und mehr degenerierenden, aber äußerst geschäftsgewandten und die Berber in kultureller Hinsicht mächtig überflügelnden Mauren noch heute die Vorherrschaft. Obwohl in Marokko findet man viele Neger, die als Sklaven auch noch heute, wenn auch in weit geringerem Maße als früher, aus dem Innern Afrikas

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eingeführt werden. Noch einer der letzten Sultane, der kriegerische Mulai Hassan, verfügte über ein mächtiges Prätorianerkorps von Negern, die sich stark vermehrten, und im friedlichen Zeiten als Arbeiter und Handwerker ihr Brot verdienten. Besonders im Susgebiet siedelten die alten Sultane ihre schwarzen Truppen an. Daher bezeichnet man heute noch jeden Neger in den Hafenstädten als Susi. Eine bedeutende Rolle unter den Bewohnern Marokkos spielen zweifellos die Juden, von denen es zwei voneinander grundverschiedenen Sorten gibt. Die einen sind die aus Spanien vertriebenen reinblütigen spanischen Juden, die hier wie überall im Handel dominieren und alle der jüdischen Rasse eigentümlichen Rassezeichen aufweisen. Im Gegensatz zu ihnen herrschen bei den marokkanischen Juden, die höchstwahrscheinlich arischer Herkunft sind und unter denen besonders viele blonde Leute auffallen, mehr körperliche Fähigkeiten und Handfertigkeiten vor, während sie auf kaufmännischem Gebiete bedeutend weniger leisten. Die verwegenen Ruderer, die den Reisenden aus Land schaffen, wenn hoher Seegang selbst den wagemutigsten Rifioten das Ausfahren unratsam erscheinen läßt, sind diese Juden. Auch als Lastträger kann man ihnen höchstens noch die kurdischen Hamals zur Seite stellen. Als Handwerker sah ich sie in den Städten hauptsächlich als Klempner oder in verwandten Gewerben tätig. Im Schleifen, Polieren und Ziselieren von Messingtellern, Platten und dergleichen haben sie es fast zu einer künstlerischen Höhe gebracht. Trotz allem ist ihre Stellung, besonders im Inneren, eine sehr gedrückte. Zu ihrem arabischen Herrn, dem Sidi, stehen sie im Verhältnis der Leibeigenschaft mit allen ihren Lasten (jus primae noctis usw.). Aber auch in den Städten ist ihre Lage keineswegs

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rosig. Das wohnen ist ihnen nur in den Mellah, dem Judenviertel, gestatte, wo sie in wenige übelriechende Straßen zusammengedrängt sind. Das Tragen des Das Tragen des roten Fes ist ihnen verboten; an Stelle dessen tragen sie ein schwarzes Käppchen. Auch das Reiten auf Pferden innerhalb der Stadt ist ihnen nicht gestattet; vor Moscheen müssen sie die Pantoffeln ausziehen und barfuß gehen. Ein Gebrauch, der früher häufig geübt wurden, aber auf das Betreiben der „Alliance israelite“ fast ganz verschwunden ist, war das Versteigern der Brautnacht. Junge, aber arme Paare griffen zu diesen Mittel um sich das zur Heirat nötige Kapital zu verschaffen. Mit Erlaubnis des Pascha konnte die Familie eine Anzahl Lose verkaufen, die die gewünschte Summe einbrachten und dem Gewinner die Rechte des Bräutigams in der Brautnacht. Es ist wohl unnötig zu bemerken, daß die spanischen Juden diese Glaubensgenossen meist tief verachten und andererseits von diesen wieder entsprechend gefaßt werden. All diese Zustände haben sich in den letzten zehn Jahren natürlich wesentlich gebessert; aber noch zu meiner Zeit war die Rechtlosigkeit aller Juden - selbst in Tanger - noch so groß, daß die geringste Trübung des politischen Horizonts - und an solchen Trübungen war kein Mangel - einen Auszug der Kinder Israel nach den im Hafen befindlichen Schiffen zur Folge hatte.
Den Übergang zu den europäischen Elementen Marokkos bilden die Spanier, die seit Generationen dort ansässig sind und sich vielfach auch mit den Eingeborenen, mit denen sie übrigens manche Züge gemeinschaftlich haben, vermischten. Den Einfluß der Angehörigen anderer europäischer Mächte werde ich bei meinen Erörterungen über den Handel usw. besprechen.
Verschieden wie die Bewohner sind auch die Sprache, die

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sie sprechen. Am weitesten verbreitet sind wohl die verschiedenen Beberdialekte, die mit dem Arabischen wenig Ähnlichkeit haben. Die Regierungs- und Handelssprache der Städte ist ein von dem in Syrien und Ägypten üblichen Dialekte ziemlich abweichendes Arabisch, das dem Koran-Arabisch aber wieder näher steht, sodaß die im Literar-Arabisch abgefaßten Erlasse des Sultans, die in den Moscheen öffentlich verlesen werden, vom Volke größtenteils verstanden werden. Die Lingua Franca, d.h. die Sprache, deren sich der der Landessprache unkundige Europäer bedient, ist ein spanisches Kauderwelsch, das in der letzten Zeit jedoch mehr und mehr durch ein womöglich noch schlechteres Französisch verdrängt wurde, ein Vorgang, den wir in ähnlicher Weise auch beim Gelde feststellen können. Neben dem "Hassani", dem eigentlichen marokkanischen Gelde, war wenigstens unter den Europäern die spanische Pesete das allgemeine Zahlungsmittel, das aber schon zu meiner Zeit durch den Fanc verdrängt wurde.
Noch vor kurzem war das Sultanat Marokko neben Abessinien das einzige Land Afrikas, das sich frei von europäischer Schutzherrschaft zu behaupten wußte, und noch der Vater des heutigen Sultans herrschte mit patriarchalischer Willkür über ein staatsschuldenfreies Land und verfügte über ein für damalige Verhältnisse gut organisiertes Kriegsheer und stets gefüllte Kriegskassen, was dann freilich unter seinem nacheinander zur Regierung gekommenen Söhnen anders geworden ist. Bei den Regierungsgeschäften unterstützt den Sultan ein Ministerrat, der nach dem Hause, in welchem er tagt, der Machsen genannt wird. Es ist vielleicht interessant zu erwähnen, daß unser Wort Magazin auf dieses

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arabische Wort Machsen zurückzuführen ist. Im großen und ganzen entspricht das Regierungssystem dem aller mohammedanisch-orientalischen Länder und geht in letzter Linie auf ein ziemlich willkürliches Ausbeuten der Untertanen aus. Auf diese Mißwirtschaft ist in erster Linie der Rückgang der einst hohen maurischen Sultur zurückzuführen. In der richtigen Erkenntnis, daß diese Verhältnisse durch die europäischen Einflüsse nicht im Interesse der marokkanischen Gewalthaber beeinflußt werden könnten, schlossen die frühere Sultane ihr Land fast hermetisch ab. Im übrigen sorgten die seeräuberischen Rifpiraten und die fanatischen Stämme der Küste dafür, daß kein Unberufener tieferen Einblick in die Verhältnisse tun konnte, und erst in den letzten Jahrzehnten, d.h. eigentlich erst seitdem nach der Konferenz von Algeciras verschiedene Häfen geöffnet und Europäern das Wohnen und Reisen im Lande gestattet wurde, haben wir etwas genauere Kenntnisse über die Schätze, die dieses unerforschte Land noch bringt, erhalten.
Der Islam verbietet es, unter der Erde zu graben. Aus diesem Grunde sind die Mohammedaner niemals Bergleute gewesen und die mineralischen Schätze, die im Rif und Atlas noch ungehoben liegen, lassen sich kaum ahnen. Riesige Reichtümer schlummern auch in den Korkeichenwäldern, die weil irgend einem Scherifen gehörig oder geweiht, niemals geschält wurden. Aber auch Ackerbau und Viehzucht, wie sie noch vor kurzem bestanden, lassen die Entwicklungsmöglichkeiten dieser Zweige nicht ermessen. Die unsicheren Rechtsverhältnisse brachten es mit sich, daß die Bauern nicht mehr anpflanzten oder züchteten, als sie selbst für sich und ihre Familie zum Lebensunterhalte gebrauchten, denn niemand

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war sicher, das zu ernten, was säte. Diese Umstände führten zu dem für die marokkanische Regierung verhängnisvollen Mohalatten- und Semsarenwesen, auf das ich gleich hier näher eingehen möchte. Mohalatten sind marokkanische Bauern, die von einem einer Großmacht angehörigen Kaufmann durch dessen Gesandtschaft mit einem Mohalattenschein versehen wurden. Dieser Schein besagt, daß der Bauer für Rechnung des betreffenden Europäers wirtschaftet und also nicht verpflichtet sei, von den Erzeugnissen seiner Felder die gesetzlichen Abgaben an den Machsen zu machen. Semsare sind schon eigentliche Schutzgenossen einer Großmacht, die, um aufgenommen zu werden, nachzuweisen haben, daß sie als Kaufleute für eine gewisse Summe Waren einer bestimmten Macht umzusetzen bezw. als Landwirte Landesprodukte in vorgeschriebener Menge an die Kaufleute der betreffenden Macht zu liefern imstande sind. So selbstverständlich es einerseits ist, daß die europäischen Kaufleute ihre in derartige Unternehmen gesteckte Kapitalien vor der Willkür der marokkanischen Behörde sichergestellt wissen wollten, so klar ist es auch, daß die marokkanische Regierung durch den Mißbrauch, den besonders die Franzosen mit dieser Einrichtung trieben, und der es jedem wohlhabenderen Marokkaner ermöglichte, sich so der Jurisdiktion seines Landes zu entziehen, äußerst geschädigt wurde. Da diese Schutzgenossen, wie aus dem Vorhergehenden erhellt, ziemlich willenlose Werkzeuge in Händen ihres Schutzstaates wurden, so liefen sich die in Marokko rivalisierenden Franzosen und Spanier gegenseitig den Rang ab, möglichst viele Semsare und Mohalatten zu erwerben. Andererseits ist es schließlich auch verständlich, daß mancher Marokkaner

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ein besonderes Interesse hatte, sich der marokkanischen Gerichtsbarkeit zu entziehen, denn diese verfuhr ziemlich unglimpflich mit denen, die ihr verfielen.
In den marokkanischen Gefängnissen wird keine Nahrung verabfolgt. Die Gefangenen müssen von ihren Verwandten beköstigt werden oder verhungern. Unter Muli Hassan wurde jeder, auch der geringste Diebstahl mit Todesstrafe belegt. Seine Nachfolger waren milder; aber noch heute fallen jedem Besucher der Hafenstädte die vielen geblendeten und verstümmelten Bettler auf. Originell ist die Strafe, die auf Viehraub stand. Dem erwischten Diebe wurden auf öffentlichen Markte von den Barbieren die Handflächen in der Verlängerung der Finger aufgeschnitten, die Wunden mit Salz oder ungelöschtem Kalk ausgerieben und die Finger durch Umwickelung mit einem frischen Kalbfell in die Wunden gedrückt. So wurden die Delinquenten an die Kerkermauer gefesselt. Durch das Eintrocknen der Felle wurden die Finger immer tiefer in die Wunden gepreßt. Viele begehen, um die wahnsinnigen Schmerzen zu verkürzen, Selbstmord, indem sie fortwährend mit dem Schädel gegen die Kerkerwand stoßen, bis eine Gehirnerschütterung sie von ihrem Leiden erlöst. Manche aber halten durch, und es soll vorgekommen sein, daß die Nägel durch die Hand gewachsen waren, wenn ihren nach Monaten der Fellverband abgenommen wurde. Dem Schinden und Enthaupten von Kriegsgefangenen habe ich persönlich beigewohnt.
Wenden wir uns nun den Städten als den Zentren des Handels und der Industrie zu. Die Hauptstadt des Landes ist das am Oberlauf des Nord Sebu am Nordabhange des Mitteleren Atlas gelegene Fes. Da weder Eisenbahn noch

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gepflegte Land- oder Wasserstraßen die Hauptstadt mit der Küste verbinden, so spielt sie in kommerzieller Hinsicht eine geringere Rolle als andere an und für sich unbedeutendere Küstenstädte. Es war dies auch der Grund, weshalb Tanger zum Sitz des diplomatischen Korps gewählt wurde. Tanger, das die eingeborenen nach der benachbarten Anschera Kabile Tanscha nennen, war schon den Römern unter den Namen Tingris bekannt. Die heutigen Herren der Stadt nahmen sie erst im Jahre 1684, als England nach kürzer Besetzung Tanger freiwillig verließ, nachdem es die mit riesigem Kostenaufwand hergestellten Bauten und Hafenanlagen zerstört hatte. Meine Firma selbst hat die Fundamente dieser riesigen Anlage zum Teil freilegen lassen und sie zur Gründung unseres neuen Hafens teilweise mitverwendet. Seit jener Tagen hat Tanger infolge seiner günstigen Lage am Eingange in das meist befahrenste aller Meere einen steten Aufschwung erfahren. Dem Wasserleitungsprojekte, welches wir ausarbeiteten, und dem Entwässerungsprojekte, das ich ausführen durfte, hatten wir eine Einwohnerzahl von 35 000 Seelen zu Grunde gelegt. Ein Drittel davon sind handeltreibende Juden, ferner 2000 Europäer, davon zu meiner Zeit 100 Deutsche und mehr als 1000 landesgeborene Spanier. Der Hafenbau, den wir ausführten, und zu dessen Ausführung wir nur beschränkte Mittel zu Verfügung hatten, steht in keinem rechten Verhältnisse zum Umfang des Handels, der in Tanger als dem Europa am nächsten gelegenen und günstigsten Hafen blüht. Ein großes Millionenprojekt, daß unsere Firma schon seinerzeit ausarbeitete, konnte natürlich, nachdem wir Deutschen uns politisch desinteressiert hatten, nicht mehr auf Verwirklichung

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rechnen.
Es würde aus dem Rahmen dieser Zeilen herausfallen, wenn ich auf eine nähere Beschreibung der einzelnen Städte eingehen wollte. Von Tanger sei kurz nur soviel bemerkt, daß es vom Schiffe aus, wie alle Mittelmeerstädte, schöner aussieht, als es in Wirklichkeit ist. Hinter den modernen Hafenanlage sieht man eine uralte Batterie, die nur noch den Zwecken des Salutschießens dienen kann. Unter ihr liegt in den malerischen maurischen Torbogen der Uferumwallung das Zollamt, in welchem langbärtige marokkanische Zöllner die eingehenden Waren verzollen. Da sämtliche Zölle von den Franzosen gepfändet sind, so werden sie bei diesem Geschäfte aufmerksam von französischen Agenten überwacht. Tanger selbst ist äußerst eng und winkelig gebaut und verfügt über das schlechtesten Straßenpflaster, das ich jemals festgestellt habe. Eine Ausnahme hiervon macht die von uns hergestellte Kaistraße, an der auch moderne Bauten Platz gefunden haben. Im Innern der Stadt fahren keine Wagen, wie dieselben auch in ganz Marokko ziemlich unbekannt sind. Alles wird auf Tier- und Menschenrücken transportiert.
Das europäische Leben spielt sich auf dem kleinen Socko ab, wo man sein europäisches Glas Bier an der einen Ecke und seinen marokkanischen Pfeffermünztee oder Kaffee auf der anderen Seite genießen kann. Hier sieht man das bunteste Leben vorbeiwogen und hat Gelegenheit, in die Geheimnisse der alten und neuen marokkanischen Industrie des Kunstgewerbes, der Waffenschmiedekunst usw. einzudringen. Hier kann man rote und gelbe Pantoffeln, aus dem schon im Altertum berühmten Maroccain-Leder verfertigt, sowie bunte Jagd- und Pulvertaschen in der phantastischsten Weise von den Rifioten hergestellt, kaufen. Prächtige mit Silber und Elfenbeineinlagen

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versehene Steinschloßgewehre, deren Läufe eng mit Messingdraht umwickelt sind, Krummdolche aus dem Rif und schneidige Toledoklingen aus Solingen und sonstige echte und unechte Waffen werden einem unter den wildesten Gesten von den marokkanischen Händlern zu Kauf angeboten. Hat man sich schließlich dieser aufdringlichen Schwindler entledigt, so naht sich ein würdiger Maure mit einem Packen echter handgeknüpfter marokkanischer Teppiche, die sein Träger vor uns auf das Pflaster ausbreitet. Je älter, zerrissener und schmutziger derartige Gebetsteppiche sind, desto höher stehen sie of im Preise. Die besten sind noch mit unverbleichlichen Pflanzenfarben wunderschön abgetönt gefärbt. Die neuerdings mit Anilinfarben hergestellte Schundware stellt der Kenner dadurch fest, daß er ein Wollflöckchen herauszieht und darauf kaut und dann in Ermangelung eines Taschentuches auf ein Stück weißes Papier spürt; ist dann der Speichel gefärbt, so ist der Schwindel festgestellt. Sicher aber kann man bes. mit Hilfe unserer ansässigen Deutschen, manches schöne Stück alt maurischer Kunst erstehen, die jeder Sammlung zur Ehre gereichen werden. Besonders hervorzuheben ist noch die bedeutend entwickelte keramische Industrie.
Die Ausfuhrartikel Tangers bestehen vor allem in lebendem Vieh. Interessant aber geradezu lebensgefährlich ist es, wie die Rinderherden zu Hafen gebracht und eingeschifft werden. Das marokkanische Rind ist etwas kleiner als das deutsche und ein vollständig verwildertes Steppentier. In großen Herden wurde es, wenigstens zu meiner Zeit noch, von berittenen Berberhorden unter wildem Schreien von dem Außenmarkt nach dem Hafen getrieben. Wehe dem, der da nicht rechtzeitig in eine Seitenstraße verschwinden konnte!

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Am Hafen angekommen, wurden die Tiere in große Flachboote getrieben und dann mit den Schiffshebezeugen in einfachster Weise dadurch, daß eine Schlinge über die Hörner geworfen wurde, an Bord gewunden. Die Garnison von Gibraltar, die südspanischen und französischen Hafenstädte sind wohl die Hauptabnehmer dieser Tiere.
Ferner werden in großer Menge Felle aller Art exportiert. Von Erzen wird, soviel mir bekannt, nur etwas Antimon, das im Rif gefunden wird, ausgeführt. Bei den exportierten Ceralien steht die Gerste obenan. Ferner werden noch Eier, Häute und Wolle ausgeführt. die Wolle ist außerordentlich fein und stammt von einem dem bekannten Merinoschafe verwandten Tiere. Sie wird vielfach im Lande selbst verarbeitet, hauptsächlich in der schon vorher erwähnten Teppichindustrie. An Erzeugnissen des Kunstgewerbes, die allerdings in geringerem Maße auf den europäischen Markt gelangen, seine neben den Teppichen noch erwähnt: Lederarbeiten, Holzschnitzereien, handziselierte Messingteller und künstlerische Steingutwaren. Die Ausfuhrartikel sämtlicher Häfen sind ungefähr die gleichen, doch wiegt bei einem Hafen der, beim anderen Hafen jener Artikel vor.
Nach Mitteilungen der Tangers "Dépêche Marocaine" über den Handel Marokkos im Jahre 1912 stand Deutschland mit 17,8 Millionen Francs an erster Stelle der marokkanischen Ausfuhrtabelle, England folgte mit 15,7 und Frankreich mit 15,5 Millionen Francs. Während im Vergleich zu 1911 die englische Ausfuhr aus Marokko um 4,0, die französische um 0,4 Millionen Francs abgenommen hat, hat die deutsche Ausfuhr aus Marokko um 0,4 Millionen Francs zugenommen. In Wirklichkeit ist das Verhältnis noch günstiger

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für den deutschen Handel. Denn nach einer Auskunft des Handelsstatistischen Amts in Hamburg gingen 1912 von Marokko nach Hamburg für 15,1 Millionen M = 18,9 Millionen Francs Waren. Der Kenner weiß, daß die französisch-marokkanische Zollstatistik die deutschen Handelsziffern stets liebevoll nach unten gravitieren läßt.
Folgende Hafenorte sind dem Handel eröffnet: EL Araisch, auf europisch Larasch, Casablanca, Mogador, Masagan, Rabatt-Sale, Safi, alle am Atlantischen Ozean.
Folgende Hafenorte sind bisher dem Handel noch nicht erschlossen: Agadir, Asemur und Fedala. Wie schon gesagt, muß ich davon Abstand nehmen, die einzelnen Hafenstädte zu beschreiben, die mehr oder weniger einander ähneln und mich darauf beschränken, die mir persönlich bekannte Stadt Tetuan im Rif zu beschreiben.
Auf guten Pferden ist Tetuan von Tanger in einem Tage zu erreichen. Man kann sich kaum etwas Romantisches als die in wildester Berglandschaft gelegene alte Bergfeste vorstellen. Mittelalterliche zinnegekrönte Mauern umziehen die Stadt, in die man durch riesige Tore einzieht. Diese Tore werden abends geschlossen und der Schlüssel während der Nacht von dem Pascha in Verwahrung genommen. Selbst ein beträchtlicher Bakschisch ist nicht imstande, dem Verspäteten die Tore zu öffnen. Das Innere Tetuans mutet wie irgend eine mittelalterliche deutsche Stadt im 13. oder 14 Jahrhundert an. Genau wie bei uns zerfällt die Kaufmannschaft und das Gewerbe noch in Gilden. So geht man durch die Viertel der Gerber, der Färber, der Schmiede, der Schuhmacher usw. Auch in den Basaren könnte man mit verbundenen Augen schon durch den Geruch die Stände der Fleischhauer, der Garküchen, der Kaffee-, der

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Teeküchen usw. feststellen. An den Straßenecken sitzen Frauen hinter aufgetürmten Haufen von Flachbroten, die der Vorübergehende in der Hand wiegt, mitnimmt oder zurückweist. Durch einigen Straßen werden schwer beladene Kamele, Maultiere und Esel getrieben, denen auszuweichen nicht immer leicht ist.
Ein in allen marokkanischen Städten sich wiederholendes Bild sind auch die Wasserträger, die in Ziegenhäuten, die die Form des Tieres, auf dem sie gewachsen sind, noch in jeder Weise beibehalten haben und auch noch den größten Teil der Haare besitzen, das Wasser herumtragen. An der Stelle, wo früher der Hals war, endet das Fell in ein Messingrohr, das der Träger mit seinen Daumen verschließt. In der linken Hand trägt er mehrere Klappernde Messingbecher. Es ist nun sonderbar, daß der Träger für den labenden Trunk kein Entgelt verlangt oder annimmt. Das Wasser ist dem strenggläubigen Moslem nicht verkäuflich. Oft hat den Wasserträger ein frommer Mann angestellt, der nun, das Lob des Spenders singend, das Wasser an die Durstigen verteilt. Sonst ist es üblich, dem Sebil, wie sie benannt werden, am Bairamfest ein größeres Geschenk zu machen, das sie für die Mühe des Wasserschleppens das ganze Jahr hindurch entschädigt.
Ein Bild, das mir auf dem kleinen Socko in Tanger häufig auffiel und welches überall, wo Spanier oder Italiener, die bekanntlich die größten Tierquäler unter den zivilisierten Nationen sind, sich befinden, zu sehen ist, ist folgendes: An einer Ecke sitzt ein verdächtig aussehendes, triefäugiges, zerlumptes Individuum hinter großen, stark beschmutzten Käfigen, in denen alle unsere heimischen und bei uns so sehr gehegten Singvögel herumflattern. Ein Käufer tritt an die Käfige heran,

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und nachdem er einige Worte mit dem Händler gewechselt hat, sieht man denselben mit seinen dürren Schmutzpfoten wie mit Geierklauen in den Käfig fahren, einen nach dem andere der kleinen Sänger herausgreifend und mit kurzem Schwung auf dem Pflaster erschlagend. Der Carallero zieht dann mit ein oder zwei Dutzend dieser kleinen Singvögel ab, um sie von seiner Dulzinna zum leckeren Mahle bereiten zu lassen. Diese armen Singvögel werden, wenn sie nach dem Überfliegen des Mittelländischen Meeres in der Nähe der Küste sich ermüdet niederlassen, massenhaft mit Schlagnetzen gefangen und für wenige Centimes verkauft.
St.

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Französische und Englische Spezialitäten

Um frei von unsachlichen Erwägungen und Vorurteilen einer streng objektiven Beantwortung der Frage nahe zu kommen: Wie sollen wir uns in Zukunft zur pharmazeutischen Spezialitätenproduktion des feindlichen Auslandes stellen! will ich versuchen darzulegen, welche englischen u. französischen Präparate in der Hauptsache bei uns Eingang gefunden hatten, und ob sie mit Recht auf Grund nicht zu verkennender Vorzüge, vor einheimischen Mitteln ihren Platz behaupteten.
Die Sammelrubrik, unter der man unsere französischen Import fast aller Industriezweige bis 1914 zusammenfassen könnte, heißt "Eleganz". Ähnlich glaube ich, kann man auch den Zuwachs, den unser Arzneischatz ursprünglich von der Westgrenze her empfing, in das Kapitel "Pharmacopea elegans" buchen. Zu einer Zeit, wo der sehr viel niedrigere Volkswohlstand bei uns verschönte und dadurch verteuerte Medikamente nicht erlaubte, konnte

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man in Frankreich schon Kachets, Granules, Geletine Perlen und Kapseln, abführende Limonaden, Pralinens, Medikamentöse, Gummibonbons. Mit der nach 1870 rapide anwachsenden Machtstellung des Reiches und der mit dieser Entwickelung schritthaltenden stets steigenden Aufnahmetätigkeit unserer besser gestellten Bevölkerung für ausländische Luxus- und Gebrauchsartikel, fand auch die französische Pharmazeutische Industrie ein ergiebiges Exportgebiet für ihre minderwertigen Spezialitäten.
Als Spezialitäten älteren Datums, die schon vor 15 Jahren in einer deutschen Großstadtapotheke kaum fehlten, seien genannt:

Balsam und Draguees des Dr. Bengue
Injection Brou
Injection au Matico (ebenso Kapseln)
Liqueur und Pillen des Dr. Laville.
Santal Midy
Tamar Indien Grillon.

Naturgemäß hat man all diese Artikel schon vor längerer Zeit bei uns in ähnlicher äußerer Form und gleicher Zusammensetzung hergestellt. Trotzdem unsere Präparate bedeutend besser und billiger als die unserer Nachbarn sind, hat sich die Schar der Anhänger der französischen Originalpräparate von Tag zu Tag vermehrt.
Menthol Draguees und schmerzstillender Mentholbalsam sind sogar, der letztere unter eigener Vorschrift, in das Arzneiverordnungsbuch der Krankenkassen Berlins übergegangen. Der altberühmte Liqueur Laville ist vor sehr viel Jahren schon als Liquor colchici composit von einem Leipziger Apotheker in den Verkehr gebracht worden. Ebenso wurden

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Ersatzvorschriften dafür in den ärztlichen und pharmazeutischen Fachblättern veröffentlicht.
Trotz des sehr viel niedrigeren Preises und trotz der vor ca. 11 Jahren erfolgten Einreihung unter die Geheimmittel, die dem ärztlichen Verordnungszwange unterliegen, hat keines der deutschen Präparate den Laville mit seinem ansehnlichen Preise von 9,20 M verdrängen können. Sein Umsatz im Reiche war u. blieb beträchtlich.
Auf die ebenfalls antiarthritische (salizinhaltiges Mittel) Mixtur, die Specifique Bejean vorstellt und dessen harmlose Zusammensetzung ich genau kenne, schwören – natürlich in der Originalverpackung - viele inländische Gichtiger.
De berühmte Injection Brou ist bei uns schon lange als injectio catechu comp. verwendet worden, während Injection au Matico, eine 0,3% essigsaure Kupferlösung in Maticowasser, zu den vom Publikum in deutscher Aufmachung verlangten Gonorrhö-Artikeln gehört. Santal Midy ist natürlich zu der Zeit, als sich unsere einheimische Industrie der Gelatine-Kapsel-Fabrikation bemächtigte, als Capsul gela. 01. San 0,3 von uns durch inländische Fabrikate ersetzt worden.
Tamar Indien Grillon, die auch schon seit Menschengedenken bei uns einwandfrei nachgeahmt werden, finden trotzdem ebenfalls unverminderten Absatz beim deutschen Publikum. Ob die Vorzüge auch von der Deklaration verschwiegenen Zusätzen (man munkelt von Calomel) beruhen, hat man noch nicht genau feststellen können.
Zu den genannten Artikeln kam in den letzten Jahren eine förmliche Invasion neuer französischer Arzneispezialitäten, die teils durch Zeitungen, teils durch persönliche Propanganda bei Ärzten auf das intensivste unterstützt wurde.

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Ein französischer Fabrikant, dessen Produkt ich gleich erwähnen will, konnte es sich leisten, in Berlin einen eigenen ärztlichen Vertreter (soviel mir bekannt belgischer Nationalität) für Propagandazwecke zu halten. Hierher gehören zuerst einige galenische (durch Mischen und Kochen bereitete Arzneimittel im Gegensatz zu den chemischen) Zubereitungen wie Syrop Rami, der weiter nichts als ein bromoformhaltiger, dick eingekochter Syrup ist, ferner die Pastilles Walda, die sich aus unschuldigen Gummibonbons zusammensetzen.
Großer Beliebtheit erfreuen sich auch besonders bei der nervösen Damenwelt Berlin W., die „Cachets du Docteur Faivre à l'Oxyquinotheine Basset“. Von diesem Oxyquinotheine, das wohl nur in dem Gehirnkasten des Erfinders Basset (Pharmacin de la faculté!) existiert, behaupte ich, was ich oft von französischen Kollegen gehört habe: Il ne déprime jamais comme l'Antipyrine.
Eine Errungenschaft der letzten Jahre sind einige vielbegehrte Präparate aus Yoghurt-Therapie: so z.B. Lactobacilline Metschnikoff, die auf dem, der Packung beigegebenen Prospekte als ein Milchsäureferment bezeichnet wird. Die Inhaltsangabe verschweigt nun die hervorragendsten Komponenten, denn erwiesenermaßen zeigt Lactobacilline bei der Untersuchung die Bornträgersche Reaktion, die auf unsere Abführmittel (Rhabarben, Senna, Aloe) hindeuten.
Die Betrachtungen unseres französischen pharmazeutischen Imports kann man nicht schließen ohne eines sehr wesentlichen Anteils desselben zu gedenken, der subcutan (Einspritzen unter die Haut) gebrauchten Kakodyl-Präparate, mit denen die Firmen „Elin“ und „Le Prince“ unsere Markt überschwemmten. Der Verbrauch genannter Ampullen-Präparate hat sich in den

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letzten Jahren ganz bedeutend entwickelt und sie werden unseren, wohl zur Herausgabe noch nicht genügend reifen, ständig vorgezogen. Es bleibt außer Zweifel, daß die als „Cacodylate de Soude“ bezeichneten Ampulleninjectionen wohl ein dem Kakodylsauren Natrium recht ähnlich ist, keinesfalls aber rein chemisch genommen, Natriumkakodylat enthalten. Auch diese Frage dürfte von uns in Kürze gelöst und ein allen Anforderungen entsprechendes Produkt dem Arzt in die Hand gegeben werden.
Eine Bereicherung an neuen Mitteln konnte unser Arzneischatz von jenseits des Kanals kaum erfahren, denn die Zusammensetzung solcher war und ist eben unser ureigenstes, bisher nicht erobertes Gebiet. Nun aber war in der Hauptsache die Darreichungsform der Medikamente, die von England ihren Weg zu uns nahmen: Die Komprimiert Tablette. In ihrem Ursprungslande, dem Weltkolonialreiche, mußte die Industrie dem Globetrotter für Reise- und Expeditionszwecke beizeiten brauchbare Handapotheken schaffen. Für solche bedürfte es einer räumlich auf ein Minimum eingeschränkten Arzneiform, die mit fertiger Dosierung unbegrenzte Haltbarkeit für alle Klimata und Zonen verband. Alle diese Vorzüge vereinigen die sogenannten „Tabloids“, die von der Firma Burroughs Welcome & Co. London, Mitte der 90er Jahren bei uns eingeführt wurden. Sie enthielten zum allergeringsten Teil neue synthetische Arzneimittel. Alte Bekannte im neuen Gewande waren es, die von unserm Publikum mit Begeisterung aufgenommen wurden, so ist die Opiumtinktur genau auf 10 Tropfen in einer winzig kleinen Tablette dosiert, die Blaudischen Pillen, flach gepreßt und mit Zucker überzogen, irgend ein

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altes Laxierpillengemisch, Aloe oder Jappae als Laxatirum vegetabile unter neuer eleganter Flagge segelnd. Ihr Erfolg machte bei uns Schule. von ihm ging eine nie geahnte Revolution in der deutschen Arzneifabrikation und Arzneiverordnung aus. Unsere Großindustrie, die bisher ihre synthetischen Arzneimittel undosiert dem Handel übergeben hatte, acceptierte für alle neuen, chemisch einheitlichen Körper, die sie dem Arzneischatze zuführte und dem Verkehr übergab, die fertig dosierte aufgemachte Tablette als Handelsform. In vollen Umfange ist der Ersatz noch nicht geglückt. Die sehr handliche Form, wie sie im Mutterlande vorkommt, wäre noch zu wünschen.
Die Mehrzahl anderer Präparate englischen Ursprungs sind fast ausschließlich galenische Zubereitungen, wie Abführpillen in unendlich vielen Variationen: Castor oil pills, die niemals Rhizinusöl enthielten, sogenannte Antibilious pills von mindestens 10 verschiedenen Firmen, Enos Fruit Salt, die berühmte Ellimansche Einreibung, die für Menschen u. auch für Tiere anzuwenden ist. Sie alle sind naturgemäß, soweit die Verbraucher nicht im Banne der Vorliebe für die Originalpackungen stehen, ersetzlich durch unsere älteren und besseren Präparate. Ein kaum glaublich trübes Kapitel englischer Arzneieinfuhr bei uns begann vor ungefähr 6 Jahren mit einer Propaganda in allen deutschen Tageszeitungen auf dem neuen, daher wirksamen Wege der Besprechung und Raterteilung im redaktionellen Teil. Angepriesen wurden zuerst kosmethische, später auch alle Arten interner Mittel. Die Namen dieser Wunder-Allheilmittel ließen an Verschrobenheit und Unklarheit nichts zu wünschen übrig. Ich erinnere nur an ihr zuerst erschienenes, das „Livona de composé“ ein

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Haarpflegemittel, für dessen Verwendung die wohlmeinenden anonymen Ratgeber in Tönen plädierten, die sich offenbar an das große Heer derer, „die nicht alle werden“, richteten.
Die deutschen Erfolge der dunklen Ehrenmänner (für die als Sitzredakteur auf den Packungen die To Kalon Mehg. Co. Ldt London Great Portland Street W. zeichnete) müssen vielversprechend gewesen sein; denn in rascher Folge brach eine wahre Sintflut in gleichen Weise propagierten englischer Mittel mit einer allemal in höherem Blödsinn schwelgenden Nomenklatur über uns herein. „Fleurs d’Oxoin“, reines Parinolwachs, Rammard Ton, bisurierte Magnesia, Salrado compound, die ersteren Cosmetika, die beiden letztere Magenmittel müssen ihren dunklen in der Anonymität verbleibenden Autoren hübsche Sümmchen eingebracht haben. Es dürfte kein zu knapper Teil deutschen Volksvermögens gewesen sein, der in den verflossenen 5 bis 6 Jahren über den Kanal in die Taschen dieser Hochstapler floß. Unverständlich bleibt nur, wie unsere Polizeiorgane, die sonst jede allzu merkantile Regung inländischer Fabrikanten und Apotheker auf dem Wege der kurpfuscherischen Inseration mit Feuereifer bekämpfen, jahrelang dem Treiben dieser englischen Schwindelspekulanten untätig zusehen konnten.
Hoffen wir, daß der Weltkrieg mit diesem Teil englischer Exportbetätigung ein für allemal aufgeräumt hat. Mehr Respekt gewinnt uns die Einfuhr von britischen Nährpräparaten ab. Englische Kindermehle, sowie Kräftigungsmittel für Kranken und Genesende genossen zum größeren Teile guten Ruf bei uns. Brands-Essenz of beef und Brands-Essenz of chicken, gallertartige Fleischaufgußpräparate, waren sehr beliebt bei uns, wurden aber allmählich von den

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ebensoguten Ersatzmitteln des Dr. Löwe verdrängt.
F. R.

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Schanghaier Opiumhöhlen.

Dem Opiumrauchen ist die chinesische Regierung fast stets entgegengetreten, doch aus Gründen, die wir nicht erörtern, mit wechselndem Erfolge. Bekanntlich bringt es der Opiumgenuß mit sich, daß er zu immer mehr Genuß reizt und mehr noch als andere Narcotica die Leidenschaft des Genusses machen kann. Natürlich wird mancher Chinese Opium rauchen können, ohne daß es so weit kommt, und manche Berichte sind übertrieben. Es kommen noch heute Übertretungen des Rauchverbots in den Teehäusern oder Klubs vor, doch werden in Schanghai bessere Opiumlokale kaum mehr zu finden sein. Aber schrecklich sind die Bilder, die wir an den Stätten sehen, wo Leute der niederen und niedrigsten Volksklassen dem Laster fröhnen. Ein Bild dieser Höhlen, wie ich sie oft gesehen habe, will ich hier zeichnen.
Durch das Verbieten des Opiumrauchens ist die Shanghaier Kriminalpolizei auf die Fährte dieser Individuen gesetzt worden. Infolge der polizeilichen Verordnung und der darauffolgenden Razzien der Kriminalpolizei mußten die Eigentümer dieser Höhlen entweder ihr Gewerbe aufgeben oder im Verborgenen ihr Geschäft weiter treiben. Diese, im Verborgenen blühenden Höhlen liegen in den verwahrlosesten und gefährlichsten Teilen des chinesischen Verbrecherviertels (Westhonhin, Harbin Road, bei der Gasanstalt usw.). Bei Auffindung dieser Höhlen muß man sich erst durch das Labyrinth der Kreuz- und Quergassen dieser Viertel finden. Dem Laien, selbst dem

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europäischen Beamten ist es sehr schwer, diese Höhlen aufzufinden. Nur durch die Information chinesischer Beamten, sowie auch durch die bestochener Raucher ist es dem europäischen Beamten möglich, solche Razzien vorzunehmen. Der chinesische Kriminalpolizist läßt sich einige Tage vorher durch Opiumraucher einführen und gibt sich als Fremder Shanghais aus. Gelangt ein solcher Bericht zur Kriminalpolizei, so wird für den Abend die Razzia befohlen. Nachdem die europäischen wie chinesischen Beamten auf dem Hofe des Polizeipräsidiums revidiert worden sind, begeben sich die Abteilungen zu zweien oder dreien zum Orte. Von außen sind diese Höhlen von anderen Spelunken kaum zu unterscheiden. Nachdem der Ort umstellt ist, ertönt zur festgesetzten Zeit die Pfeife des leitenden Beamten. Auf dieses Signal hin wird in die Höhle eingedrungen und zwar von verschiedenen Seiten, da diese zwei bis drei Türen besitzen. Ein Kordon von Beamten bleibt draußen, um etwaige entschlüpfende Opiumraucher festzunehmen, die durch Geheimtüren zu entkommen versuchen. Es muß bei der Umstellung vorsichtig zu Werke gegangen werden, da die Eigentümer dieser Höhlen Spione an den Ecken dieser engen Gassen ausstellen. Oft ist man schon zum Tatort gelangt und dann war das Nest ausgeflogen, außer einiger schwer im Rausche liegenden Rauchern.
Dringen wir in eine solche Opiumhöhle ein, so strömt uns eine üble, erstickende Pestluft entgegen. Die Raucher liegen in einem sehr engen Raume auf Pritschen übereinander. Sie liegen auf Wattenmatten, deren Zeug aufgerissen ist und von Dreck und Fett klebt. Ungeziefer wie Wanzen, Läusen und Flöhe laufen in ungeheuren Mengen - unübertrieben - darauf spazieren. Das Holz ist wurmstichig, verdreckt und zerspalten.

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Die Haut verwelkt wir die eines schwer Leberkranken, die Augen tiefliegend, der Kopf kaum behaart, die Knochen hervortretend, das Individuum mehr Skelett, die Ausschläge am Kopf und Körper entsetzlich, das alles zeichnet den notorischen Opiumraucher. Zu 20 bis 30 Mann liegen sie in diesem Raume, manchmal zu zweien auf einer Pritsche. Der ganze Raum wird durch eine chinesische Petroleumfunzel spärlich erleuchtet. Die Funzel steht in einer Ecke auf einem Tische, an dem ebenfalls ein abschreckendes Opfer des Opiums sitzt. Es ist die Person, die gegen 15-25 cts. die Marken für Lager, Pfeife, Opium und die Utensilien austeilt. Ein anderes Gespenst schleicht von Lagerstätte zu Lagerstätte und füllt die Pfeifen. Vor jeder dieser Stätten steht ein kleiner Tisch mit einem Tablett, worauf eine kleine Tranflamme mit Glaszylinder, ein kleines Kästchen, worin 10 Opiumkügelchen aufbewahrt werden, steht; eine kleine Pinzette liegt darauf, womit die Kügelchen in eine Pfeife gestopft werden. Die Pfeife besteht aus einem ausgehöhlten kurzen dicken Bambusrohr, woran beinahe am Ende sich der Pfeifenkopf befindet. Ein kleines Röhrchen verbindet den Pfeifenkopf mit dem Rohr. Auf dieses kleine Röhrchen wird das Opiumkügelchen aufgesteckt und in schräg liegender Haltung wird das Opiumkügelchen über die kleine Lampe gehalten und nun saugt der Chinese das Opium ein. Wenn wir uns im Lokal umsehen, finden wir an der Wand chinesische Verbrecherzeichen und Sprüche. Nachdem die Opiumraucher festgenommen sind - einige torkeln noch im Traume mit dem Beamten mit, einige werden getragen und in Rikschas gepackt - geht es fort zur nächsten Polizeistation. Dort werden sie im Hofe der Station hübsch in Reih' und Glied gelegt. Dann werden die Feuerschläuche angeschraubt und mittels des Wasserstrahls werden

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nun die Opiumraucher aus ihren Traumen herausgerissen.
So ungefährlich diese Opiumrazzien an und für sich sind, um so gefährlicher sind die Nebenerscheinungen für die Beamten. Durch den Krach werden die „schweren Jungen“ der Verbrecherwelt herbeigelockt und diese bedrohen den Beamten in heimtückischer Weise.
X.Y.Z.

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